11/12/2004
11/12/2004

Das Sichtbare
John Berger

Das Sichtbare war je schon und ist immer noch die hauptsächliche Informationsquelle über die Welt. Am Sichtbaren orientiert man sich. Selbst Wahrnehmungen, die von anderen Sinnen herrühren, werden häufig in visuelle Begriffe übersetzt. (Der Schwindel ist ein pathologisches Beispiel: Obwohl er ursprünglich im Ohr entsteht, erlebt man ihn als eine visuelle, räumliche Verwirrung.) Dem Sichtbaren ist zu danken, dass man den Raum als die Vorbedingung der physischen Existenz erkennt. Das Sichtbare bringt uns die Welt. Doch gemahnt es uns gleichzeitig unaufhörlich daran, dass das eine Welt ist, in der wir Gefahr laufen verlorenzugehen. Das Sichtbare mit seinem Raum nimmt uns die Welt auch. Nichts sonst ist in diesem Maße doppeltgesichtig.
Das Sichtbare setzt ein Auge voraus. Es ist der Stoff der Beziehung zwischen Gesehenem und Sehendem. Doch ist sich der Sehende, sofern er ein menschliches Wesen ist, dessen bewußt, was sein Auge aufgrund von Zeit und Entfernung nicht sehen kann und niemals sehen wird. Das Sichtbare schließt ihn gleichzeitig ein (weil er sieht) und aus (weil er nicht allgegenwärtig ist). das Sichtbare besteht für ihn in dem Gesehenen, das seine Existenz bestätigt, selbst wenn es bedrohlich ist, und in dem Unsichtbaren, das dieser Existenz trotzt. Das Verlangen, gesehen zu haben (den Ozean, die Wüste, das Polarlicht), hat eine tiefgründige ontologische Basis.
Dieser menschlichen Ambivalenz in Bezug auf das Sichtbare muss man die visuelle Erfahrung der Abwesenheit hinzufügen, derzufolge wir nicht mehr sehen, was wir sahen. Wir sehen uns einem Verschwundenen gegenüber. Und daraufhin erfolgt ein Kampf, der verhindern soll, dass das, was verschwunden ist, was unsichtbar geworden ist, der Negation des Ungesehenen anheim fällt und unsere Existenz anficht. Solchermaßen erzeugt das Sichtbare den Glauben an die Wirklichkeit des Unsichtbaren und provoziert die Entwicklung eines inneren Auges, das bewahrt und arrangiert wie in einem Interieur, so als sei das, was gesehen worden ist, auf alle Zeiten gegen den Hinterhalt des Raumes geschützt, der die Abwesenheit ist.
Das Leben selbst wie auch das Sichtbare schulden ihre Existenz dem Licht. Ehe es irgendein Leben gab, wurde nichts gesehen – es sei denn von Gott. Weder die optische Erklärung der visuellen Wahrnehmung noch die evolutionistische Theorie der langsamen, gefahrvollen Entwicklung des Auges als Reaktion auf den Stimulus des Lichts – keine von beiden löst das Rätsel um die Tatsache, dass in einem bestimmten Augenblick das Sichtbare geboren war, in einem bestimmten Augenblick Erscheinungen als Erscheinungen enthüllt waren. Eine Antwort auf dieses Rätsel war, dass man den bedeutenden Göttern als erstes die Fähigkeit des Gesichts zugestanden hat: ein Auge, oft ein allessehendes Auge. Dann konnte gesagt werden: Das Sichtbare existiert, weil es bereits gesehen worden ist.
Die Schöpfungsgeschichte stimmt damit überein. Das erste, was Gott schuf, war das Licht. Nach jedem darauffolgenen Schöpfungsakt erlaubte das Licht ihm zu sehen, dass das, was er geschaffen hatte gut war. Und am Ende des sechsten Tages sah er alles, was er geschaffen hatte, und siehe, es war wohlgetan. Was mir an der Schöpfungsgeschichte gefällt, ist, dass sie das Mysterium des Sichtbarwerdens anerkennt. Die Mysterium wird in der universellen Erfahrung dessen, was dann natürliche Schönheit genannt werden sollte, aufrechterhalten und wiederholt. Was immer für normative Kategorien man anwenden mag, solche Schönheit wird stets als eine Form der Enthüllung erfahren. Sie spricht.
Ein Wasserfall ist ein Wasserfall ist ein Wasserfall. Erscheinung und Bedeutung, Aussehen und Bedeutung werden identisch, wohingegen sie gewöhnlich getrennt sind und durch denjenigen, der schaut und fragt, zusammengebracht werden müssen. Eine Offenbarung ist diese Verschmelzung. Eine derartige Verschmelzung verändert das Raumgefühl, das man hat, oder besser gesagt, sie verändert das Gefühl des Im-Raum-Seins.
Das grenzenlos Sichtbare schließt den Menschen ein und gleichzeitig aus. Er sieht und er sieht, dass er unablässig im Stich gelassen wird. Die Erscheinungen gehören zum grenzenlosen Raum des Sichtbaren. Mit seinem inneren Auge erfährt der Mensch den Raum seiner eigenen Einbildungskraft und Reflexion. Normalerweise geschieht es innerhalb dieses inneren Raums, dass er der Bedeutung ihren Ort zuweist, sie bewahrt, kultiviert, wuchern lässt oder konstruiert.
Im Augenblick der Offenbarung, wenn Erscheinung und Bedeutung identisch werden, fallen der Raum der Physis und der innere Raum des Sehenden zusammen: Augenblicksweise und ausnahmsweise erreicht der Sehende eine Gleichheit mit dem Sichtbaren. Es gelingt ihm ,jegliches Gefühl des Ausgeschlossenseins loszuwerden; im Mittelpunkt zu sein.
entnommen aus:
John Berger. Und unsere Gesichter, mein Herz, vergänglich wie Fotos
Erschienen 1986 in der Edition Akzente, Carl Hanser Verlag, München Wien

Über den Autor John Berger
geb. 5. November 1926 im englischen Stoke Newington als Sohn eines Juristen; Besuch der Central School of Art und Chelsea School of Art in London; von 1944 bis 1946 Kriegsdienst; nach 1945 bis 1955 Kunsterzieher und Maler; wechselt Anfang der 50er Jahre vom Malen zum Schreiben, weil er glaubt, als Journalist und Schriftsteller während des kalten Krieges effektiver gegen den drohenden nuklearen Gau ankämpfen zu können; seit jener Zeit galt Berger als intellektueller Aktivist der marxistischen Szene; bis 1960 Autor für die Londoner Zeitungen Tribune und New Statesman; 1958 wird sein Romanerstling wegen prokommunistischer Tendenzen von seinem Verlag zurückgezogen; verlässt darauf aus Protest England; seit Anfang der siebziger Jahre in dem kleinen Bergdorf Quincy in der Haute Savoie (Frankreich). Für einen Eklat sorgte Berger bei der Verleihung des Booker Prize, den er 1972 für seinen Roman „G.“ bekommen sollte, als er das Preisgeld den Black Panthers stiftete, um damit gegen die langjährige Ausbeutung der Karibik durch den preisstiftenden Großhandelskonzern Booker McConnell zu protestieren.
Das literarische Werk Bergers umfasst Hörspiele, Theaterstücke, Drehbücher für Film und Fernsehen, politische Reportagen, Sachbücher über Photographie und Malerei, Erzählungen, Romane, Gedichte und Essays; Auszeichnungen
1972 Booker Prize für den Roman „G.“
1989 Österreichischer Staatspreis für Kulturpublizistik
1991 Petrarca Preis

Verfasser/in:
ausgewählt von Karin Tschavgova
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