10/12/2006
10/12/2006

Im Rahmen der Kinder- und Jugendworkshops in Oberwölz und Deutschlandsberg, veranstaltet im Frühjahr 2006 von der Literaturwerkstatt Graz, entstanden zahlreiche Geschichten zum Thema "Meine Stadt"......

sonnTAG 158

Im März und April 2006 haben sich 13 Jugendliche im Alter von 8 bis 14 Jahren in zwei Literatur-Workshops in Oberwölz und Deutschlandsberg mit ihrem Lebensumfeld auseinandergesetzt. Zum Thema "Meine Stadt" sind Geschichten entstanden, die einen Einblick in die Gedanken-, Wunsch- und Fantasiewelten von Jugendlichen geben.
GAT veröffentlicht nun, mit freundlicher Genehmigung der Literaturwerkstatt Graz, an vier aufeinander folgenden sonnTAGen eine kleine Auswahl.
Das Buch mit den gesammelten Geschichten, die im September 2006 von den jungen AutorInnen im Literaturhaus Graz gelesen wurden, erhalten Sie im Kinderbüro Steiermark oder bei der Jugend-Literaturwerkstatt Graz (siehe LINK am Ende dieser Seite)."Elfen" - von Iris Christina Zechner, 12 Jahre

Der Wind trieb tausende von Blättern vor sich her. Amys Haar umspielte ihr schmales Gesicht und wehte in ihre großen Augen. Nervös strich sie einzelne Strähnen hinter die Ohren. Sie blickte nur auf den Boden, während sie den Weg entlangging. Nach einigen Minuten blieb sie stehen und kletterte auf die schmale alte Steinmauer vor ihr. Moos wuchs in den Ritzen und überall waren Krustenflechten zu sehen. Auf einer Seite der Mauer befand sich der Weg, auf der anderen ein nicht allzu steiler Hang mit einigen alten Bäumen, deren knorrige Äste mit dem Wind um die Wette heulten.
Doch Amy nahm dies alles nicht wahr. Stur richtete sie den Blick nach vorne und starrte auf die Berge, die etwas weiter hinten lagen. Ihr viel die kahle Stelle, an der keine Bäume wuchsen, ebenso wenig auf wie die Wolkendecke, die sich über den Himmel gelegt hatte. Sie hörte die Kirchturmuhr schlagen. Amy zählte die Schläge nicht. Körperlich war sie hier, doch geistlich befand sie sich anderswo. Ihre Gedanken wanderten zurück zu jenem Zeitpunkt, an dem alles begonnen hatte.
Vor zwei Stunden war sie hier mit ihrer Mutter angekommen. Sofort hatte sie sich über das viele Gepäck aufgeregt, das diese mitgenommen hatte. Drei Riesenkoffer für ein Wochenende waren schon ein bisschen viel. Die Mutter aber hatte beleidigt reagiert und ihre Tochter angeschnauzt: "Wärst du eben nicht mitgekommen!" Amy hatte geschwiegen. Es war nicht ihre Idee gewesen, hierher zu fahren.
Zwanzig Minuten später war sie die Stadt (Stadt?) erkunden gegangen, das Rathaus und die Schule hatte sie gesehen und noch einiges mehr. Auch an einer großen Wiese war sie vorbeigekommen. Gut, die Straßen hier waren kaum befahren und die Luft war rein und klar, doch das war auch schon so ziemlich das einzig Besondere, was die Stadt zu bieten hatte, einmal abgesehen von einigen halb verfallenen uralten Gemäuern. Aber ihre Mutter hatte ja auf einen Mutter-Tochter-Trip bestanden. Wenigstens einmal, hatte sie gesagt. Ich seh´ dich ja fast nie, wenn du immer mit deinen Freunden herumhängst.
Amy seufzte tief. Nach ihrem Stadtrundgang hatte sie mit ihrer Mutter einen Streit angefangen; worüber, wusste sie gar nicht mehr. Doch danach hatte es ihr gereicht. Sie hatte sich das nicht mehr bieten lassen wollen, dass man ständig über sie herzog, und sie war abgehauen, hierher auf die Mauer. Nun saß sie da und wartete darauf, dass ihre Mutter kam und sie ausschimpfte.
Nach einer Viertelstunde wurde es langsam ungemütlich auf dem kalten Stein. Der Wind war stärker geworden. Amy zog ein dickes Haarband aus ihrer Hosentasche und band ihr Haar zusammen. Kalt war es hier. Sie zog die Beine an die Brust.
Da hörte sie ein seltsames Klingen. Noch nie hatte sie Ähnliches vernommen. Das Klingen wurde lauter. Amy hob den Kopf. Langsam erhob sie sich. Woher kam dieses Geräusch? Lange Zeit, so kam es ihr vor, stand sie starr an einem Fleck. Der Himmel verdunkelte sich. Noch andere Klänge fügten sich dem ersten hinzu und verschmolzen allmählich zu einem einzigen Ton, dessen Schwingungen die Mauer erzittern ließen. Amy mühte sich verzweifelt, nicht umzufallen, doch vergebens. Sie fiel von der Mauer. Ein kurzer Moment des Schmerzes, dann wurde ihr schwarz vor den Augen.
Dumpfe Geräusche, Stimmen...
Amy blinzelte. Verschwommene Gestalten fügten sich langsam zu einem Bild zusammen. Ihr Mund formte einen stummen Schrei, als sie die wundersamen kleinen Wesen mit den zarten Flügeln erblickte. Sie gaben singende Geräusche von sich und ihre riesigen Fledermausohren wippten im Takt dazu. Amy erkannte, dass es sich hierbei wohl um Elfen handeln musste, die sie vor Jahren in ihren Bilderbüchern angestaunt hatte. Sie versuchte, sich in den Arm zu zwicken, doch als sie die Hand heben wollte, verspürte sie einen stechenden Schmerz, sodass sie sie sogleich wieder sinken ließ.
Schmerz? Das hieß, sie träumte nicht? Das war für den Anfang ihre einzige logische Erklärung gewesen. Die Elfen zogen sich zurück und Amy richtete ihren Oberkörper unter gewaltigen Schmerzen im rechten Unterarm auf. Wo war sie hier? Es kam ihr alles bekannt vor, aber es dauerte eine Weile, bis sie wusste, wo sie sich befand.
Hinter ihr stand die Steinmauer, doch in ihren Ritzen wuchsen herrlich bunte Blumen und die Steine sahen neuer aus. Auch die Bäume erkannte sie wieder, doch nur schwer; schließlich waren sie über und über von Blüten und erfrischend grünen Blättern übersät. Überall summte und blühte es und Schmetterlinge flatterten um sie herum. Der Himmel war strahlend blau. Amy staunte. Auf einmal kam ihr der vorhin so langweilige Platz wunderschön vor.
Sie versuchte aufzustehen, doch sofort eilten zwei Elfen herbei und drückten sie nach unten. Sie waren zwar nur halb so groß wie Amy, hatten jedoch immense Kräfte. Mit festem Griff umpackten sie ihre Schultern. Als sie sicher waren, dass Amy sitzen blieb, verschwanden sie wieder. Die Elfen hatten Gruppen gebildet und unterhielten sich mit Singgeräuschen. Sie waren ihr unheimlich, auch wenn sie eine schöne Melodie ergaben. Nach einer Weile bemerkte Amy, dass sich alles ständig veränderte: Die Blumen wuchsen in atemberaubender Schnelligkeit nach oben, die Blüten an den Bäumen veränderten binnen Sekunden ihre Form und auch die Kleider der Elfen wechselten ihre Farbe immer und immer wieder. Nichts blieb auch nur für einen einzigen Moment gleich - außer ihr.
Die Elfen schienen fertig gesungen zu haben. Sie kamen auf Amy zu. Ihre langen Kleider wehten ihnen nach. Sie bedeuteten Amy mit Gebärden, dass sie sich hinlegen sollte, was sie auch tat. Die Elfen stimmten ein gemeinsames unheimliches Lied an. Sie bekam eine Gänsehaut, als plötzlich alles so blieb, wie es gerade war. Das führte dazu, dass die Baumblüten völlig seltsame, unförmige Gestalten annahmen und die Kleider der Elfen aus vielen verschiedenen Farben bestanden. Amy schloss die Augen. Sie spürte, dass sie hochgehoben und fort getragen wurde. Seltsamerweise tat es gar nicht weh...
Die Elfen legten Amy auf eine weiche Matte. Sie öffnete die Augen und erkannte die Wiese wieder, an der sie bei ihrem Stadtrundgang vorbeigekommen war. Allerdings blühten jetzt überall Blumen, die sich sanft im Wind wiegten, und ein Springbrunnen aus Marmor stand in der Mitte der Wiese. Fröhlich und unaufhaltsam plätscherte das Wasser vor sich hin. Amy verliebte sich sofort in diesen Platz und hätte ihn gern näher betrachtet, doch kaum bewegte sie ihren Arm, verspürte sie einen stechenden Schmerz. Die Elfen merkten das wohl; sie wuselten davon und kamen gleich darauf mit unzähligen kleinen Töpfen und Bechern wieder, in denen sich verschiedenfarbige Cremen befanden. Amy wusste nicht, wie ihr geschah; plötzlich war sie umringt von kleinen Wesen, die sie mit Creme beschmierten. Doch ein paar Sekunden später war alles vorbei. Der Schmerz war weg, Amy konnte sich wieder normal bewegen. Die Elfen verkrochen sich in eine Ecke, gespannt, was nun wohl passierte.
Amy stand auf und bewegte sich vorsichtig in die Nähe des Brunnens. Sie begann, mit dem Wasser zu spielen. Interessiert sahen ihr die Elfen zu. Es war wie in einem Traum. Die Stille, die nun eingetroffen war, wurde nur von dem Zirpen der Grillen und gelegentlichem Vogelzwitschern gebrochen. Amy fühlte sich glücklich; noch nie zuvor hatte sie einen solch wunderschönen Platz gesehen.
Da hörte sie eine Stimme, die von weit her an ihr Ohr drang: "Amy! Amy! Wo bist du? Antworte mir, Amy!"
Amy erschrak. Das war ihre Mutter! Die hatte sie völlig vergessen! Sie sah sich zu den Elfen um, doch die waren verschwunden, genau wie die vielen Blumen und Grillen. Und vor ihren Augen löste sich auch der Brunnen plötzlich in Luft auf.
Amy rieb sich die Augen. Was war passiert? Da kam ihre Mutter auf die Wiese gelaufen. "Amy! Ich habe mir ja solche Sorgen um dich gemacht!" Sie schloss ihre Tochter in die Arme. Amy ließ dies widerstandslos über sich ergehen. Gemeinsam spazierten die beiden zu ihrer Unterkunft zurück. Amy wunderte sich, dass ihre Mutter nicht geschimpft hatte, doch eigentlich dachte sie mehr an ihr seltsames Erlebnis. War es nur ein Traum gewesen? Aber wie war sie dann von der Mauer auf die Wiese gekommen? Und wieso spürte sie keine Schmerzen mehr, wo sie doch so tief gefallen war? Sie konnte es nicht richtig glauben, dass sie von Elfen geheilt worden war. Aber trotzdem...
"Mama?", fragte sie plötzlich. "Glaubst du eigentlich an Zauberwesen, so wie Elfen zum Beispiel?" "Eigentlich nicht", erwiderte die Mutter nach einigen Sekunden des Nachdenkens. Amy war ihr sehr dankbar, dass sie nicht fragte, warum sie das wissen wollte. "Aber man sagt, dass es hier in der Gegend welche geben soll, die alle zehn Jahre einen Menschen in ihre Welt entführen", redete sie weiter. "2006 ist so ein Jahr. Wer weiß, vielleicht sind ja dieses Jahr wir an der Reihe?"
Amy lächelte. Sie blickte gen Himmel. Es war ein gutes Gefühl.
TeilnehmerInnen der Workshops in Oberwölz und Deutschlandsberg waren:

Lena Bodner, 14 Jahre, Graz
Sigrid Ehrenreich, 14 Jahre, Stübing
Marie Gamillscheg, 14 Jahre, Graz
Antonia Kranzelbinder, 9 Jahre, Edelschrott
Lorenz Müller, 13 Jahre, Markt Hartmannsdorf
Leonora Peuerböck, 13 Jahre, Graz
Valentina Pock, 13 Jahre, Graz
Julia Schöggl, 9 Jahre, Graz
Valerie-Therese Taus, 12 Jahre, Graz
Viktoria Urbanek, 13 Jahre, Leoben
Alexandra Weinberger, 14 Jahre, Mürzhofen
Sarah Melanie Zechner, 10 Jahre, Oberweg (Judenburg)
Iris Christina Zechner, 12 Jahre, Oberweg (Judenburg)

Werkstattleitung, Betreuung:
Martin Ohrt (Graz)
Miroslava Valentová (Bratislava)
Naa D¸ubur (Leibnitz)

Verfasser/in:
Iris Christina Zechner, 12 Jahre
Netzwerktreffen
16. + 17.11.2023
 
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