29/12/2004
29/12/2004

"Raum. Aufenthalt. Leibliche Anwesenheit."Wo sind wir, wenn wir anwesend sind?

Alltagserfahrung besagt meist, wir sind da, wo unser Leib ist, der angenehme und unangenehme Orte wie Befindlichkeiten kennt. Die cartesianische Annahme, unser Sein entstünde aus einem Denkakt, cogito ergo sum, der Körper dürfe dabei ruhig als nachrangig angesehen werden, ist inzwischen nicht nur von der Neurologie als interessanter Irrtum markiert worden.
In der Betonung eines unlösbaren Zusammenhanges von Geist, Leib und Lebendigkeit muss es auch einen Ort geben. Es erscheint der Körper als der Träger „des Politischen“. Vor allem beim Aufenthalt im öffentlichen Raum, der dem privaten gegenübergestellt und gestaltet ist. So wird konsequent die leibliche Abwesenheit im öffentlichen Raum als ebenso politisch relevanter Umstand begriffen. Wie auch allenfalls das Fehlen öffentlichen Raumes. Oder der Mangel an freien Zugängen.

Einst waren dem Körper des Souveräns besonderer Rang und besondere Weihe zugeschrieben. Der Leib des Kaisers wurde, ähnlich wie der Leib des Heiligen, als mit besonderer Wirkung ausgestattet verstanden. Folglich war physische Nähe zu diesem realen Leib mit einer speziellen Aura gedacht. Weshalb Lebende als Höflinge dem Thron nahe zu sein versuchten. Weshalb Tote von Rang früher gerne in Kirchen, möglichst nahe bei Reliquien begraben wurden.
Mit dem Ausgang aus der Feudalzeit, auf dem Weg in die Industriemoderne, wurden Grund und Boden, Zentrum und Peripherie, Gebundenheit und Mobilität völlig neu gedeutet. Wurde der Mensch neu gedeutet. Der Wandel vom Untertan zum Bürger hat den Leib des Souveräns verblassen lassen. Dafür setzte sich ein anderes Leibkonzept durch, dessen Souveränität zum Beispiel in der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ formuliert ist: „Jeder Mensch hat das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person.“

Wo sind wir also, wenn wir anwesend sind?

Natürlich nicht bloß in unserem Leib an bestimmten Orten. Denn das Ich scheint zwar den Leib zu brauchen, ist aber nicht stofflicher Art. Wahrnehmung, so behaupten die Konstruktivisten, sei der Deutungsakt eines „kognitiv geschlossenen Systems“.
Etwas salopper formuliert hab ich es den Konstruktivisten von Foerster sagen hören:
„Das Gehirn bildet nicht ab.“
Es weiß also nicht, was da draußen ist. Es deutet die Reize, die ihm von den Sinnen angeboten werden.

Nimmt man diese Vorstellung ernst, ahnt man, wie komplex und knifflig unsere Beziehung zu Raum und Außenwelt ist – im physischen und topografischen genauso wie im sozialen Sinn. Man ahnt überdies, wie heikel sich das Beziehungsgeflecht erweist, wenn wir in dieses Kräftespiel noch politische Kategorien einbeziehen. Zugleich vermittelt es uns einen Eindruck davon, wie verlockend und fatal in dieser Sache übliche Komplexitätsreduktionen sein müssen, was – wie ich polemisch behaupte – das Alltagsgeschäft der sogenannten Realpolitik ist (diese Zusammenhänge und Prozesse, die daraus resultierenden Probleme und vermuteten Lösungen in möglichst reduzierter Komplexität zu bearbeiten und darzustellen; anders formuliert: einfache Antworten auf schwierige Fragen zu finden)
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Und weil das so ist, und weil sich dabei so wenig dingfest machen lässt, und weil mein Zugang zur Kunst, eigentlich: meine künstlerische Praxis mir solche Komplexitätsreduktionen weder auferlegt noch gestattet, ziehen mich diese Zusammenhänge magisch an.
Um so mehr, als ich Repräsentant und früher Aktiver einer Netzkultur-Szene bin. Was vor allem bedeutet: ich bin einer, der sich schon ein Weilchen damit befasst, wie sich vertraute analoge Welten und die neuen Simulationswelten aus EDV-gestützten Systemen zueinander verhalten. Und was das kulturell für uns bedeutet.

Eine meiner bevorzugten Annahmen besagt: derzeit unterscheiden und scheiden wir noch „real life“ und „virtual reality“. Also analoge und virtuelle Welten als Bezugssysteme zweier getrennter Realitätskonzepte. Ich vermute, wir werden es in absehbarer Zeit erleben, dass diese Trennung fällt und dass „virtual reality“ in den Kanon menschlicher Realitätsauffassung aufgenommen wird. Um von da an nicht mehr als „andere Realität“ verstanden zu werden.

Wovon können wir ausgehen? Im weiblichen Uterus sind wir zwar erstmals Anwesende, aber wir haben dabei noch kein Raumerlebnis, weil uns zu dieser Zeit jede Identität fehlt. Es gibt dieses Ich noch nicht, das sich in einem Raum anwesend erleben könnte. Vom Mutterleib getrennt, auf dem Weg zum eigenen Ich, beginnt unter anderem dieses anspruchsvolle Lernen, wie sich der Körper zum Raum verhält. Oben, unten, links, rechts, vorne und hinten. Das ist ja auf den Körper bezogen etwas jeweils ganz anderes, entsprechend der Lage, in der man sich grade befindet.
Es wird uns mit der Zeit ganz selbstverständlich, darüber jederzeit Klarheit zu haben. Taucher und Piloten wissen über Krisensituationen, wie tödlich der Verlust dieser Orientierungsfähigkeit auch nur für Augenblicke sein kann. Verirrte Wanderer machen mitunter radikale Erfahrungen. Die leibliche Anordnung im Raum scheint von so grundlegender Bedeutung für uns zu sein, dass wir auch soziale Gegebenheiten in Raummetaphern darstellen. Hierarchische Bilder, Auf- und Abstiege, gläserne Decken und Ränder an Abgründen . . .

Denken und Erinnern hat Techniken entwickelt, Mnemotechniken, die ihre Bilder aus der Architektur entlehnt: Paläste der Erinnerung. Architektur wird offenbar nicht bloß als das „Edlere“ gegenüber schlichter Bautätigkeit verstanden. Sozietäten werden mit Begriffen dieser Disziplin ebenso beschrieben wie technische Anordnungen – auch Chips und Platinen haben „Architektur“. Also kunstvolle Bauweise.

Ist denn das nun eher nützlich oder eher problematisch, wenn unser Leben so weitgehend dem Thema Architektur zugeordnet erscheint? Wie in Alltagsdiskursen schon fast alles als Kunst, mindestens als Kultur beschrieben sein will? Also! Kunst, Kultur und Architektur als salopp zugängliches Begriffsarsenal, um daraus komplexe Zusammenhänge in vereinfachter Weise darzustellen? Ist dieses Ausmaß an Komplexitätsreduktion erträglich? Und hilfreich?

Die Architektur möchte als „Baukunst“ von herkömmlicher Bautätigkeit unterschieden sein. Wobei der Architekt aus dem Baumeister hervorgegangen ist. Diese Entwicklung findet man vergleichbar in einem anderen „Raumgeschäft“. Der Regisseur hat sich aus dem Inspizienten entwickelt. In ähnlicher Unterscheidung: Dass der Eine das Nützliche und Notwendige bediene, der Andere Nötiges mit „höheren Qualitäten“ verknüpfe.

Solche Qualitäten sind seit Jahrtausenden benannt und überliefert. Vitruv verlangte vom Werk Haltbarkeit, Zweckmäßigkeit und Schönheit. Alberti, sein Kollege in der Renaissance, nannte ebenfalls drei Prinzipien: Annehmlichkeit, Notwendigkeit und Vergnügen. Raummetaphern und überschaubare Qualitätskriterien. Die sind von der Architektur entlehnbar, um Bedingungen menschlicher Gemeinschaft zu beschreiben. Das finde ich sehr interessant: „Soziale Gebäude“ nach den Prinzipien „guter Architektur“ zu betrachten.

Diese Aspekte verbinden sich in einem speziellen Teilthema, dem Verhältnis von Zentrum und Provinz. In einem soziokulturellen und wirtschaftlichen Prozess wurden auf dem Weg über Bauernbefreiung und Industrialisierung Verhältnisse eingeführt, die heute noch dominante Muster zeigen. Und unsere Ansichten prägen. Muster die höchst hinfällig sind. Spätestens durch die aktuelle „Revolution“ im Kielwasser der expandierenden Mikroelektronik, von der unser aller Leben durchdrungen wurde.

Infosphäre und Informationsgesellschaft sind die Schlagworte, hinter denen das „Denkmodell Zentrum / Provinz“ neu zu deuten wäre. Weil Standort, Raum und Zeit sich durch die Telekommunikation auf neue Arten in Wechselwirkung befinden. Zeitgemäße Praxis lässt auf sich warten, während eine neue Invasion von Couch-Potatoes inszeniert wird, während sich maßgebliche Akteure des Gemeinwesens in den liebgewonnenen Eigenheiten traditioneller Zentrums-Existenz verschanzen. Derweil proklamieren viele Promotoren des Medienhypes das Aufgeben realer sozialer Begegnungen; somit das Aufgeben des öffentlichen als politischem Raum. Das korrespondiert gut geölt mit den Tendenzen vieler Bauherren, die Räume der Polis an die Geschäftswelt abzutreten. Denn öffentliches Gut kostet, während Geschäftsraum wenigstens Umsatz, letztlich aber auch Profit in Aussicht stellt.

Shopping Mall statt Agora. Einkaufszentrum statt Dorfplatz. Das ist eine Herausforderung für Architektur, Politik und Kultur. Alles klar? Keineswegs! Selbstverständlich können Städte nicht mehr sein, was sie im Mittelalter waren. Und Dörfer müssen vielleicht werden, was sie noch nie gewesen sind. Gerade hier wiegt ein Grundprinzip der Demokratie: dass nicht nur bedacht wird, was Mehrheiten fordern, was effiziente Lobbies durchsetzen.

Es bleibt die laufend gewichtige Frage: was brauchen jene, die nicht gehört werden?
So wie laufend verhandelt sein will, was wir unter „conditio humana“ verstehen, bleibt laufend diskussionswürdig, wie sich Eigennutz und Gemeinwohl zueinander verhalten sollen. Oder eben: wie Zentrum und Provinz zueinander gestellt sein sollen.

Da das 21. Jahrhundert eben begonnen hat, wäre es an der Zeit, die populären Bilder aus dem 19. Jahrhundert zu überprüfen.
Von Martin Krusche

Martin Krusche ist Autor und Impresario von www.kultur.at. Krusche Home: www.van.at/martin/

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