11/12/2005
11/12/2005

Abu Bakr mit Markierungspfahl auf dem Ziziberg

Muhammad Müller: Rettungskomplett, 2004

E. d Gfrerer vor Fischkalter

Ruth Brandstätter und Norbert Prettenthaler in E. d Gfrerers Schiffbruch auf hoher See

Abu Bakr auf dem Ziziberg – Zwei Busreisen zur Kunst

Der Ziziberg, eine Erhebung zwischen St. Josef in der Weststeiermark und Frauental an der Laßnitz, zeichnet sich zwar durch bemerkenswerte landschaftliche Qualitäten aus, ist aber nur sehr schwer zu finden und daher nicht eben prädestiniertes Ausflugsziel. Im Jahr 1425 nach islamischer Zeitrechnung – und nach der uns vertrauteren im Jahr 2004 – legte der Konzeptkünstler Muhammad Abu Bakr Müller in der Niederschrift zu seinem Projekt basis.tunnel besagten Ziziberg als einen von mehreren Markierungspunkten auf einer kerzengeraden Linie zwischen Graz und Slowenj Gradec fest.
Barbara Baur-Edlinger und Joachim Baur funktionierten die interdisziplinäre Werkstadt Graz kurzfristig in einen Reiseveranstalter um und per Bus ging es entlang des konzipierten basis.tunnel von Graz über den Ziziberg und den Radlpass nach Slowenj Gradec, also von Graz über slowenisch Graz und zurück nach Graz, bei Überwindung von ungefähr 210 Kilometern.
Nach Muhammad Müllers Konzept wurden inzwischen Tunneleingänge in den Kellern der Werkstadt Graz und der Galerie von Slowenj Gradec angelegt, die Länge des geplanten Tunnels in gerader Linie beläuft sich somit auf exakt 67.900 Meter, wobei dessen Querschnitt so geplant ist, dass darin „Menschen einander begegnen und Lastesel umdrehen können“. Nach den Berechnungen der Mindestanforderungen für die Grabungen würden bis zur Fertigstellung des basis.tunnel 5658 Jahre vergehen, innerhalb nur eines Jahres dagegen könnte der Tunnel gegraben sein, wenn 10.000 arbeitslose GräberInnen beschäftigt würden. – Wohlgemerkt, basis.tunnel ist ein Konzeptkunstwerk. In seiner Niederschrift hält Muhammad Müller fest, dass „mit der Erforschung der Orientierungslinie, welche in gerader Linie über dem basis.tunnel verläuft“ auch die „Illusion der multikulurellen Identität Europas zu zerfallen“ beginnt, „von der wir so weit entfernt sind wie die Eingänge des basis.tunnel durch Arbeitszeit“. Als Grundausrüstung für TunnelgräberInnen stellt Müller ein Multiple, genannt rettungskomplett, zur Verfügung, ein physisches Dokument des Konzepts.

Seminarraum Reisebus
Promifiziert wurde die illustre Reisegruppe während dieser Markierungsfahrt durch den Kunsttheoretiker Bazon Brock, der während der Fahrt einen Vortrag über Prinzipien des Tunnelwesens und der Kanalisierung hielt. Demnach basierte die antik römische Kulturisierung – als hypothetischer dritter Gründungsmythos nach Äneas und Romulus & Remus – auf der Huldigung der „ersten römischen Göttin Cloaca maxima“. Wer seine Abwässer kanalisiert, setzt den Grundstock für kulturelle und damit soziale und ökonomische Progression, also Prosperität. Ziel aller Kulturen sei es nach Brock, „Scheiße zu Gold zu machen“. Dem allerdings könnte man ein brasilianisches Sprichwort als Sentenz entgegenhalten: Wäre Scheiße Gold wert, dann hätten die Armen keinen Arsch. In Weiterführung von Brocks Hypothese allerdings wäre diese Sentenz nur für einen relativ kurzen Zeitraum relevant, längerfristig dagegen, und vielleicht nach besagten 5658 Jahren, sollte sich diese Wertvorstellung wiederum ins Positive kehren. Zwei Beispiele für kulturelle Ambivalenz: Im Glauben der Ägypter wurde der vermeintlich sich aus der Dungkugel regenerierende Skarabäus zum Symbol der Auferstehung. 1844 dagegen und nach seiner letzten Reise durch Deutschland erzählt der im Pariser „Exile“ lebende Heinrich Heine im Versepos, wie ihm die Göttin Hammonia (Hamburg) den Krönungsstuhl Karls des Großen wies, unter dessen Polsterkissen sich eine runde Öffnung befand und darunter ein Zauberkessel, in dem der Reisende die Zukunft schauen möge: „Was ich gesehen, verrate ich nicht,/ Ich habe zu schweigen versprochen,/ Erlaubt ist mir zu sagen kaum,/ O Gott! Was ich gerochen! – – – Deutschland. Ein Wintermärchen.

Markierungspunkt
Nach einigen Umleitungen des Buschauffeurs gelingt es Muhammad Abu Bakr Müller schließlich, den auf der Orientierungslinie befindlichen Markierungspunkt auf dem Ziziberg mittels mobilem GPS-Navigationsgerät zu definieren. Bazon Brock, Joachim Baur und Müller schlagen einen Pfahl in die grüne Wiese und besprühen dessen oberes Ende und versehentlich auch sich selbst mit handelsüblichem Markierungsspray in grellem Pink, während sich Franz Xaver vom medien.kunstlabor eine Selbstgewuzelte ansteckt und nebenher erzählt, er hätte erst kürzlich mit dem Rauchen begonnen, um militante Nichtraucher zu provozieren. – Dann weiter nach Slowenj Gradec zur Besichtigung des gegenüber Graz liegenden Tunneleingangs.
Wie bei Busreisen üblich, gerät die Rück- zur Butterfahrt: Zu einmaligen Sonderpreisen werden Kunstwerke angeboten, darunter Joachim Baurs Jochen-Rindt-DVD (2005) mit Beiträgen von Gottfried Bechtold, Hans Hollein, Josef Klammer u.v.a. oder Baueimer zum rettungskomplett von Muhammad Müller. Entsprechend dem spitzfindigen Reisekonzept bleibt nach Ankunft in Graz die Frage, ob wir nun physisch oder gar nur ideel zwischen den beiden Graz unterwegs waren ... Informationen zu basis.tunnel auf www.mueller.at

Zweite Reise zum einzigen Ort
Im Rahmen der diesjährigen Künstlerklausur im Stift St. Lambrecht gestaltete der Grazer E. d Gfrerer eine raumfüllende Installation mit dem Titel Schiffbruch auf hoher See im Fischkalter des Stiftes. Der luftige Pavillon im klassizistischen Stil ist ein architektonisches Relikt, das auf die Passion Pater Coelestin Sodermanns zurückgeht, der hier im 19. Jahrhundert eine Fischzucht betrieb. Der Bruder des Künstlers, Markus Gfrerer, organisierte eine nächtliche Busreise von Graz nach St. Lambrecht, der ebenfalls ein Konzept zugrunde lag: Während der Fahrt durch die nächtlich unsichtbare Steiermark las Norbert Prettenthaler aus Thomas Stangls Roman Der einzige Ort (Droschl 2004): Im Auftrag der britischen National Geographic Society und der französischen Société de Géographie macht sich der schottische Offizier Alexander Gordon Laing zu Anfang des 19. Jahrhunderts auf die Suche nach der sagenumwobenen goldenen Stadt Timbuktu. Zunächst aber wird die Expedition durch den Aufenthalt beim britischen Konsul in Tripolis verzögert, wo sich Laing in den Arrangements um Passierscheine, Audienzen bei arabischen Potentaten und der Kalkulation von Bestechungsgeldern verstrickt. Ganz anders dagegen gestaltet sich die Suche nach Timbuktu bei René Caillié, der sich mittel- und auftragslos auf den Weg macht. Er lernt arabisch und erdichtet sich, als Muslim verkleidet, eine rührende Lebensgeschichte, um sein Stammeln in der fremden Sprache zu rechtfertigen. Er bleibt Außenseiter in den Karawanen, verzeichnet nur halb verstandene Namen von Wüstensiedlungen und erstellt eine irreale Kartografie des so fremd bleibenden Landes.

Die Orgel und der Fischkalter
Während die einen nun im Vertrauen auf die Ortskenntnis des Buschauffeurs per realer Reise und fiktiver Reiseerzählung nach St. Lambrecht unterwegs sind - der Fahrer aber wiederum vertraut der computergenerierten Frauenstimme seines GPS-Routers, die uns anstatt sie zu umfahren, mitten durch die goldene Stadt Judenburg leitet, in der erstmals in Innerösterreich Goldmünzen geprägt wurden -, liest in einem Café in St. Lambrecht bereits Ruth Brandstätter aus dem Roman von Thomas Stangl – am anderen Ort, an anderen Stellen der Erzählung.
Nach Ankunft der Busreisenden schließlich werden Brandstätter und Prettenthaler im Fischkalter und inmitten von Gfrerers Installation Schiffbruch auf hoher See abwechselnd lesen. Es ist finster und von der weitläufigen Klosteranlage sind, von welchem Standpunkt aus auch immer, nur Teile auszumachen. Kalter Wind weht und in alten Ölfässern brennen Holzfeuer.
Als Material für seine Installation verwendete E. d Gfrerer die Überreste von Pfeifen und Basskästen der ehemaligen Stiftsorgel, die im für eine Orgel jugendlichen Alter von nur hundert Jahren abgebaut wurde, um durch ein neues Instrument ersetzt zu werden. Die Versuchsorgel, ein Luxemburger Instrument in unkonventioneller Technik gefertigt, hatte nicht gehalten, was vom Orgelbauer versprochen worden war.
Nach mitternächtlicher Ankunft auf dem Grazer Lendplatz bleibt noch, naheliegend und nah gelegen, die unvermeidliche Nachbesprechung im Exil in der Josefigasse zu erledigen.

Verfasser/in:
Wenzel Mracek
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16. + 17.11.2023
 
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