25/12/2005
25/12/2005

Lesung von Wenzel Mracek im Rahmen des GAT-Festes am 22.12.2005, mit Musik von Hannes Kawrzka, Saxophon

v. li.: Wenzel Mracek und Hannes Kawrzka

v. li.: Wenzel Mracek und Hannes Kawrzka

Schwitters in der Makulaturlawine. Von Männern und Müll. Teil 1
Von Wenzel Mraček

Der Verfasser las den Text auszugsweise im Rahmen des vorweihnachtlichen GAT-Festes am 22.12.2005 im Atelier Expositur, Glacisstraße 9, Graz.

Schauplatz Hirn-Kastell, innen: Lange nichts und sein Echo. Neben dem Nichts besteht die Vorstellung, dieses Nichts sei die Manifestation keiner Idee, die manifestierte Keine-ldee. Erster Ansatz einer Verflechtung zwischen dem Nichts und der Vorstellung davon, der manifestierten Keine-ldee, ein Hin-und-Her, eine Oszillation. Einsetzen der Modulation unter Beigabe irgendwelcher Bruchstücke von Erinnerung: Durch Unschärfen und Rückkoppelungen, aus vermindertem Kontrollwillen entstanden, erwächst Substanz. Zuerst eine Ahnung, gleich darauf ein Kalauer: Hirn-Kastell. Dabei bleibt es vorerst. Der erste Durchlauf ist absolviert, wir sind wieder am Anfang, nichts zu gebrauchen und davon nichts zu verwerfen, abfallfrei.

Soll etwas entstehen, muss bis zum fertigen Endprodukt auch ordentlich weggeschmissen werden. Ordentlich heißt einmal in mehr oder weniger großen Mengen, andermals gewissenhaft. Andermals, zum Beispiel, kann als Wort weggeschmissen werden und zwar im allgemeinen. Hier aber, und im speziellen von mir, nicht. Ich stelle keine allzu hohen Ansprüche und erkläre andermals als noch ganz brauchbar (naheliegend ist die Erinnerung an Anderntags(1), das Suhrkamp auch schon einmal etwas wert war). Und wenn auch weggeschmissen, in meinem Fall handelte es sich um ein ideelles, weil ohne sichtbare Müllerzeugung, Wegschmeißen. Noch vor wenigen Jahren wäre wenigstens Altpapier angefallen. Korrekturflüssigkeiten (den anrüchigen Klang bitte mitzudenken!) hätten sich ergossen, jetzt aber funktioniert die Beseitigung durch Knopfdruck, also schon fast so, als hätte sich alles nur in Gedanken abgespielt – so jedenfalls kommen wir dem Sein an sich näher, gleichzeitig bleibt der Kern der Sache in kaum erreichbarer Ferne . Generell muss ich mich mit diesem Text insofern identifizieren, als ich bei aller uneingestandenen Unsicherheit was Form und Inhalt betrifft, ihn jedenfalls als alles andere als Müll verstehe, jetzt und vielleicht auch noch einige Zeit nach seiner Entstehung, amen. Wir befinden uns hier aber noch nicht am Ende, darf ich doch entsprechend dem Litaneicharakter ein Amen setzen wann und wo, Beschränkungen verordne ich mir schließlich selbst, denn: ich bin mein eigener Hirn-Kastellan, Hausmeister im Oberstübchen, gleichfalls nahezu stets Meier, und ich verweise einerseits auf Matthias Lexers Mittelhochdeutsches Taschenwörterbuch betreffend Meier, andererseits gebe ich zu bedenken: was haben wir daraus gemacht!?

Ich habe das Wegschmeißen angesprochen: Zusammenfassend gilt, wo gehobelt wird, da fallen Späne. So nämlich sieht der Einbuchschriftsteller Mario Rotter(2) die Situation in Inland/Endlager. In seinem Fall gilt das Hobellied nach wie vor, denn bei jenen Spänen handelt es sich um die Existenz respektive das Leben des Individuums, das der Gesellschaft eben – Schicksal hin oder her – abgefallen ist. Rotter jedenfalls ist es gelungen, Müll in jeder Form als eine Bedingung täglichen Lebens darzustellen, die die nötige Spannung (thrill) induziert, um angesichts des Verfalls zwar nicht wie Phoenix, ... aber das, ich bitte Sie, sollte doch selbstverständlich sein und bedarf keines pathetischen/piet(2) ätlosen Nachrufs. Gleichfalls ist es müßig, auf die Parallelitäten zwischen Literatur und Wirklichkeit, ... etwa schon bei Bachmann/Bayer und viel früher schon bei Goethe hinzuweisen.

Dem Müll ist eine auf mich gekommene, an sich recht unspektakuläre und doch skurrile, Geschichte zu verdanken. Eigentlich sind es mehr die handelnden Personen und weniger deren Erlebnisse, die mich faszinieren: Zu einer inzwischen aufgelassenen Gemeindemülldeponie gehörten neben anderen auch Männer mit so klingenden Namen wie Melker Louie, Meindl Molotow und einer, dessen Namen ich im Gegensatz zu den anderen hinter dem originellen Pseudonym Müller verbergen möchte. Außerdem war da noch Ans Eier, der erste Sacktelefonträger in der Runde, der seinen allgemein gebräuchlichen Rufnamen dem Umstand verdankte, dass zu jener Zeit die zwar noch in Entwicklung befindlichen Funklöcher teils doch schon ganz gut ausgeprägt waren und die Vorstellung des sich telefonisch meldenden Hans Meier zumeist in der Form Ans Eier zustande kam. – Hiermit aber verabschieden wir Ans Eier wieder aus dieser Geschichte, gibt es doch sonst kaum Merkwürdiges über ihn zu erzählen.
Diese Männer also waren in jener Deponie nicht etwa von der Gemeinde beschäftigt, nein, sie gingen einer Beschäftigung nach, die wir aufgrund diverser Erzählungen irgendwann Schuttebohren nannten, das heißt, sie suchten den stets neu angelieferten Müll nach Brauchbarem ab. Interessant zu erwähnen ist, dass einzig Melker Louie auf den Erlös aus dieser Beschäftigung wirklich angewiesen war, betrieb er doch einen stillen (d.h. inoffiziellen) Handel mit Kleinfahrzeugen von inhärentem Müll- oder Semimüllcharakter, weil von ihm selbst, zum Teil oder ganz, aus Beständen der Deponie assembliert. Im übrigen stellte Louie, Autodidakt in beinahe jeder Beziehung, für den Verkauf beziehungsweise für die Reparatur jener Kleinfahrzeuge auch Rechnungen aus, die folgendem Muster entsprachen:

Bremshebel S 140.-
Gasseil S 100.-
Glühbirne S 20.-
Arbeit S 341.-
Summe + 18% Mehrwertsteuer S 998.-

Unterschrift Melker Alois

Auf einem dieser Fahrzeuge, einem dreirädrigen Kabinenmoped für Fahrer und Beifahrer, die darin also nebeneinander saßen, ging er auch seiner Nebenbeschäftigung nach, dem Zeitungskolportieren, worauf sein zweiter Rufname zurückzuführen ist, der Zeitungs-Cole-Porter. Der Louie war ein kleiner, extrem o-beiniger Mann mit Ganzjahresbräune, die er dem Schuttebohren und dem spärlichen Wassereinsatz verdankte . Eines Tages nun war es dem Louie gelungen, einem verschrotteten LKW, in einer dem Organspenden ähnlichen Demontage, das Getriebe zu extrahieren. Irgendwie schafften er und der hünenhafte Meindl Molotow es, das Stück auf die Beifahrerseite des dreirädrigen Häuslmopeds zu hieven. Louie stieg auf der anderen, der linken Seite ein, fuhr los – und kam mit seinem Gefährt in der ersten Linkskurve auf der Beifahrertür zu liegen. Die Szene erinnerte an einen nie gedrehten Film mit dem Titel Mad Max IV – Auf dem Lande.

Von Meindl Molotow sei hier nur wiedergegeben, wie er sich seinen Namen verdiente: Der Hüne Molotow – Molotow, was nichts mit Wjatscheslaw Michailowitsch, eigtl. Skrjabin, zu tun hatte, wohl aber mit dem nach ihm benannten Cocktail, was weiters aber wieder nichts mit Brand oder Feuer zu tun hatte, wohl aber mit einer gewissen unsubtilen Gewaltanwendung – Meindl war sein beurkundeter Familienname – hatte die Angewohnheit, so sich ein Teil nur schwer oder gar nicht demontieren ließ, mit einem Vorschlaghammer auf diesen einzuschlagen, bis er „von selbst", wie Meindl Molotow sich ausdrückte, abfiel. Mehr nicht.

Nun zur avisierten Geschichte von Müller: Von Beruf war Müller ORF-Techniker mit einem schwer zu verheimlichenden Hang zur Knausrigkeit, auch Kautzigkeit. Selbstredend wurde er von seinen Deponiekollegen „der Direktor“ genannt. Entsprechend seiner Kompetenz legte er sein Augenmerk primär auf entsorgte Fernseh- und Radiogeräte, aber auch bunte Lusterklemmen gehörten zu seinem Ressort. Und ich schwöre, ich habe es mit eigenen Augen gesehen, der Mann besitzt heute noch an die zehn Stück alter, achtzig Zentimeter hoher Waschpulvertrommeln, bis obenhin voll mit jeweils ungefähr ein Zentimeter großen Lusterklemmen – nicht gelogen! Dabei steht unbestreitbar fest, diese Menge Lusterklemmen – zum Teil nicht funktionstüchtig, weil fragil von Natur und oft nach dem Ersteinsatz nicht mehr zu gebrauchen – kann der beste ORF-Techniker nicht, und schon gar nicht gewinnbringend, in stiller Heimarbeit verpfuschen. Ich vermute daher, dass es sich bei dieser Art des Sammelns um eine für nicht Initiierte unverständliche Form von Meditation handelte, um eine Müllmeditation unter Verwendung eines Schuttmandalas oder, was den sich andauernd wiederholenden Vorgang der Demontage und des Sortierens betrifft, um ein Müllmantra. Und in der Tat erschien mir Müller stets als zwar skurril, aber ausgeglichen. (Ende meiner Sympathie für Müller, den Vater).(1) Ich schweife ab und mache dabei aufmerksam auf die Vielfalt der Wirklichkeiten. Andererseits war nach Wolfgang Bauer „...das Thema immer schon wurscht", wie er auf die Frage nach dem Zusammenhang seines Dramas „Menschenfabrik", aufgeführt im Steirischen Herbst 1996, und dem damaligen Herbst-Thema antwortete. Die Methode jedenfalls entspricht der der Müllvermeidung und in der Folge müsste ich mich auch als Kandidat für den meines Wissens immer noch existierenden Karl-Kraus-Preis verstehen, der für das immerwährende Aussetzen von Neuveröffentlichungen verliehen wird. Vgl. hiezu auch Jochen Hörisch. Kopf oder Zahl. Die Poesie des Geldes. Frankfurt a.M. 1996. S. 275f. worin der Autor, Literaturwissenschafter, einen ähnlichen (optionalen?) Vorschlag macht, nämlich für publizistische Enthaltsamkeit ein monatliches Salär von DM 2000.- auszustellen. Es könnte sich hierbei aber auch um eine trickreich in Umlauf gebrachte Idee Gert Jonkes handeln ... wie gesagt, die Vielfalt der Wirklichkeiten.

(2) Um Missverständnisse auszuräumen: Ich mochte den Louie, er war mir außerordentlich sympathisch. Ich will ihn hier nicht verunglimpfen, sondern beschreiben. Und ich übertreibe nicht.
Teil 2 folgt am Sonntag, den 01.01.2006

Wenzel Mraček, geb. 1962 in Klagenfurt, Kunsthistoriker, Kulturredakteur, Autor, Seefahrer, lebt in Graz.
Literatur: W.M., Simulierte Körper. Vom künstlichen zum virtuellen Menschen. Wien, Köln, Weimar 2004 (Böhlau, www.boehlau.at).

Verfasser/in:
Von Wenzel Mracek
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