07/11/2004
07/11/2004

Berlin. Oder: Der Fernsehturm hat mir noch nie zugelächelt.
von Hedi Lusser

Es mag abgedroschen und pathetisch klingen, aber ich liebe den Geruch der Berliner U-Bahn. Die langen, grauen Stiegen hinunterzusteigen, während einem aus dem Bauch der Erde schon warmer Fahrtwind und der Geruch nach Plastik und Großstadt entgegenschlägt, macht mich jedes Mal schwindelig vor Glück. Wenn ich dann meinen Kopf in den Nacken lege, kaum merklich, um den Menschenstrom nicht in seiner Bewegung zu stören, die Augen schließe und ganz tief einatme - bin ich auf einmal wieder 17. Es ist Sommer und ich bin verliebt.

Schwer zu sagen in wen mehr, in den Mann oder in die Stadt. Fest steht, dass mich diese Nachmittage, auf den weiten Gehsteigen, wo das helle Sonnenlicht durch das Laub brach und der Hüpfball fast zeitverzögert, aber doch immer wieder überraschende Wendungen nehmend, auf das Kopfsteinpflaster aufschlug, nie mehr richtig losgelassen haben. Nicht in Köln, wo ich den Dom keines Blickes würdigte. Nicht in Schweden, wo die endlosen Wälder mich langweilten und alles viel zu klar und rein erschien. Und schon gar nicht in Graz, wo mir der Uhrturm täglich längst vergessene Peinlichkeiten zuraunte und dabei so widerlich, verschwörerisch zwinkerte. Nein. Der Fernsehturm sollte mein Komplize sein. Mit ihm wollte ich meine Abenteuer teilen. Nicht mit dem Stephansdom, der immer leicht apathisch und gelangweilt auf den Stephansplatz herunter blinzelt und die Grenzen seines Reiches so einfach überblicken kann. Ich wollte einen Turm, der über Uferlosem und Zerbrochenem herrscht. Der stolz inmitten von Umbruch seinen Platz wahrt. Der stark ist - jedoch nicht aus Gewohnheit, sondern aus der Notwendigkeit heraus, für sich zu bestehen. Einfach nur für sich. Daran hatte ich nicht gedacht. An diesen Panzer aus Resignation und Stolz, der den inmitten ständigen Wandels sich Behauptenden umgibt. "Berlin bist du egal", sagte einmal so treffend ein Freund zu mir. Und genau das macht diese Stadt aus. Du bist nichts und alles - und alles auch nur für dich. Du kannst machen, was du willst - aber wen interessiert's? Lauf nackt eine Straße entlang und nicht einmal die kleinen Kinder werden sich nach dir umdrehen. Schreie, spucke, weine - laut und öffentlich. Es spielt keine Rolle.

So beginnt man unweigerlich, die uferlose Stadt klein zu machen. Ein Dorf. Ein Nest. Meine drei Straßen. Mein Bäcker. Mein Kiez. Zur Arbeit pendelt man in eine andere Stadt, die seltsamerweise den selben Namen trägt. Auch die Geschäfte gleichen oft Dorfkrämern, weil keine Notwendigkeit besteht, sich zu spezialisieren oder aus der Masse herauszustechen. Wer fährt schon gerne zwei Stunden U-Bahn, um ein bestimmtes Brot zu bekommen? Die Jagd nach günstigen Reißverschlüssen wird zur zeit- und nervenraubenden Qual. Und doch zelebriert man das vermeintliche Großstadtleben, indem man in regelmäßigen Abständen, mindestens jedoch alle zwei Jahre, das eine Dorf gegen ein anderes eintauscht.

In Friedrichshain versteht keiner, wie man im Prenzlauer Berg wohnen kann und umgekehrt. Dabei sind hier die Unterschiede noch verhältnismäßig gering. Manchmal reicht es schon, eine Straße, die früher eine Mauer war, zu überqueren, um plötzlich völlig woanders zu sein. Doch genau darin liegt auch der Reiz. In der fehlenden Homogenität. Paris - Bratislava: das ist in Berlin einmal mit der S-Bahn umsteigen. Istanbul - Stuttgart: 3 U-Bahn stationen. Alles neu. Unentdeckt und sich noch dazu ständig wandelnd. Wo heute noch eine Brachfläche war, ist morgen schon eine Bar und übermorgen ein Ergotherapeut. Menschen kommen und gehen. Mit ihnen Cafes, Kneipen und Clubs. Die Dinge verschwinden genauso schnell wie sie kommen, das einzige was Bestand hat, ist man selbst. Zumindest solange, bis man wieder geht.Hedi Lusser:
An den Gestaden der Mur gezeugt. Durch die harte Schule der Linksliberalen gefestigt - zog sie aus, um die Welt mit einer Vielzahl an nützlichen Wort- und Bildspenden zu erfreuen. Stationen dabei waren und sind die Fachhochschule für MultiMediaArt in Salzburg, Schweden, Spex/Köln, ein November in Berlin, die Kulturhauptstadt 2003 und seit kurzem ein Bett unter dem Fernsehturm.

Verfasser/in:
ausgewählt von Ute Angeringer und Markus Gfrerer
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