18/09/2018

GAT veröffentlicht in der Kolumne Privatissimum vom Grilj jeden dritten Dienstag im Monat Texte zum Nachdenken.

Zur Person
Mathias Grilj (* Kamnik, SLO) lebt als freier Journalist und Schriftsteller in Graz.

18/09/2018
©: Mathias Grilj

Warten auf ein Wunder,
das dann nicht kommt

Sie war es, aber sie sah sich nicht ähnlich.
(Virginie Despentes)

Das Sehen von Kunstwerken ist
Erwartung, Enttäuschung, Überbietung.
Sehen ist immer: zu sehen glauben.
(Henning Ritter)

Man nimmt seine Illusionen mit ins Grab.
(Michel Houellebecq)

Esst eure Illusíonen!
(Georg Dinstl)

London. Globe Theatre. Romeo and Juliet.
In der Pause geht Frau Blau zur Garderobe
und wird gefragt: „Wollen Sie denn schon
gehen?“ – „Ach, wissen Sie, ich hab das
Stück vor Jahren im jüdischen Theater von
Czernowitz erlebt, auf jiddisch. Hinreißend!
So berührend! Heute muss ich Ihnen leider
sagen: in der Übersetzung verliert es.“
(Jüdischer Witz)

Wirklich komisch ist nur die Selbsterkenntnis.
(Peter Handke)

Das Bild, das aus allerlei Bruchstücken
im Geist entstanden ist, ist durch seine
Unangreifbarkeit dem Original überlegen.
(Henning Ritter – ad Walter Benjamin)

Gepilger durch Regen und Grau nach Treviso. Als reiste man nicht, um ein Bild zu sehen, sondern für die Berührung durch ein Mirakel. Das Bild – Öl auf Holz, 297 mal 420 – hat dabei eher die Funktion eines Aufzugs, eines Elevators zur Apotheose. Im Duomo San Pietro...
(schreibe ich so lässig Duomo, fühle ich mich fast wie Hemingway, nur habe ich keine doppelläufige Flinte, die es letztlich braucht)
... im Dom wird das Hochamt gefeiert. Da will der Kunstpilger nicht stören, kriegt vom Segen doch noch was ab und...
(schriebe ich nun „Ite missa est“, fühlte ich mich fast wie Kardinal Lefebre. Als ich als Bub noch die Messe besuchte, sagte ich – ach, kleiner theologischer Filou – am Ende statt des „Dank sei Gott, dem Herrn!“ stets „Na, Gott sei Dank!“)
... versucht, sich an andere Tizians zu erinnern, die man nicht nur in Kunstbüchern, auf Karten und in Zeitschriften gedruckt gesehen hat, sondern im Original. Die Zigeunermadonna – Hochformat und die Kirschenmadonna quer im Kunsthistorischen, ja. Aber jenes vom Papst Dings dem x-ten, der im Faltenwurf kauert und hinterfotzig schmunzelt – war der im Capodimonte zu Neapel? Dort tatsächlich so etwas wie ein Erweckungserlebnis und Schauder: Vor einer Madonna Raffaels. Man begriff auch ehrfürchtig das geflügelte und leise „Che bella, come una madonna di Raffael!“ Oder hängt der Papst in der Eremitage, die damals in Ленинград stand und heute in Санкт-Петербург?
(die Hinweise mögen naiv gemeint sein, aber ihnen haftet Angeberhaftes an: Schaut her, wie weltläufig ich bin! Das ist peinlich. Also sofort verdoppeln:
– Zu Prag war ich in einem Hotel, wo im Bad der Duschkopf kaputt war. Dann erfahre ich, dass der Mörder Trotzkis in just dem Zimmer übernachtet hat. Sofort ist klar: Das mit der Dusche kann nur der gewesen sein. Solchen Typen ist alles zuzutrauen.
– Zu Petersburg schlief ich nicht in jenem Hotel, wo sich der Dichter Sergej Jessenin umgebracht hat, sondern woanders. Er hat sich am Heizungsrohr erhängt. Ich sah Fotos vom Zimmer. Seltsam, dass die Heizungsrohre knapp unter dem Plafond verlegt wurden. Erstens wird Hitze vergeudet und zweitens hängen sich Poeten daran auf. In meinem Hotelzimmer hat nur der Kühlschrank wie ein Traktor – wie macht ein Traktor durch die Nacht?
– Im Grazer Parkhotel, ich war gelegentlich an der Bar, stieg anno nazimal Hitler ab. Den Hotelier hat es angeekelt, dass alte Nazi stets dieses Zimmer buchten. Als Gentleman und Christ hat er eine Bibel auf´s Nachtkastl gelegt. Und? Die alten Nazi haben sie gestohlen.
– Wo ich auch nicht genächtigt hab, ist das „Chelsea“ zu New York. Dort ist Dylan Thomas gestorben, der Dichter. Er hatte gerade seinen Rekord beim Verputzen von Whiskey gebrochen. Während er im Zimmer im Sterben lag, wartete an der Rezeption ein Brief seiner Frau auf ihn. Darin stand: „Fühl´ dich frei wie ein Stück Scheisse.“
... Jedenfalls gerät man, wegen des wehen Knies auf seinem Dreibeinhocker und hinter dem singenden Kirchenvolk hockend, in himmlisches Träumen. Dann kommt „Ite missa est“, auf italienisch. Man sucht und sucht und findet nicht und fragt den Organisten, der gerade seine Noten einpackt, nach Tizian. Er zeigt eine Seitenkapelle, dunkel wie eine Gruft. Aha, die automatische Licht-für-Münze-Kombination. Es wird so halbwegs – und da ist sie! D´Annunziata. Man möchte näher, viel näher, und man möchte mehr Licht. Aber da ist vor der Brille noch die metertiefe Alarmzone – und die Beleuchtung erlischt, sobald man sich mit armen Augen überzeugt hat, dass unter dem Schriftzug „ECCE ANCILLA DOMINI“ tatsächlich...
(ich frage und fragte mich schon im düsteren Treviso, was das Kirchenvolk im spärlichen Kerzenschein gesehen hat, damals, nach 1520 und bis zur Erfindung des elektrischen Lichts. Wäre jetzt in der Seitenkapelle gerade eine Elevation – ich ginge sofort zur Kommunion und vor der Madonna, dem Engel der Verkündigung und dem Sponsor der „Verkündigung“ in die Knie. Wie vor der Kunst. Der Automat gestattet nur Häppchen des Anblicks und will Münzen, ich gerate in Stress und komme bestätigt: Wenn der Herrgott net will, dann nutzt gar nix.)
... man erwartet die Aura und will sich einbilden, von etwas Mystischem gestreift worden zu sein, glaubt es aber selber nicht. Dabei ist alles da: Die ergeben, aber nicht devot kniende Frau, ihr sanftes Gesicht, ihr Blick, ebenso abwesend wie wach, ihre Geste zwischen Demut und halb(?)bewusster Verführung. Nur wer so stark und selbstbewusst ist wie sie, kann sich den Titel „Magd des Herrn“ leisten. An ihr der reiche, grandiose, opulente venezianische Faltenwurf, tizianrot und seideglitzerndblau und uff! Da ist der herbeistürmende Himmelsbote, Faltenwurf also in Weiß, sein eifriges „Bitte, ich weiß was!“...
(wenn ich mich weiterhin so auf „Schau doch dieses Detail und seine Bedeutung an!“ einlasse, komme ich mir bald ein bisschen vor wie Handke in seinem Tagebuch namens „Felsenfenster morgens“. Will er sich da seiner Achtsamkeit vergewissern – oder will er sie uns vorführen? Äch, sowas kann man schreiben, natürlich, aber man behält es für sich.)
... und in der Linken was denn sonst als eine Lilie! Das Bild eine raffinierte Inszenierung und Bühne: die akkurate Geometrie des Fliesenbodens fließt regelrecht in die sanfte Renaissance-Landschaft über, ein feiner Widerspruch, dann das Vis-a-vis von vertikaler Architektur links und den dramatischen, aber nicht bedrohlichen Sensationen von Wolken und Sonne rechts oben. Laut Tiefenpsychologie ist rechts oben die Gegend für Zukunft, Zuversicht und Glück. Links unten ist für die Vergangenheit reserviert. Eben, dort liegt ja neben der jungen Schönheit ein grünes Buch – die Botschaft der Schrift und des Engels wird nach neun Monaten rechts oben in Erfüllung gehen. Weiter hinten und zwischen Innen und Außen drückt sich der Stifter des Werks herum, als hätte Regisseur Tizian bei der Probe gerufen: „Ein paar Schritte zurück, du alte Rampensau! Äääch, man sieht dich gut genug. Jaja, keine Sorge, wer dich kennt, erkennt dich!“ Doch obwohl man all dieses heimliche Königtum der künstlerischen Meisterschaft mit eigenen Augen sieht, taucht statt der erhofften Aura, dieser – so Walter Benjamin – Erscheinung der Ferne, ein derber Satz empor, für den sich der Kunstpilger schämt: Dieser originale Tizian da ist seltsam blass und schaut weniger nach Tizian aus als jener Tizian, den der Fotograf Orio Frassetto für das vor einer Stunde gekaufte Buch Treviso – I Luoghi dell´Arte reproduziert hat. Man wäre verlockt, dem Malerfürsten zu sagen: „Signore Tiziano Vecellio, schauen Sie sich bitte einmal diesen Tizian von Orio Frassetto an. Ecco!“
(aber dann, als in mir eine spannende Stimmung aufköcheln könnte, kommt die Reisegruppe, die mich umzingelt und auf meinem Gemüt trampelt. Sie plärrt so laut, dass ich erst fälschlicherweise an den dominikanischen Bilderverbrenner Savonarola denke und das Fürchten kriege. Die Gruppe beschwert sich aber nur darüber, dass man Tizian nicht fotografieren darf, sie braucht ihn eh nur als Hintergrund für Selfies. Ich räume das Feld, verbeuge mich noch vor der werdenen Gottesmutter und zitiere vor mich hin: „Sie war es, aber sie sah sich nicht ähnlich.“ Und werde fragen: Liegt das an mir? Was habe ich falsch gedacht und falsch gemacht?)

PS: Rückfahrt. Über dem Kanaltal sieht man die Sterne flimmern, auch die Milchstraße, wie aus einem tiefen Brunnen. Vagabundierende Gedanken, Träume, Erinnerungen. Hat El Greco nicht bei der Firma Tizian gewerkt? Dann denke ich an Ewald Wolf-Schönach, Künstler, der bei Gütersloh und Boeckl studiert hat, Mitglied auch des Forum Stadtpark und mein Zeichen-Prof. Dem bin ich dankbar. Er hat uns ständig in Ausstellungen geschleppt und in das Schauen. Einmal hat er uns eine briefmarkenkleine Schablone hingelegt und einen Farbdruck: Wir sollten mit der Schablone ein Fleckerl aus diesem Faltenwurf El Grecos wählen und dann mit Wachskreide auf Papier vergrössern. A3-Format, glaube ich, beachtliche 29,7 mal 42. Ich habe da begriffen, was in Pierer's Universal-Lexikon von 1857 steht: Der Faltenwurf sei „eine der schwierigsten Aufgaben in der Kunst und darum ein Zeugnis der Meisterschaft.“ Natürlich steht da „Zeugniß“.

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