13/02/2004
13/02/2004

Rinnstein- Archipel mit Gewinnspanne
Könige und Kreuzfahrer standen einst bei "La Superba" in der Kreide. Jetzt präsentiert sich die geschäftstüchtige Hafenstadt Genua als Kulturhauptstadt

Feine Tropfen sprenkeln den Pflasterstein, lassen auf dem Basalt die Sommersprossen blühen. Doch dann prasselt das Gewitter erst richtig los und schüttet wahre Kaskaden ins aufgeraute Schiefermeer der grauen genuesischen Dächerlandschaft. Die Paläste und uralten Häuserblocks stehen wie Inseln im Strom: schwarz, taubengrau, regennass.

Schon bilden sich Seen und kleine Kanäle am Grund der fünf, sechs Stockwerke hohen mittelalterlichen Häuserschluchten. Salatblätter und Reflexionen verirrter Neonschriften glänzen reizvoll am nassen Boden handtuchbreiter Gässchen. Zwei Schritte weiter sonnen sich in einem Korb Sardinen im gelben Lichtkegel der Fischhändlerlampe.

Ein Rinnstein-Archipel tut sich auf. Eines, das trotz Christoph Columbus noch immer seiner Entdeckung harrt: Genova insula est. Genua, eingesponnen in der eigenen goldenen Historie, und später im Teufelskreis aus Arbeitslosigkeit, illegaler Zuwanderung und Kriminalität gefangen. Zuletzt geriet die Stadt bei den Zusammenstößen von Polizei und Globalisierungskritikern rund um den G-8-Gipfel im Juli 2001 negativ in die Medien.

Dieser Ruf eilt der roten Riviera-Kommune voraus, die sich 2004 als Kulturhauptstadt präsentiert: Genua ist gleich Gosse. Das Gerücht hielt sich hartnäckig. So wie das billige Parfum der käuflichen Damen und die rotzigen Töne der Fischhändler, die sich im ewigen Dämmerlicht des Centro Storico gegen den Marmor der prächtigen Palazzi lehnen.

Wer auch dies erleben will, kommt heute gerade noch rechtzeitig. Denn plötzlich wird alles ein wenig anders. Genuas Zwielicht klart auf. Schon gar am helllichten Tag. Und in Ecken wie dem beliebten studentischen Doria-Viertel sogar weit nach Mitternacht. Diese These beweist sich mittlerweile auf Schritt und Tritt. Das Labyrinth der einzigen erhaltenen Altstadt aus dem 12. Jahrhundert, die nicht wie in London durch Brand zerstört oder wie in Paris reguliert wurde, entpuppt sich als Freilichtmuseum ohne spröde Musealität.

Manche der Straßen verströmen dabei die Poesie urbaner Dichte: Der Canneto il Lungo mit der vielleicht schönsten Barbierstube Italiens, das weiß gekachelte, vom ewigen Tabakfilm überzogene Deckengewölbe der Jugendstilbar "Berto" an der Piazza delle Erbe oder die abgewetzten Marmortröge am Tresen der benachbarten "Bottega del Conte", in denen früher Stockfisch gewässert wurde.

Und nicht zu vergessen das filmreife Ambiente der "Bar Splendido", der Kulisse für Vittorio Gassmans Schauspielkunst, wenn er in "Der Duft der Frauen" einen blinden Offizier spielt, der Genuas Damenwelt am Parfum erkennt - eine Geschichte, die so nur in dieser Stadt spielen kann.

Denn wo immer man schnuppert und schaut, stößt man auf Authentizität und historische Relevanz. Selbst im örtlichen Telefonbuch, wo sich drei Seiten Colombos tummeln, immerhin eine Spalte Paganinis und etliche Dorias. Wie die eisenbeschlagenen Räder der genuesischen Hafendroschken haben sich auch die großen Namen ins Fundament der Stadt eingefurcht - und eine Art persönlichen Abrieb hinterlassen.

Giuseppe Verdi zum Beispiel naschte gerne in Genua. "Er liebte unseren ,Falstaff'", weiß Signore Andrea zu berichten und knallt einen perfekten caffè macchiato auf den Tresen. Der Mann ist Barista, kein Bariton, weswegen er im Café Klianguti auf der Bühne steht und mit den Teilen eines dampfenden, zischenden Ungetüms von Kaffeemaschine hantiert.

In der Tat hat das 1828 gegründete Traditionscafé etwas Opernreifes an sich: Zwischen den blinden Spiegeln und leicht gelb gewordenen Schleiflackstühlen des Hinterzimmers könnte genauso gut Giacomo Casanova antanzen.

Weitere zweckdienliche Hinweise zur Ergreifung eines verdächtig echten Zipfels von Genua gibt einmal öfter die Gosse selbst: Wenn es regnet, wenn das Wasser Genuas Altstadtgässchen hinunterplätschert, plaudert die Stadt plötzlich wie von selbst. Man muss nur dem Rinnsal folgen, auf den Fluss der Dinge vertrauen, sich treiben lassen, um dort zu landen, wohin früher oder später alle genuesischen Wege einmünden: im legendären Hafenviertel, dem größten Italiens.

Fast zwangsläufig richtete sich das Augenmerk der Stadtväter auf den Porto Vecchio, den alten Hafen, als es darum ging, Genua anlässlich der Columbus-Feierlichkeiten des Jahres 1992 ein Facelifting zu verpassen. Architektur-Lokalmatador Renzo Piano übernahm damals den Masterplan. Näheres zum Status quo verrät nun eine Fahrt mit dem Riesenspielzeug Grande Bigo, einem 60 Meter hohen stilisierten Schiffskran, in dem auch ein Fahrstuhl untergebracht ist.

Ein paar Sekunden dauert der beschauliche Ausflug nach oben, bei dem sich die Wahrzeichen wie Kulissen eines postmodernen Bühnenstücks verschieben. Die gläserne Kuppel der Expo 92 zählt dazu. Und natürlich der etwas weiter entfernte Leuchtturm "La Lanterna" aus dem 16. Jahrhundert, der nun auch über jenes echte falsche Piratenboot wacht, auf dessen Planken Regisseur Roman Polanski einen übellaunigen Walter Matthau befehlen ließ.

Jetzt hat es seinen Heimathafen gefunden und kapert harmlose Touristen, die meist auch der blauen Blechbox des Acquario di Genova, dem modernsten Aquarium Europas, ihre Aufwartung machen. 500 Meerestierarten tummeln sich hier, Rochen-Streichelbecken und virtuelle Hai-Show inklusive. Doch innovativ war die Stadt der Entdecker schließlich schon immer.

Das beweist auch der neue Museumskomplex in den umgebauten Baumwoll-magazinen der historischen Docks mit der experimentell ausgerichteten Kinderzone "Città dei Bambini" und dem "Museum für Meer und Seefahrt". Und darauf verweist im Schatten der unsentimental aufgestelzten Stadtautobahn Sopraelevata auch der Palazzo San Giorgio: ein 1260 errichtetes Haus, das vom Rathaus zur Steuerbehörde und schließlich zur mächtigsten Foltermaschine europäischer Königshäuser aufsteigen sollte.

Die Spezialität des Hauses: finanzieller Aderlass. Doch da beherbergte das Gebäude bereits die berühmte Banco di San Giorgio, was die Stadt zu einer Art mittelalterlicher mediterraner Wall Street machte. Immerhin waren es genuesische Großkaufleute, die mit der Banco di San Giorgio die älteste Bank der Welt erfanden, als Draufgabe auch noch die Buchhaltung und das Versicherungswesen, und die absurderweise erst nach den Verlust der eigenen Seemacht den wahren Business-Hype erlebten.

Genua segelte nämlich in einem Meer aus Schuldscheinen zum wahren Erfolg. Denn alle standen sie in der Kreide der reichen Genueser Familien: Könige, Kreuzfahrer und Kriegsherren. Bis zum 16. Jahrhundert machte die Schein-Welt der Optionen Genua zur reichsten Stadt und Finanzmetropole der westlichen Welt.

Ein Kapital, von dem die Superba noch heute zehrt. Always follow the money. Dieser Lebensweisheit der Kunstwelt folgten auch die alten Meister, die Genua zu einem internationalen Kunstmekka der Ära machten: Rubens, Van Dyck, Bernardo Strozzi, Veronese. Genau hier setzen auch die attraktivsten Aktivitäten von "Genova 04" an.

Die Fülle der nun restaurierten Paläste raubt einem den Atem, besonders an der Via Garibaldi, wo Baumeister und Künstler virtuos mit perspektivischer Verzerrung und den imaginären Welten der Freskenfantasien spielten. Palazzo Rosso, Palazzo Bianco, Palazzo Tursi, Palazzo Spinola, Palazzo Ducale heißen die hier oder in unmittelbarer Nachbarschaft gelegenen Häuser, deren bunte Wände und Decken zugleich auch weite Fenster in gemalte Zaubergärten aufstoßen. Echte und gemalte Säulen gehen fließend ineinander über.

Im Hof des königlichen Palazzo Reale an der Via Balbi kriechen noch heute lebende Schildkröten an den Kieselmosaik-Tieren des Gartenpflasters vorbei, wenn sie ihren Seerosenteich verlassen. Andererseits verraten die gemalten Stillleben im Inneren der Palazzi, wie das Leben in den leer gewordenen Salons aussah: Pompöse Geschäftsleute, die statt Nadelstreif lieber changierende Seide tragen, zeigen die Bilder. Prächtige Blumengebinde, silbrig glänzende Fischflossen, geputzte Schoßhündchen tummeln sich zwischen den Goldrahmen.

Die kostbaren Stoffe, die den Porträtierten über die Schulter fließen, gibt es heute in dieser Qualität kaum mehr. Wohl aber die Auberginen, Fischschuppen und Genueser Lichtnuancen, die die Künstler zu diesen Farbtönen inspirierten. Wer eine leise Ahnung davon gewinnen möchte, muss lediglich zurück in die Gassen der Stadt. (Der Standard/rondo/13/04/2004)Info
Leitthema von 118 Veranstaltungen bei Genua 2004 ist das Thema "Die Reise" - auch durch die Kunstschätze der Stadt. Zu den Highlights zählen: "Die Zeit Rubens" - Werke bedeutender Maler (20.3. bis 11.7.); "Die Überseedampfer" (29.5. bis 1.11); "Festival der Wissenschaft" (28.10. bis 8.11); das "Paganinifestival" im Oktober, "Urban re-GEN-eration" - städtische Erneuerung (Okt. bis Dez.); die "Insel der Museen und der Parks" (kultureller Parcours im Villenvorort Nervi).

Verfasser/in:
Robert Haidinger
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