14/03/2004
14/03/2004

Schamlos, bodenlos, gar nichts los

Kunst ist nicht Kultur. Und Kunstförderung nicht Kulturförderung. Eine Klarstellung anlässlich der Diskussionen um das Wiener Literaturhaus.

Die Kunst stellt die Welt dar. Anders die Philosophie, welche die Welt deutet, anders die Wissenschaft, welche die Welt erforscht. Die Kunst stellt die Welt dar in der Form ihres Werks. Der Dichter schreibt die Wörter nicht in die Luft, er bringt sie zu Papier und legt sie anderen vor. Auch zur Beurteilung. Es setzt ein Palaver ein, ob das Werk ein Kunstwerk ist oder nicht. Wer entscheidet das? Die Zeit und die Kenner.

Die Beurteilung, ob ein Werk ein Kunstwerk ist oder nicht, ist so schwierig, weil Kunst selbst, also die Darstellung der Welt, so schwierig ist. Kunst, die es nur zur Abbildung bringt, ist Machwerk, Kunst, die ins Sinnbild flüchtet, ist Blendwerk. Ein Kunstwerk hingegen ist die bestmögliche Darstellung der Welt. Es ist nie die ganze Welt, doch durch die vollkommene Darstellung des Teils ist es mehr als der Teil. Künstlerische Darstellung heißt, dem äußeren Schein ebenso zu misstrauen wie dem verborgenen Wesen. Kunst ist der Schein, der nicht trügt.

Da der Anspruch, den die Kunst an sich stellt, hoch ist, muss auch der Anspruch der Kunstkritik hoch sein. Kunstkritik ist eine Kunst. Indem sie das Werk zugleich nachzeichnet, analysiert und beurteilt, bedarf sie sowohl künstlerischer als auch philosophischer und wissenschaftlicher Fähigkeiten. Auch sie äußert sich im Werk. Es ist der Essay.

Seit die Gesellschaft auf Tausch beruht, finden Kunst und Kunstkritik sich in der Krise. Die Krise ist das Wesen der politischen Ökonomie der Kunst. Sie rührt daher, dass in einem Kunstwerk oft mehr Arbeit steckt, als dem Künstler abgegolten wird, und dass sich nicht immer ein Käufer findet. Für Kunst gilt wie für jede Ware, dass der Gebrauchswert der Träger des Tauschwertes ist. Dank der Zurückhaltung, die das Kunstwerk als Ware übt - es stellte sonst nicht die Welt dar, sondern wäre ein beliebiges Geschäft -, fällt ihm ein zusätzlicher Gebrauchswert zu. Es ist, konträr zur übrigen Warenwelt, nicht umzubringen.

Kunst ist das ökonomische Risiko par excellence. Deshalb gibt es zumindest seit der Antike Kunstförderung. Sie beruht auf einer gesellschaftlichen Übereinkunft: auf Kunst, die einzige sinnliche Gestalt der Wahrheit, nicht verzichten zu wollen. Kunstförderung war und ist die einfachste Sache der Welt. Der Künstler braucht niemanden, der ihm aufmunternd auf die Schulter klopft, er braucht, falls es ihm daran mangelt, Geld, sonst nichts.

Die Hand, die es ihm reichen kann, ist heutzutage die öffentliche Hand. Der Künstler geht, wenn er die Arbeit an seinem Werk aus Geldmangel nicht fortsetzen kann, zum Staat, legt seine Situation dar und ersucht um finanzielle Unterstützung. Er legt alles offen, die Arbeit, in die er verstrickt ist, und die Verhältnisse, die ihn drücken.

Das Problem ist nicht, wie man meinen könnte, dass es zu wenig Geld für Kunst gibt, sondern dass immer weniger Mittel, die für Kunstförderung bestimmt sind, den Künstlerinnen und Künstlern zugute kommen. Der Zustand ist schlimm, die Tendenz beängstigend. Registriert wurde das schon von Brecht und Musil. Davon, dass ein Schriftsteller nicht leben kann, sagte Musil, leben hundert andere Leute ausgezeichnet.

Der Schauplatz solchen Geschehens heißt nicht Kunst, sondern Kultur. Brecht nannte die Kultur einen Palast, der aus Hundsscheiße gebaut ist. Treffender kann man diese Kunst- und Literaturhäuser und diese Museumsquartiere, in denen Kunst eingesargt wird, ehe sie lebt, nicht charakterisieren. Nicht zufällig sehen sie aus wie Mausoleen.

Kultur hatte ihre große Zeit im Absolutismus, als versucht wurde, der gesamten Gesellschaft einen einzigen Stil aufzuzwingen. Jeder Altar, jeder Nachttopf, jede Türschnalle musste barockisiert werden. Dem feudalen Machtwahn, Stil zu diktieren, folgte im 19. Jahrhundert der bürgerliche Größenwahn, sich jeden Stil, den die Geschichte hervorgebracht hat, kaufen zu können. Angesichts dieses Drecks, zu dem Kultur herabsank, brach die Kunst Mitte des 19. Jahrhunderts die Beziehungen zur Kultur ab. Es war der Beginn der ästhetischen Moderne. Die Kultur, da es sonst niemand tat, vernichtete sich selbst, indem sie sich von der Gesprächs- über die Streit- bis zur Esskultur in hundert Kulturen zerteilte, um zu vertuschen, dass sie am Ende ist.

Es gibt sie nur mehr als Farce. In dieser Farce spielen freilich sehr viele Schmierenkomödianten mit. Die Kultur, historisch tot - Kunst und Wissenschaft haben sich von ihr emanzipiert -, ist heute ein Tummelplatz von Maulhelden, Intendanten, Rosstäuschern, Kuratoren, Wichtigmachern, Funktionären. Ich nenne sie Kulturbetriebler. Ein Betriebler, falls das jemand nicht weiß, ist jemand, der einen Betrieb, der längst nichts mehr herstellt, mit Feuereifer in Betrieb hält.

Das Dreiste am Kulturbetriebler ist, dass er die Kunst beleidigt und den Künstler bestiehlt, das aber im Namen der Kunst und der Künstler. Der Künstler ist dagegen machtlos. Ihm bleibt nur, hin und wieder, so wie ich es hier tue, den Tatbestand zu benennen. Der Künstler weiß zwar, dass er mit einem Minimum an berufspolitischem Engagement zumindest ein kümmerlicher Stachel im fetten Fleisch des Kulturbetrieblers wäre. Er weiß aber auch, dass er, in seine Arbeit vertieft, selbst jenes Minimum nicht leisten kann.

Auf diesem Notstand, der die Existenz des Künstlers definiert, baut der Kulturbetriebler seine Existenz - und darauf, eigene Kulturbetriebskünstler heranzuziehen, die sich damit brüsten, statt eines überprüfbaren Werks ein Konzept zu produzieren, das auch schon die Kritik am nicht vorhandenen Werk enthält, womit der Traum von einer Welt ohne Kunstwerke und ohne Kunstkritik nach und nach Wirklichkeit wird. Der Text ist einem längeren Beitrag von Michael Scharang, erschienen im Spectrum/Zeichen der Zeit vom 11.10.2003, entnommen.

Verfasser/in:
Michael Scharang
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