19/12/2004
19/12/2004

Der Autor

"Als wäre nichts geschehen"
von Peter Rosei

In einem schmalen Gelass arbeiten zwei Friseure nebeneinander. Beide, keine 30 Jahre alt, können nicht mehr richtig gehen, hüpfen mit krummem Rücken und schief gehaltenem Kopf um ihre Kunden herum. Japan: ein Land in Momentaufnahmen.
GRUNDSÄTZLICH hat jedes japanische Haus einen Garten, auch wenn er manchmal nur aus ein paar Grünpflanzen in rostigen Blechdosen besteht. Mitten in der Stadt finden sich oft reizende Großmuttergärtchen, die, als wollten sie einen in ein Märchen locken, als ein schmaler, über und über von blühenden Pflanzen und Blumen bestellter Gang zur Pforte des Hauses führen. In der stillen Straße da, oft nur um ein paar Ecken von der großen Hauptstraße entfernt, kann man manchmal die Eigentümerinnen dieser Gärten hinter den Fensterscheiben kurz auftauchen sehen: Gebückt stehende alte Frauen mit weißem Haar vor der Dunkelheit ihrer Zimmer.
Im Kaufhaus finde ich einen Friseurladen, der mit der schlichten Aufschrift wirbt: 10 Minuten = 1000 Yen. In einem schmalen, von Neonlicht erhellten Gelass arbeiten zwei Friseure nebeneinander, die Kundschaft sitzt auf einer Bank aufgereiht. Du schiebst die 1000 Yen in einen Automaten, der dir einen Bon auswirft. Dieser Bon gibt die Nummer an, unter der du an der Reihe bist; er ist später auch Beleg, dass du bezahlt hast.
Beide Friseure, noch jung, keine 30 Jahre alt, können nicht mehr richtig gehen, hüpfen mit krummem Rücken und schief gehaltenem Kopf um ihre Kunden herum. Ist ein Kunde fertig, wird das abgeschnittene, auf den Boden gefallene Haar rasch in eine Klappe gekehrt, die sich unter dem Friseurstuhl befindet. Der neue Kunde übergibt schon seinen Bon, der Friseur tippt die Zeit, zu der er mit der Arbeit beginnt, noch zusätzlich in eine Kontrolluhr ein. So hat der Eigentümer des Ladens gleich doppelte Kontrolle: die Zeit auf dem Bon und die in die Uhr eingetippte Zeit.
Die Gärten der großen Villen hier in der Vorstadt gleichen meist weltabgewandten, der Stille geweihten Hainen oder, äußerlich betrachtet zumindest, kleinen Urwäldern, aus denen Giebel oder Mauern der in der Tiefe der Grundstücke befindlichen Häuser nur andeutungsweise aufleuchten. Diese Haine bestehen, wie naturbelassener Wald, aus vielerlei Laubbäumen, aus den Stämmen und schlangenhaften Ästen roter und schwarzer Föhren, aus Fächerpalmen, Bambuswedeln und Aralienbäumen. Darunter dann Farne, Huflattich und alles, was gern Feuchtigkeit und Dunkelheit hat. Hier herrscht Zwielicht, und die sauber gekiesten Weglein winden sich, wie es hier Brauch ist, nur indirekt auf die erleuchteten Fenster der Häuser zu.
Im 5. und 6. Jahrhundert, in der Frühzeit, dem Altertum, ließen sich die Häuptlinge oder Könige der Clans große Tumuli aufschütten, mächtige und Ehrfurcht gebietende Gräber, die, von Wassergräben noch zusätzlich umgeben, von großen Tonfiguren umstellt waren. Schon von weitem waren diese künstlichen Hügel in der Ebene zu sehen, die damals wohl in kleine Reisfelder unterteilt war. Heute deckt, wo sich eins dieser Gräber erhalten hat, dichter Wald die bucklige Form, die fremd und verloren dasteht. Ringsum sind jetzt die Gassen der Stadt mit kleinen Häuschen und Gärten und Läden, dann Hauptstraßen, und Leute kommen die Gehsteige herunter.
VERLETZT SICH EIN SPIELER auf dem Spielfeld, ich rede nicht von Profis, sondern von Amateuren, die abends zu ihrem Vergnügen spielen, beachten die Mitspieler den Verletzten nicht, sie spielen unbekümmert weiter, als wäre nichts geschehen. Der Verletzte selber setzt sich an den Rand des Spielfeldes oder humpelt zu einer Bank im Hintergrund.
Auf den ersten Blick schaut das Verhalten der Mitspieler herzlos aus. Dann aber kam mir vor, dass sie gerade dadurch, dass sie weiterspielten, als wäre nichts geschehen, den Verletzten aus ihren Reihen nicht ausgestoßen hatten, dass er gerade durch die vorgebliche Gleichgültigkeit seiner Mitspieler nicht ausgesondert war. Sie hätten ihm jetzt ohnehin nicht helfen können. Er musste sich jetzt selber helfen. So war er dabei.
Das Wa oder die Harmonie, die Einigkeit, ist ein hoch geschätzter und gepriesener Grundwert der japanischen Gesellschaft. Auf Fragen erklärt man mir, dass damit insbesondere auch gemeint ist, dass keiner sich allzu viel vom anderen unterscheidet, er will sich nicht unterscheiden und soll sich nicht unterscheiden, was für meine Ohren nach Konformismus und Zwang zum Konformismus klingt.
Die durchschnittlichen Häuser oder Häuschen der Japaner sind einander im Prinzip völlig gleich. Im Detail allerdings herrscht ein großartiges Durcheinander, unerschöpfliche Vielfalt, und man wird kaum zwei gleiche Häuschen in einer Millionenstadt finden.
Die Fenster der japanischen Häuser bestehen oft aus undurchsichtigem Glas, oder sie sind mit Vorhängen zugehängt. An älteren Häusern sind die Fenster mit Holzläden verschlossen oder mit Matten aus Schilfrohr abgedeckt. Viele Häuser machen den Eindruck, sie seien unbewohnt. Oder man denkt, der Besitzer oder Eigentümer ist gerade verreist. Ein Fenster hat in Japan eine andere Bedeutung und Funktion als bei uns daheim.
WIE IN DEN USA SIND in den Straßen Japans die elektrischen Leitungen nicht unterirdisch verlegt, ein ganzer Wald von Strom- und Telefonmasten steht, meist untermischt mit Alleebäumen, die allerdings nach hiesiger Sitte beschnitten und zusammengestutzt sind, die Straßen entlang.
Sind die inneren Stadtgebiete, im Zweiten Weltkrieg meist dem Erdboden gleichgemacht und also ausgelöscht, in quadratischer Rasteranordnung wieder errichtet worden, finden sich in den Vorstädten vielfach gewundene oder großzügig gebogene Straßenzüge, die der Gestalt des Terrains folgen, es nachzeichnen und interpretieren. - Hier wird wohl einmal ein Dörfchen gestanden sein, denkt man etwa an einer Kreuzung, wo jetzt, im Schatten vielstöckiger Hochbauten, noch etliche Häuschen übrig geblieben sind und ihr ländliches Leben weiterzuträumen versuchen.
Manchmal fühle ich mich da an die Sommerfrischen meiner Kindheit erinnert, wenn etwa ein Hauseingang unter einer Rosenstaude halb versinkt oder auf einer Treppe, die steil in einen Garten hinaufführt, ein Paar Holzpantoffeln steht.
Die japanische Stadt kann sehr laut sein; aber, unversehens, kommst du in abgelegenere Viertel hinein, und abends, gegen zehn oder elf, gehst du oft ganz allein durch die nur spärlich erhellten und zauberisch still daliegenden Straßen.
SCHAUT MAN GENAUER HIN, ist die japanische Stadt ein oft geradezu unwahrscheinliches Durcheinander von dörflich-ländlicher Nachbarschaftlichkeit und Vertrautheit der Bewohner untereinander und wirklich großstädtisch zu nennender Anonymität, Glätte und Kälte. - Im Appartmentblock mit seinen offenen Gängen, die unweigerlich von trocknender oder einfach zum Lüften aufgehängter Wäsche flattern, kennen einander die Mieter kaum, und jeder lebt für sich in seinem für unsere Verhältnisse winzigen Gelass. In den Straßenzügen ringsum, unterteilt in kleine Gärten mit Häusern und den jetzt unabdingbaren und jedenfalls zuasphaltierten Parkplätzen für die Autos, lebt oft eine Art Dorfgemeinschaft weiter, und stirbt da einer, wissen und betrauern es alle - oder die Frauen stehen vor den Häusern, begutachten gemeinsam eine einzusetzende Gartenpflanze oder einen Säugling, der auf seine Robustheit oder Gesundheit hin examiniert wird. Für seine Kinder, höre ich, wünscht man, dass sie wachsen und gedeihen mögen wie der Bambus, stark, unaufhaltsam und gerade. Dieser Wunsch klingt sehr altertümlich. Und ganz modern.
Was im Zweiten Weltkrieg in Europa nur in Dresden und bei den Nazi-Angriffen auf England passierte, dass nämlich, ohne jeden Unterschied, militärische, halbmilitärische und zivile Ziele bombardiert wurden, war in Japan die Regel. Bei der Gelegenheit, provoziert auch durch die Rücksichtslosigkeit der japanische Führung, die ähnlich der nationalsozialistisch-deutschen unverdrossen und gleichgültig gegenüber der Not der Bevölkerung auf den Endsieg setzte, wurden auch viele historisch oder künstlerisch wertvolle Gebäude oder Anlagen vernichtet, sodass sich die Japaner vielfach ihrer Vergangenheit beraubt sahen.
Etwas Bitteres, kommt mir vor, schwingt deshalb immer mit, wenn von diesem Kriegsende die Rede ist, und ist nicht der Abwurf der Atombomben, bei dem der gleichzeitige Tod von hunderttausenden in die Berechnung einbezogen war, auch der Ausdruck äußerster Verachtung und Missachtung, die viel schwerer zu verwinden ist als jeder materielle Verlust, ja als selbst der vieler Leben?
Jetzt, als enger Verbündeter Amerikas, sind die herrschenden Parteien Japans dabei, die nach dem verlorenen Krieg angenommene Doktrin der Selbstverteidigung aufzugeben und umzuwandeln in ein Konzept, das vorbeugende Angriffe auf Gegner, die man ausgemacht hat und dereinst wohl ausmachen wird, nach Gutdünken erlaubt.
Begrüßen die einen die Heraufkunft einer neuen Weltordnung, prophezeien die anderen ein Meer von Blut und Tränen, und beide werden wohl Recht haben.
REGEN - REGENZEIT - Fahrradfahrer mit Regenschirmen - der Schirm im Japanischen überhaupt: Wer kennt nicht die wunderschönen Darstellungen des Regens auf den Drucken des Hiroshige? In schiefen Strichlagen, oft untermischt mit Punkten ist da der Regen abgebildet. Es regnet sehr oft in Japan. Insbesondere erinnere ich mich an einen der Holzschnitte, auf dem Leute über eine Brücke gehen, indes unten, auf dem Fluss, Flößer ihre Flöße stromab manövrieren. Und es regnet. - Das Japanische kennt viele Zeichen für Regen, etwa auch eins mit der Wortbedeutung: Mairegen.
Durchaus vertraut ist der japanischen Kunst die Methode, innere, seelische Befindlichkeit mit Hilfe der Beschreibung äußerer Gegebenheiten darzustellen. Regen, Nebel und Frost, jeweils in ihrer fein erfassten Phänomenologie, bieten einen reichen Vorrat an Möglichkeiten zu formen. Im "Jagdgewehr" von Yasushi Inoue schaut etwa der Schriftsteller, nachdem sich ihm das seelische Drama einer Dreiecksbeziehung in drei Briefen - von Tochter, Ehefrau und Geliebter desselben Mannes - geoffenbart hat, "in die Dunkelheit des kleinen, dicht bewaldeten Gartens hinunter".
Auch heute noch sieht man Flöße und Flößer auf den japanischen Flüssen, die im übrigen stets durchwegs reguliert sind und das Aussehen von Kanälen haben. Öfter ist dabei seltsamerweise der ursprüngliche Schwung der Ufer erhalten geblieben, und sieht man Radfahrer mit aufgespannten Schirmen im Regen über eine der vielen, charakteristisch gebogenen Brücken fahren, fühlt man sich bald an Hokusai, an Hiroshige erinnert.
Scheint die Sonne, und sie scheint südländisch stark hier, geht die Japanerin meist behütet oder eben unter einem aufgespannten Schirm.
Im Briefkasten meiner Wohnung hier finde ich pünktlich alle vier Wochen den farbig gedruckten Prospekt eines Callgirl-Ringes vor, der mir mit freizügigen Fotos seine Dienste offeriert. - Von diesen bunten Fotos zu den Schilderungen der Sei Shonagon im "Kopfkissenbuch" ist es ebenso weit wie von den Trottoirs der endlosen Großstadt zu den gepflegten, aber ganz exklusiven Gärten der Heian-Zeit.

über den Autor:
Peter Rosei ist 1946 in Wien geboren, wo er als freier Schriftsteller lebt. Reisender. Erhielt zahlreiche Literaturpreise u.a. den Kafka- und Wildgans-Preis. Zuletzt, 2002, kam im Droschl Verlag sein "Album von der traurigen und glücksstrahlenden Reise" heraus.Anmerkung der Redaktion:
Dem an Japan, den Japanern und ihrer (Lebens-)Kultur Interessierten rät Peter Rosei zum Besuch des zur Zeit im Wiener Stadtkino laufenden Filmes "Nobody Knows - Dare mo shiranai", einem Film des japanischen Regisseurs Kore-eda-Hirokazu. Der Film, der das Leben von vier Kindern beschreibt, die allein in der Wohnung zurückbleiben, als die Mutter eines Tages nicht mehr nach Hause kommt, wurde in Cannes 2004 mit dem Preis "Bester Darsteller" ausgezeichnet.
Bleibt zu hoffen, dass der Film bald auch den Weg in ein Grazer Kino findet.

Verfasser/in:
ausgewählt von Karin Tschavgova
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