16/02/2004
16/02/2004

"Ça roule", sagen sie hier, "es läuft", und es läuft gut für Lille, die Millionenstadt, in der es angeblich immer regnet. Nach Brüssel fährt der Schnellzug nur noch 40 Minuten, nach Paris eine Stunde und nach London - dank des Eurotunnels - nur noch zwei.

So profiliert sich Lille erfolgreich als kulturelle und wirtschaftliche Drehscheibe zwischen den westeuropäischen Metropolen: Eine lebensfrohe, bunte Stadt, die nach Jahren des Niedergangs ihre

Mitte wiedergefunden hat. Hinter den frisch renovierten, mit Putten, Löwenmäulern und anderen märchenhaften Figuren reich verzierten, schmalen flämischen Bürgerhäuserfassaden aus dem 17. Jahrhundert eröffnen täglich neue Lokale, Restaurants und Boutiquen.

Die aus nackten Ziegelsteinen gemauerten Kellergewölbe der einst reichen Tuchhändler haben junge Designer zu schicken Geschäften umgebaut. Auf der Grande Place unter der Säule mit der Göttin des Widerstands lassen sich Einheimische und Touristen am großen Brunnen die Sonne ins Gesicht scheinen. Eine US-amerikanische Zeitung nannte Lille unlängst das "bestgehütete Geheimnis der Welt".

"Diese alten Fassaden und die vielen Lokale, wo man mit den Leuten sofort ins Gespräch kommt, Flandern ist so gesellig", sagt Véra Dupuis und ist in ihrer stürmischen Liebe zu ihrer Wahlheimat kaum zu bremsen. Inzwischen lebt sie sogar davon. Die Deutsche führt Touristen durch die Stadt. Sie erzählt von Frankreichs zweitgrößter Kunstsammlung im Palais des Beaux-Arts, von dem futuristisch anmutenden Geschäftsviertel EuraLille, von den angeblich besten, handgemachten Schokoladen- und Waffelleckereien bei Méert und vom noch ganz ursprünglichen Arbeiter-, Künstler- und Einwandererviertel Wazemmes.

Jeden Sonntagnachmittag singen und tanzen Poeten, Studenten und Lebenskünstler dort in der "Cigale" am Marktplatz. Nicole zum Beispiel schmettert die Lieder der Piaf, bis ihr vom harten Leben und dem Alkohol zerfurchtes Gesicht nur noch strahlt. Immer mehr Gäste stehen auf, singen und tanzen mit. Während draußen die Markthändler aus Marokko, Algerien, Frankreich, China oder Kambodscha ihre Stände abbauen und die Armen des Viertels liegen gebliebenes Obst und Gemüse einsammeln, steigt in der Cigale die Stimmung.

"Maison Folie" nennt die Stadt ihr erstes Projekt für das Kulturhauptstadt-Jahr 2004, das ebenfalls in Wazemmes stattfindet. In einer alten Spinnerei entstehen ein Theatersaal, Cafés, Künstlerateliers, Werkstätten und andere Räume für kreative Bürger. Früher wohnten die Kreativen, aber auch die sozial Schwachen in der Altstadt zwischen dem prächtigen flämischen Bahnhof aus dem späten 19. Jahrhundert und dem Schaufenster der Stadt, der Grand Place.

Inzwischen sind die mit Sandsteinskulpturen reich verzierten Händler- und Bürgerhäuser saniert, und das Kopfsteinpflaster in den engen Gassen sieht so aus, als sei es gerade eben frisch verlegt worden. Verschwunden sind der Hafen, die Flüsschen und Kanäle, die der Stadt Lille (L'Ile bedeutet die Insel) einst den Namen gaben und jedes Jahr die Keller der Altstadt überfluteten. Man hat sie zugeschüttet.

Mitten in der schick gewordenen Altstadt eröffnete Jean Luc Leconte ein "Estaminet". Lokale wie dieses mit Wohnzimmercharakter waren vor allem das zweite Zuhause der kleinen Leute, der Bauern, der Fabrikarbeiter und der Bergleute, die den Stoff aus dem Boden holten, der Frankreichs Norden im 19. Jahrhundert reich gemacht hatte: Kohle.

In den 60er- und 70er-Jahren verlor die Region plötzlich ihre Lebensgrundlage: Kohle, Stahl, Werften und vor allem die Stoffherstellung rentierten sich nicht mehr. Zwischen 1960 und 1990 verschwanden 300.000 Arbeitsplätze. Trotz eines beachtlichen Wirtschaftsaufschwungs zählt die Region Lille immer noch mehr Arbeitslose als der französische Durchschnitt. Da kommt der Titel "Europäische Kulturhauptstadt 2004" gerade recht. (Der Standard/rondo/13/04/2004)

Info
Ausstellungen
Bis 7. März "Auto der Zukunft", Norexpo, EuraLille; "Rubens" im Palais des Beaux-Arts, 06.03. bis 14.06.; "Theater zu Pferd: Zingaro" auf der Esplanade de Lille, 16.07. bis 04.08.
Fixpunkte sind neben den insgesamt zwölf "Maisons Folie" die "heures bleues": jedes Wochenende finden Umzüge, Feste und Konzerte statt.

Verfasser/in:
Robert B. Fishman
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