21/10/2014

Privatissimum vom Grilj
Jeden 3. Dienstag im Monat

Zur Person:
Mathias Grilj (* Kamnik, SLO) lebt als freier Journalist und Schriftsteller in Graz.

21/10/2014
©: Mathias Grilj

Besuch bei der alten Dame

So aus sind die Lieder gesungen,
So ab sind die Kerzen gebrannt.
Peter Rühmkorf

- Da ist es, oder? Kirchstraße 10.
- Ja, da ist es, aber ich will nicht wahrhaben, dass es stimmt. Was im Blick ist, hat nichts mit jenem Haus zu tun, in das ich 1965 gekommen bin. Da ist jetzt nichts als Verkommenheit,  Verlassenheit, Lieblosigkeit. Dafür alles, was sich zu typischen...
- Typischen?
- Ja, zu typischen Städten des Ostblocks herbeizitieren lässt, ihrer grauen Grässlichkeit. Spiegelbilder des Elends ohne jegliche Ahnung von Hoffnung. Nur die erdrückende Allmacht von Tristesse und stumpfer Ignoranz, durch die man sich schleppt, gefangen in der Wirklichkeit.
- War das jetzt genug an Pathos?
- Man überlebt solche Wirklichkeit nur, indem man lernt, sie nicht zu sehen. Also betrinkt man sich. Unvorstellbar, dass in diesem Haus da jemals gelacht worden ist. So etwas müsste man einem Gebäude doch ansehen, oder? Dass darin gelacht wird. Aber jetzt kommen mir Zweifel.
- Die ganze Straße ist nicht anders, sieh nur. Diese Fassaden, die verlassenen Geschäftslokale, nicht einmal Kebab oder Porno oder Glücksspielautomaten. Nichts. Es lohnt sich offenbar nicht einmal, "Zu vermieten" auf die Vitrinen zu kleben.
- Damals hat das Dorf - inzwischen ist es zum Markt erhoben, ist das eine garantierte Aussicht auf Verluderung? - damals hat es tatsächlich etwas Adrettes gehabt, etwas Fröhliches und gleichsam sonntäglich Herausgeputztes. Es war in ein Strahlen gehüllt. Verstehst du, was ich in meiner Unbeholfenheit...
- Erstens bist du selbst aus dem Ostblock gekommen und warst leicht zu begeistern. Und zweitens warst ein halbes Jahrhundert jünger.
- Sommers hat man auf den Gehsteigen Englisch, Französisch und auch Deutsch gehört, nicht nur tirolerisches Knirschen. Das ich übrigens liebe. In welcher Tasche ist denn der Zirbengeist, unser Gastgeschenk? Zugegeben, die Gehsteige habe ich breiter in Erinnerung.
- Gehen wir hin, aber nicht zu nahe. Die Fensterläden hängen gefährlich schief an der Wand, etliche Beschläge sind herausgemorscht. Was an Scheiben nicht zerbrochenen ist, das ist verdreckt und staubgebeizt und blind.
- Dann war Großvater der letzte, der diese Läden gestrichen hat. Und auch die Fensterstöcke oben neben dem Balkon.
- Er ist fast 40 Jahre tot. Besser, dass er das nicht sieht. Du, da wohnt bestimmt niemand mehr. Wann ist es überhaupt erbaut worden?
- Wahrscheinlich nach dem Brand von 1908. Der Hausherr, ein Schuster, ist nach 1910 zu Wohlstand gekommen. In den Felsen da hinten, Karwendelgebirge, zwischen Martinswand und Seefeld, haben Tausende an der Mittenwaldbahn gebaut, das war ein Wahnsinnsprojekt und schon nach zwei Jahren fertig, nach zwei Jahren. Und diese vielen Arbeiter haben trittsicheres Schuhwerk gebraucht.
- Wie viele Tote?
- Weiß ich nicht. Beim Tunnelbau jedenfalls gilt: pro Kilometer ein Mann.
- Da oben werden es mehr gewesen sein.
- Da hinten war die Küche, im ersten Stock. Auf der Fensterbank sieht man - was ist das da hinter dem Staub? Siehst du das? Ata? Irgendein Putzmittel.
- Und ein Gurkenglas. Und rundherum schält sich der graue Verputz von den Wänden. Wie die Haut nach Sonnenbrand. Und schau einmal, wie viele Dachziegel fehlen. Stell dir vor, du bist der Dachstuhl.
- Hinter den Fenstern links war das Wohnzimmer. Wir Kinder haben rückseitig im Kabinett geschlafen, sehr duster, Geruch nach Möbelwachs, hohe Betten, die altdeutsche Kommode, dann der Spiegel und auf der Marmorplatte die riesige Waschschüssel, Blumengirlanden auf dem Porzellan, ein zartes Geflecht, wie junger Rilke. Und nachts der unglaublich schwere Topf unter dem Bett. Straßenseitig war dann sozusagen Fernsehen: am Fenster lehnen und hinunterschauen. Die Schulaufgaben haben wir auch am Fensterbrett gemacht. Am imposantesten war unten natürlich ein Aufmarsch der Schützen. Musikkapelle, manchmal sogar ein Gewehrsalut. Onkel Oskar hat die Schützen "gefiederte, von Schuhplatteln und Schnaps verdeppte Leserhosen" genannt. Er hat gesagt, die seien "genauso blöd wie die Kommunisten, nur von der anderen Seite her". Meine kleine Schwester und ich haben da beim Hinauslehnen gern Fratzen geschnitten.
- Wie Quasimodo als Glöckner von Notre-Dame? Beim Narrenfest?
- Und eine Dörflerin sagt dann dem Max Scheiring, das war der Kaufmann ein paar Häuser weiter, meine Großmutter müsse eine herzensgute Frau sein: nicht nur, dass sie die gottlose Alte pflegt, sie nimmt sogar hirndepperte Kinder auf. Die zwei Affen am Fenster zum Beispiel. Max Schering hat gelacht und mir alles erzählt. Wir haben bei ihm "auf Büchel" gekauft, immer nur aufschreiben lassen, und einmal im Monat - wenn der Geldbriefträger durch das Dorf getorkelt ist, sturzfett, weil er überall ein Schnapserl kredenzt bekommen hat, dann hat man die ganze Fassung bezahlt.
- Die gottlose Alte ist deine Tanten-Tanten-Tante?
- So ungefähr. Beharrliche Menschenhasserin. Als der Schuster stirbt, gehört ihr alles. Und sie wird jeden Sonntag auf dem Balkon da oben, wenn die Dörfler fein herausgeputzt durch die Kirchstraße zur Messe ziehen, über ihnen die Teppiche ausbeuteln und klopfen.
- Der Balkon macht es garantiert nicht mehr lang.
- Vom Balkon aus habe ich der Tochter vom "Hotel zur Post" drüben - also wörtlich "Poscht" - zu verdeutlichen versucht, wie sehr ich sie liebe. Sie hat nicht Dagmar noch Barbara geheißen, aber ich habe sie am meisten mögen, weil sie mir am nächsten Morgen beim Schulgang in die Schulter geboxt und "Bischt eppes deppacht?" gesagt und dabei gelacht hat. Am Dachboden habe ich auch einen eleganten Paradesäbel gefunden und eine Kiste. Vom zweiten Mann der Tante. Wieder eine Josefsehe, das war wieder ihre Bedingung. Der Mann - ein pensionierter Direktor von der Eisenbahngesellschaft - war Maler...
- Die Malereien in deinem Zimmer sind von ihm?
- In der Kiste Skizzenblöcke, tausende Bilder, Bleistift und Rötel. Landschaften, Bauernhäuser, Städtebilder, Bewegungsstudien von Hühnern, Hunden, Schweinen, Pferden, Kühen, aber keine Menschen. Dafür Kunstbücher. Rembrandt, Leibl, Tizian - die Venus von Urbino. Die Tante hat so schweinische Bücher nicht in der Wohnung geduldet. Dann ist der Niedereder auch gestorben, von dem hat sie dann die Pension gehabt.
- Und da unten war die Schusterwerkstatt?
- Was soll denn das da? Die dreckige Auslage hat es bis Sommer 1966 nicht gegeben, nur zwei gewöhnliche Fenster. Ich seh, ich seh, was du auch siehst. Selbstgedrehter Silberschmuck, selbstgedrehte Kerzen, selbstgedrehte Kunst aus Styropor und Acryl, sieht sehr nach selbstgedrehten Joints aus. Und will doch gekauft werden. Das Geschäft ist aber zu. Wenn die Inventur machen, dauert es ewig.
- Versuch, es etwas freundlicher zu sehen. Immerhin passt es zur Gasse...
- Straße!
- ... und zum Haus.
- Ich brauche jetzt einen linksgedrehten Zirbengeist. Da war bitte die Ordination von Dr. Gerscha. Der hat mir einmal die entzündeten Mandeln gepinselt, und ich habe tapfer sein müssen. Das ganze Vorhaus war immer voller Patienten, er hat ja keinen Warteraum gehabt. Die sind auf der Holzstiege zur Wohnung gehockt, dicht gedrängt, und wollten nicht ausweichen. Es hat schauderhaft gestunken, vom Plumpsklo herüber. Großmutter hat gesagt: "Dr. Gerscha ist zwar ein Nazi, aber eines muss man ihm lassen - er schlägt niemals die Autotür zu, er macht das leise wie ein Gentleman."
- Das Haus ist abgesperrt, und es gibt keine Glocke.
- Hinter dieser Tür - soll ich sie aufdrücken? - ist diese steile Stiege. Ich bin damals, als die Tante gestorben war, am Fuße gestanden. Dann kommen die Sargträger herunter, und ich hör aus der Kiste so ein Geräusch wie beim Drehen eines Kaleidoskops, als würden Splitter oder Kiesel geschüttelt. Und der untere Sargträger, dem es das ganze Gewicht ins Kreuz gedonnert hat, sagt: "Saggchament, du Ochsch!"
- Und dann hat deine Großmutter das Haus geerbt und verkauft?
- Ja, an einen Mann, der ein Elektrogeschäft aufziehen wollte. Er war auch Sänger und hat eine Platte aufgenommen, 1966. Die muss ich noch daheim haben, irgendwo. Wart, vielleicht krieg´ ich´s hin: "Oh, Marie, du bist mein Fischermädel! Oh Cherie, du bist so wunderschön! Oh, Marie, du bist die allerschönste, weit und breit am Boudensee."
- Boudnsee?
- Bodensee, das "ou" war wegen der Kunst.
- Und dann?
- Dann sind wir nach Graz übersiedelt.
- Und was ist da rechts am Eck?
- Da war der Uhrmacher, Herr Frick, ein freundlicher Mann, etwas steif, aber kein Nazi. Und ohne Auto. Ich frage mich, warum er immer so spöttisch dreingeschaut hat, bei jedem. Einmal fällt dem Großvater die Taschenuhr samt Kette ins Plumpsklo, das ist rechts oben, das kleine Fenster. Er spült nach - da war so ein irdener Krug neben dem Brett, blau mit Blumenmuster, den hat man in der Küche nachfüllen müssen -, dann geht er sofort hinunter zum Frick und kauft eine neue Taschenuhr. Diese da, hör einmal!
- Marke Alsi. Hört sich an wie Kirchstraße oder Boudensee.
- Ist aber "Suisse". Und der Verschluss der Kette ist tadellos.
- Ein Erbstück.
- Wie das Haus. Aber die Auslage vom Frick gibt es ja nimmer.
- Das ist jetzt ein Lokal. Ziemlich finster. Ziemlich sehr. Und ohne Namen über der Tür.
- Beim Frick war es immer grellhell. Sogar seine Krawatten. Und er heißt, glaube ich, Fritz.
- Da sitzen ein paar düstere Männer und...
- Na, dann nichts als hinein, mein Zirbengeist hat gerade - hehe! - den Geist aufgegeben. Entschuldige bitte, der Scherz entspricht dem Schmerz.
- Die Männer schauen drein, als...
- Umso besser, dann frage ich sie, was aus dem Fischermädel voum Boudensee... Das war jetzt zweimal Kunst, hast du es gehört? Zweimal Kunst! Im alten Haus! Bei meiner gottlosen und ständig menschenverfluchenden Tante. Übrigens hat sie Maria geheißen. Aber mich hat sie geliebt und mir eine Apanage auf lange Unterhosen ausgesetzt und...
- Da gehen wir nicht hinein! Ich hab Angst.
- Aber geh, komm! 

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