30/10/2005
30/10/2005

Grazer Urbanität - von Wilhelm Hengstler

Ein Grazer, der ins Cafehaus gehen, oder eine wirklich erstklassige Theateraufführung sehen will, muss nach Wien fahren.
Als das Operncafe noch „Columbia“ hieß war es zweifellos der Treff für die schönsten Mädchen von Graz. Es gab damals noch mehr Cafes: Das Kaiserfeld; das Nordstern über dem Hauplatz; das Herrenhof, in dem Schach gespielt wurde, das Thalia mit den Flamingos und schließlich das Cafe Europa in der Herrengasse, zu erreichen über eine leicht geschwungene Freitreppe. Dann kaufte die Firma Brühl „das Europa“ als Kleiderlager, und der Cafehausbetrieb fand nur mehr nach Maßgabe des Möglichen in einem Teil der Räumlichkeiten statt. Das Ende war abzusehen, und ich erlaubte mir die erste meiner überflüssigen kulturpolitischen Erregungen. Der damals schon zuständige Stadtrat Strobl sollte sich später mit dem „Dom im Berg“ oder dem „Kunsthaus“ als Fan harter Architektur outen. Aber in der sich anbahnenden Zerstörung sozialer Architekturen sah er kein besonderes Problem.

Was haben „der Brühl“, das Schließen des „Europa“, Strobls Gleichgültigkeit und die Tatsache, dass man an der „Columbia“ vorbeischlendernd die schönsten Mädchen sah, mit Architektur oder Stadtplanung zu tun? Zum Beispiel gab es diese teure Uniform, ohne die besagte Columbia-Schönheiten praktisch unerreichbar blieben. Erhältlich war sie eben beim „Brühl“. Sie bestand aus einem Trachtensakko aus Wildleder, besser noch ein Daks-Sakko, dazu ein blaues Hemd, Jeans und schließlich englische Treter der Firma Church, mit deren Fersen- und Absatzplättchen sich selbstbewusst durch die Altstadt klappern ließ. Breitling oder Rolex am Handgelenk. Diese Kostümierung gesellschaftlicher Vorbilder bzw. Opinionleader drückt mit ihrer Mischung aus importierter Internationalität und Volkstümlichkeit die dem Grazer eigene, traditionelle Verständnislosigkeit für alles Urbane aus. Der Grazer ist kein Städter, sondern primär Steirer, das heißt Landbewohner beziehungsweise –ei.

Ein gutes Cafehaus definiert sich durch jedwede Abwesenheit von Musik, noch besser von Kunst überhaupt und unerschöpfliche Toleranz. Guter Kaffee und Zeitungen sind im Vergleich dazu eigentlich nur die Draufgabe. Es war bezeichnend, dass das beste Grazer Cafe zu einer Zeit, als die „EU“ sich noch im Larvenstadium der „Montanunion“ befand, „Europa“ hieß. Am späteren Vormittag konnte man dort die Landtagsabgeordneten von gegenüber, manchmal sogar den „alten Krainer“ selbst treffen; daneben Pärchen aus der Provinz, die einander die Hände befeuchteten, weiters Damen, die eine Tratsch- und Kaffeepause zwischen Einkaufsbummel und Kochen einlegten; ältere Herren, die die Welträtsel mittels Zeitungslektüre lösten, Vertreter natürlich und jugendliche Intellektuelle auf ihrem Weg in den Abgrund. Im großen Hinterzimmer spielten Iraner, damals eine große Grazer Community, Billard. Solange man den Burgfrieden einhielt, war jeder - gleich welcher Rasse, Nationalität oder Haarfarbe: selbst grün wäre erlaubt gewesen - gleichberechtigter Gast. Weil der Inhaber des „Promenade“ vor dem Umbau Schwarzen keinen Zutritt erlaubte, zählte es trotz interessanter Lage schon damals nicht zu den Grazer Klassikern.

Ungefähr mit dem Ende des „Europa“ begann man im Rahmen dieser Grazer bzw. Steirischen Tradition, Menschenströme und soziale Architekturen aus dem regionalpolitischen bzw. kulturellen Bewusstsein auszuscheiden und der scheinbar unsichtbaren Hand des freien Marktes zu überlassen. Als nächstes war das „Herrenhof“ dran, dann das „Nordstern“, schließlich das „Kaiserhof“, und jetzt scheint auch das akzeptable „Erzherzog Johann“ gefährdet. In diese appetitreduzierende Tradition des Ausscheidens gehört auch die mutwillige Lahmlegung des „Opern-Kinos“, dessen scheinbar minderwertige Raumnutzung durch Lichtspiel der Eigentümer Land von der scheinbar hochwertigen durch die Regale eines „Zielpunkt-Marktes“ ablösen ließ.

In gewissem Sinn behielt Strobl Recht. Heute gibt es mehr Lokale, die sich die Innenstadt mit Modeketten und -geschäften teilen, als es jemals Cafehäuser gegeben hat. Musik liegt in ihnen ausnahmslos in der Luft und bis zum Überfluss kostengünstige Kunst hängt an ihren Wänden. Aber trotz aller Anstrengungen der Betreiber bleiben Geschäfte und Lokale ununterscheidbar. Vermutlich, weil sie schon wieder sperren, noch bevor man sich an sie gewöhnt – wenn man das denn überhaupt wollte. Dieses massive Überangebot wird zweifellos durch eine preiswerte Reservearmee aus Studenten und Universitätsabsolventen ermöglicht, die keine vernünftigere Arbeit finden. Auch hier ist die Erinnerung an das „Europa“ erhellend. „Herr Paul“ war trotz schmerzender Knie eine vom „Europa“ untrennbare Institution, ungleich beeindruckender als die jugendlichen Bedienungen derzeit, ungeachtet wippender Brüste oder langer, grüner Schürzen. Er behandelte nicht alle Gäste unterschiedslos höflich, er borgte einem sogar Geld und es war undenkbar, außer im Zustand schwerster Trunkenheit, dass man ihm gegenüber im „Europa“ laut wurde.
An der alten Grazer Tradition des Braindrains, nach der die qualifizierten Studienabgänger schleunigst die Stadt verlassen und so ihren Beitrag zu deren Provinzialität leisten, hat sich dagegen wenig verändert.

Auch die als Verkäuferinnen getarnten Maturantinnen in den Kleidergeschäften erreichen kaum das Format der legendären Stoffverkäufer im „Sewera“ oder im „Seiden und Wollkönig“. Beide Geschäfte lagen nahe dem „Europa“ und sind ebenfalls seit langem verschwunden. Diese Verkäufer begutachteten kenntnisreich die Schnitte und Vorlagen aus Modeheften wie „Brigitte“, berieten geduldig, breiteten die teuersten und herrlichsten Stoffe aus und suchten dann auch noch den geeigneten Futterstoff. Heute ist Karl Lagerfeld in irgendwelchen Privatsendern Statthalter für diese Kultur. Wer aber Stoffe kaufen will, muss diese Halle irgendwo in Oberandritz aufstöbern, wo er dann, gemeinsam mit einfachen, zähen Frauen, die noch nähen können, dem Retro-Charme eines imaginären Ostblocks ausgesetzt ist.

Bis in die Siebzigerjahre hinein fiel den Besuchern an Graz stets die gewisse Ärmlichkeit oder Bescheidenheit auf. Das hatte durchaus Charme. Der Charme der Stadt bestand aber auch darin, dass die Entfernungen in ihr leicht mit dem Fahrrad zu bewältigen waren. Aber ein Fremder, der von der Südautobahn kommend in den Norden der Stadt will, ist nur zu bedauern. Graz wird zum Alptraum, in dem an sich einfache Himmelsrichtungen zu Phantasmen eines Schizophrenen mutieren.

Der Architektur-Konsument lebt in der Vergangenheit, er hat sich an das Gebaute gewöhnt. Der Architekt lebt in der Zukunft, er will was Neues bauen. Lange Zeit basierte die Selbstdarstellung von Graz auf dem Geschmack der Uniformierten. Entsprechend standen Bürgerhäuser, wie das „gemalte Haus“, das „Haus Luegg“, unser Zuckerbäcker-Rathaus (oder eben die feschen Grazerinnen) im Zentrum der Inszenierung. Dieses, dem 18. Jahrhundert verbundene Selbstverständnis (das 19. war ja hinsichtlich der Städteplanung ziemlich modern), hat sich allem Anschein nach geändert. Im „Kunsthaus“ z.B. stehen das Modell des „Kunsthaus“ selbst, dann der „Dom in Berg“, die „Acconci-Insel“, das „Palmenhaus“, die „Stadthalle“ und als einziger, älterer Bau die Oper von Helmer und Fellner. An dieser Modernität darf gezweifelt werden. Nicht nur die Modelle sind durch Glasstürze voneinander isoliert, die Originale selbst sind isolierte Ausstellungsstücke einer Biedermeierinszenierung, kaum durch Menschenströme miteinander verbunden. Der Karmeliterplatz, durchaus geeignet für politische Schlägereien, und nicht ohne durch den Bau der Tiefgarage den Wert des ÖVP-Palais enorm zu erhöhen, wurde zum kahlen Aufmarschgelände veredelt. Ein weiteres Beispiel ist der Jakominiplatz, bei dem die Chance den Hauptplatz durch ein wirklich urbanes Zentrum zu konkurrieren, nur halbherzig (siehe auch Opernkino) genützt wurde. Das Gelände rund um die Messe wird planlos in Filetstücken verkauft, was jedenfalls den Konkurs der Messegesellschaft aufschiebt und damit die Weiterzahlung der Vorstandsgehälter für einige Altpolitiker sichert. Im Gegenzug entstehen große Märkte außerhalb des eigentlichen Stadtgebietes.

Die bedrohlichsten Geschichten enden wie sie anfangen: Daran ändern auch das „Erzherzog Johann“, das akzeptable „Weitzer“ oder der Newcomer „Cafe Kaiserfeld“ (leider Kunst) wenig. Ein Grazer, der ins Cafehaus gehen oder Urbanität erleben will, muss nach Wien fahren.
WILHELM HENGSTLER ist Filmregisseur und Autor, ausgezeichnet mit dem Manuskriptepreis 2004, lebt in Judendorf/Strassengel bei Graz.

Verfasser/in:
ausgewählt von Karin Tschavgova zum herbstaktuellen Thema "Stadt und davor"
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