23/12/2007
23/12/2007

Jean-Pierre und Luc Dardenne

Jean-Pierre und Luc Dardenne

sonnTAG 206

Gnade als Genre

Von Wilhelm Hengstler

Als ich der Redakteurin androhte eine Weihnachtsgeschichte – na sagen wir lieber einen Text - über die Filme der Brüder Jean-Pierre und Luc Dardenne zu schreiben, stellte sie sofort eine als Frage getarnte Forderung: Es handle sich doch um Filme, die man sehen könnte, also um keine unsichtbaren? Die Filme der Brüder Dardenne, von denen der eine Dramaturgie und der andere Philosophie studiert hat, sind, wie der Euphemismus für praktisch Unsichtbares lautet, einem breiteren Publikum vor allem durch ihre Siege in Cannes bekannt geworden: Goldene Palme 1999 für „Rosetta“, Spezialpreis für den besten Hauptdarsteller Olivier Gourmet 2002 in „Der Sohn“ und wieder eine Goldene Palme 2005 für „Das Kind“. Trotzdem ist zu bezweifeln, dass viele der unschuldigen Leser, die mir bis hierher gefolgt sind, diese Filme gesehen haben. Das ist mir, ehrlich gesagt, auch gleichgültig. Je mehr Filme ich gesehen, je mehr Bücher ich gelesen habe, desto wilder sehne ich mich nach einem neuen, frischen Geschmack. Abgesehen davon scheint mir das Unsichtbare, nicht nur im Film, ein Versprechen zu sein, mit dem es kein anderes Versprechen aufnehmen kann. Immerhin zählen auch Weihnachten, der Mythos um die Hl. Familie und die Geburt Gottes zum Unsichtbaren, genau so wie Gnade, Psychoanalyse oder Solidarität. Auch die spätindustrielle, ziemlich ungemütliche Welt in den Filmen des belgischen Brüderpaares wird stärker durch das Unsichtbare geprägt, als man beim ersten Hinsehen meinen möchte.

Während der Nachkriegszeit gelangten manche Filme nie oder nur mit jahrelanger Verspätung in unsere Kinos. Gelegentlich stoppte man solcher Filme wegen nach Wien, aber viele konnten eben nur durch Texte oder Berichte jener, die „dort“ gewesen waren, rezipiert werden. Das ging so weit, dass man am Ende Essays über Filme schrieb, die man nie gesehen hatte. Einen solchen Film dann wirklich zu sehen, war das Einlösen eines Versprechens, an dem man sich abgemüht hatte. Derzeit erstickt ein banales Überangebot in den Lichtspielhäusern, im Fernsehen, auf DVDs und Videobändern den einzelnen Film und lässt das Kino insgesamt verschwinden. Nach den rund 100 Jahren des Kinos, die im Großen und Ganzen mit der Moderne oder den sozialstaatlichen Erfolgen zusammenfallen, ist jetzt - jedenfalls in der tradierten Form - auch das Ende des Filmes abzusehen. Dass also die Meisterwerke der Brüder Dardenne relativ unsichtbar bleiben, ist von unverdienter, aber historischer Folgerichtigkeit.

Ihre Filme handeln meist davon, dass jemand aus dem Zustand banalen (also gerade noch erträglichen) Elends herausfällt, um dann, nach einem Höllensturz, möglicherweise erlöst zu werden. Schon die arachaisch-lakonischen Titel „Das Versprechen“, „Der Sohn“, „Das Kind“ lassen eine christliche Mythologie assoziieren, deren sich auch die säkularen Erzähler Dardenne bewusst sind. Sie instrumentieren diese Motive, die sich tief in das soziale bzw. kollektive Bewusstsein eingegraben haben, überraschend fruchtbar für ihre gesellschaftlichen Analysen. Hinsichtlich des Begriffes „Gnade“ meinen die Regisseure: „Everyone brings their own ideas to a film”, sagt Luc Dardenne, “A Christian viewer might be happy to see that, while a Non-Christian might say, “What a shame, they've made a Christian film.… But our civilisation is so much founded on religion that it's hard to get away from it.”

Die beiden Ex-Dokumentarfilmer definieren Gnade und Ungnade vor allem einmal sozial.
„Rosetta“ ein Film über ein Mädchen, das ziemlich kriegerisch sein Heil – vielleicht fälschlich – in einer „anständigen Arbeit“ sucht, beginnt unvermittelt damit, dass Emilie Dequenne als Titelheldin durch den Umkleideraum einer Bäckerei flieht. Polizei und Chef auf den Fersen will sie sich ihrer ungerechten Entlassung entziehen: „Mach ich meine Arbeit gut oder nicht?“ „Ja.“ „ Also dann versteh ich nicht, warum ich gehen soll.“ Rosetta will eine „richtige Arbeit“, nicht bloß Geld verdienen, aber die kriegt sie erst, indem sie ihren einzigen Freund Riquet hintergeht und seine Arbeit “stiehlt“. Schließlich verliert Rosetta, die mit ihrer Mutter in einem Wohnwagen lebt, der Alkoholkranken wegen auch diese Arbeit. Verzweifelt will sie am Ende sich und ihre Mutter mit Gas töten, aber die Gasflasche ist leer. Während sie eine gefüllte Flasche besorgt und sich zurück durch den öden Wald schleppt, umkreist sie der betrogene Freund mit seinem Moped. In Fellinis „8 1/2“ sagt ein Kardinal zu dem von Mastroianni gespielten Regisseur: „extra ecclesiam non salus“ - außerhalb der Kirche gibt es kein Heil. Diese Kirche besteht für Rosette wie für so viele andere erst einmal in der Anerkennung, die man durch Arbeit erwirbt. Später in einer menschlichen Solidarität, die sich allenfalls zeigt, aber niemals besprochen wird. Als Rosetta unter ihrer Last zusammenbricht, verzeiht ihr Riquet und hilft, die Gasflasche wird vom Kreuz wieder zum Energiebehälter. Dieses Kreuzmotiv kehrt wieder in „Das Kind“, wo Bruno, nachdem er Steve verraten und fast den Tod seines kindlichen Kumpans verursacht hat, ein demoliertes Moped quer durch die Stadt. Das Heil Rosettas mag vielleicht in einer gerechten Arbeit bestehen, aber worum es geht, ist die Vergebung durch ihren Freund Riquet, und das Rosetta das auch begreift. Wie es zur Gnade so gehört, der menschlichen wie der göttlichen, kann sie nur unter Ausschluss des Rechtsweges geschenkt werden, ein Umstand, den österreichische Parteihumanisten auch zu Weihnachten gern ignorieren.

Auch die folgenden Filme der Dardennes variieren dieses Thema. In „Der Sohn“ bildet der Vater eines ermordeten Jungen ausgerechnet den jugendlichen Mörder in einer Lehrwerkstätte zum Tischler aus. Auch hier besteht die im Übrigen von aller Welt unbemerkte Erlösung darin, dass der Vater verzeihen und der Mörder die Verzeihung annehmen kann. In „Das Kind“ verkauft der coole Tagedieb Bruno sein Kind einfach so. Als ihn seine Freundin verlässt und bei der Polizei anzeigt, sieht er sich gezwungen, das Kind zurückzukaufen. Das alles spielt sich innerhalb von Stunden ab, und dann folgen Brunos Sturz in Erpressung, Hunger, Verfolgung und schließlich Gefängnis. Wenn ihn seine Freundin dort besucht, werden sie sich, an einem Tisch des Besuchsraumes sitzend, umarmen und weinen. Die Szene erinnert an das Ende von Paul Schraders „American Gigolo“, das wieder Bressons berühmtes „Pickpocket“ zitiert – aber eben nur, wenn man die beiden Filme wirklich gesehen hat.

Die Brüder Dardenne betreiben in ihren Filmen, die so einfach und klar wie Wasser scheinen, eine Transzendierung des Sozialen. Es gibt, um diesen Vergleich zu bemühen, eine Vielzahl Journale, die über Weinsorten informieren, aber kein Lifestyle-Magazin, in dem einfach Wasser kritisiert wird. Die Süße des Wassers bezieht sich nicht auf einen Geschmack, sondern auf eine paradiesische Befreiung von quälendem Durst. Während meiner Grundausbildung in Annabichl bot die Klagenfurter Kaserne den Ausbildnern den reichlich genützten Vorteil, uns Rekruten, ohne zuvor durch die Stadt marschieren zu müssen, vom Appellplatz direkt hinaus ins Gelände jagen zu können. Überhitzt, dem Zusammenbruch nahe, sehnten wir uns dann bei unserer Rückkehr nur danach, mit verrenkten Köpfen das Wasser aus den Hähnen zu trinken.
Das mag sich nach religiöser Konterbande lesen, aber Dardenne-Filme sind weder Sozialkitsch noch „wertvoller Kopfwehfilm“. Keinem Genre oder kulturellen Peer-Group zuzuordnen, noch mit extremen Effekten von sich reden machend, erfüllen diese Filme auch keine verwertbaren Erwartungshaltungen. Vielleicht erklärt sich aus dieser Unvereinnahmbarkeit auch die erstaunliche Zurückhaltung von kirchennahen Fachzeitschriften wie EPD oder „Katholischer Filmdienst“. Die Filme sind nicht „schwierig“ wie beispielsweise die Arbeiten des späten Godard mit ihren hochkomplexen Codierungen. Ihr reduzierter und unmittelbarer Stil - am augenfälligsten im durchgehenden Einsatz der Handkamera festzumachen - ist zweifellos mitbestimmt durch ihre Anfänge als Dokumentarfilmer. Diese überragende Handkamera von Alain Marcoen ist nicht so sehr die Subjektive der Protagonisten, als diejenige der Kamera, der Filmemacher, ja des Publikums selbst, die gleichsam als teilnehmende Erforscher agieren. Weitgehend verzichtet wird auf die übliche Grammatik des Filmes – Schuss, Gegenschuss, Totale, Nahaufnahme, und all die anderen Tricks, mit denen der Raum zerstückelt wird, um den Kinogehern die Botschaften und Bilder einzutrichtern. Wenig fürchten die Dardenne mehr, als Verständlichkeit. Ihre Geschichten beginnen abrupt, der Hergang erklärt sich erst später, und der Zuseher ist ohne Empathie mit den Geschöpfen auf der Leinwand verloren. Aber je länger der Film läuft, desto klarer entwickelt sich die makellose Dramaturgie dieser einfachen und zugleich hochdramatischen Geschichten: biblische Gleichnisse, aller Zierart entkleidet, gebleicht in einer durchkommerzialisierten, technischen Zivilisation.

Während man Rosetta auf ihrem Heimweg verfolgt, wie sie die Straße überquert, den Wald durchstreift, die Stadtschuhe gegen die versteckten Gummistiefel tauscht und durch eine Lücke im Maschenzaun auf den Campingplatz gelangt, zwingt der knappe Abstand zu ihr, die angeschnittene Schulter, ihr Hinterkopf, die Großaufnahme ihres Gesichtes und die Schwenks, die zwischendurch ihre Subjektive zeigten, fortwährend diese nur bruchstückhaft wahrnehmbare Welt zu ergänzen. Wenn Olivier Gourmet das erste Mal „den Neuen“ sieht, ihn heimlich durch die Gänge und Räume der Schule verfolgt, weiß man noch nicht, dass das der Mörder seines Sohnes ist. Aber der Hass und die Panik, die Überforderung und die Gewalttätigkeit des schweren Mannes, der fast immer nur von hinten gezeigt wird, übertragen sich auf die Kinogeher. Dadurch gewinnen diese wenig bekannten, europäischen Schauspieler, ursprünglich oft Laien, eine uneitle Präsenz. Der Körper wird bildhaft zur Sprache. Ähnlich wie Burt Lancaster, Ava Gardner oder Robert Mitchum wird mit dem ganzen Körper gespielt, aber das Ergebnis ist sehr verschieden. Während der Freiheit versprechende Glamour Hollywoods die Stars zu Familienmitgliedern eines weltweiten Publikums werden lässt, repräsentieren die Schauspieler der Dardennefilme vielleicht vergessene, aber reale Verwandte, die einen überraschenderweise heimsuchen.

Alle Räume im Kino sind konstruierte (oder imaginierte), sie täuschen Vollständigkeit immer nur vor. Die atmenden, schwankenden Dardenne-Räume täuschen nie über ihre Unvollständigkeit. Die nicht nur durch das Auge erfahrenen Räume sind beunruhigender und sinnlicher, als die Zeichen- und Perspektivenprogramme an denen Architekturstudenten ihre Raumwahrnehmung schulen. Diese von einer Handkamera in die Welt gebohrten Räume generieren auch eine andere Zeit. Während das konventionelle Kino „rafft“, dehnt jenes der Dardenne, ohne dabei an Dichte zu verlieren. Das Timing wird durch die physischen Aktionen der Protagonisten definiert. Banale Handlungen wie Gehen, Arbeiten, Kochen, im Bus sitzen, all die verdrängten, halb bewussten Lebensleerläufe, die im Film häufig durch exotische, atmosphärische Zusätze aufgebessert werden, werden für das Brüderpaar zur Haupthandlung. Aus der Nähe und konsequent verfolgt, gleichzeitig bruchstückhaft im schwankenden Bildausschnitt, werden alle Verrichtungen zu eindringlichen, gelegentlich aggressiv wirkenden Auseinandersetzungen mit einer konkreten Wirklichkeit.

Bevor sie sich in ihren Spielfilmen mit Asylwerbern (Das Versprechen), Arbeitssuchenden (Rosetta) oder Kleinganoven (Das Kind) porträtierten, haben die Dardenne fünfzig Dokumentarfilme bzw. Interviews mit Arbeitern gedreht, die vom Niedergang des sozialen Ausgleiches berichten. Ihr Engagement verbietet den Flirt mit einem abgehobenen Kunstfilmbegriff, ihre handwerklich bestimmte Schreib- und Arbeitsweise das Agitationskino. Ihre pathoslosen, kümmerlichen Helden sind beunruhigend normal, keinesfalls psychopathische Außenseiter. Nicht einmal darauf, dass die Welt schlecht ist, kann man sich verlassen. Wie im Leben ist zwar alles ganz einfach, könnte aber immer auch ganz anders ausgehen. Die Geschichten sind keine Genreformeln einer Realität, die Film- und Kunstvermittler von ihren Schreibtischen aus spielerisch sicher im Griff haben.
Wie die meisten großen Künstler brauchen die Jean-Pierre und Luc Dardenne nur einen Mikrokosmos, um die ganze Welt abzubilden. Was für James Joyce Dublin, oder für William Faulkner Yoknapatawpha County war, ist für die Filmemacher das belgische Seraing. Die einstige Stahlstadt beheimatete eine starke Arbeiterbewegung, deren Solidarität unter den ökonomisch-sozialen Veränderungen der letzten 30 Jahre sehr viel schwächer geworden ist. Architekten sind fasziniert von Filmen die in den urbanen Landschaften New Yorks, San Franciscos, in den europäischen Metropolen und asiatischen Stadtwüsten angesiedelt sind. Während diese Stadtansichten aber bald zu ihren eigenen spektakulären Abziehbildern wurden, fehlt dem banalen Universum der Dardenne alles Pittoreske. Indem sie sich ausschließlich dem gesichtslosen Seraing gewidmet haben, steuern sie einen neuen Aspekt zu dem Thema Architektur und Film bei; eine Art architektonisches Äquivalent zu dem Doinel-Zyklus von Truffaut. Indem Truffaut die Hauptrolle des Antoine Doinel über Jahrzehnte hinweg mit Jean Pierre Leaud besetzt hat, drehte er gleichzeitig eine Dokumentation über das Altern seines Hauptdarstellers.

In den Filmen des Brüderpaares geht es stets um die Beziehung zwischen Vater und Sohn, in „Rosetta“ um jene zwischen Tochter und Mutter. In “Das Versprechen” gerät der Sohn, indem er sein Versprechen, sich um die Witwe zu kümmern, in reinen Konflikt mit seinem Vater, der den Tod des Gastarbeiters zumindest indirekt verursacht hat, ihn jedenfalls vertuschen will. In „Rosetta“ macht die alkoholsüchtige Mutter alle Anstrengungen der Heldin, in der von ihr so ersehnten Arbeitswelt Fuß zu fassen, zunichte. In „Das Kind“ verkauft der Vater den Säugling ohne Wissen der Mutter. In „Der Sohn“ hat der Vater seinen Sohn verloren und umkreist den ahnungslosen, ebenfalls jugendlichen Mörder, den er zum Tischler (war nicht auch Jesus ein Tischler aus Nazareth?), ausbilden soll. Am Ende kann der Vater verzeihen, und der unglückselige Mörder diese Vergebung annehmen. In „Der Sohn“ besucht Olivier Gourmet, dessen ehe über den Mord an seinem Kind auseinander gebrochen ist, ein drogensüchtiges Paar, das den Sohn daran hindern will, bei ihm die Tischlerlehre zu beenden. Fast alle Geschichten gründen in Familienstrukturen, auch wenn diese etwas anders aussehen, als die Heilige Familie. Die Eltern in diesen Filmen sind meist schwächer als ihre Kinder, deren Fortkommen sie gern im Weg stehen. Das sind gewiss keine Vorzeige-, nicht einmal Rumpffamilien, und doch hängen die Protagonisten an diesen Bindungen. Sie geben einen fragwürdigen Halt in einer vom Geld- und Warenaustausch bestimmten Gesellschaft. Aber diese gleichsam biblischen Familienbindungen bieten immerhin auch die Möglichkeit einer Entwicklung hinaus aus dieser durchrationalisierten Welt. Das Interesse der Dardenne liegt in dem, was zwischen einem Elternteil und seinem Kind entstehen kann. Alle Geschichten begännen mit Vater und Mutter, und die Zukunft dieser Geschichten liege in den Kindern und den Kindern dieser Kinder. Der Tag, an dem die Menschen unfähig würden Väter und Mütter zu sein, bedeute das Ende jeder Humanität. Dann würde der Affe zurückkommen, das Ruder übernehmen und Tiere würden den Planeten regieren, sagen jedenfalls die Dardenne. Kein schlechtes Ende für eine Weihnachtsgeschichte

Die „unsichtbaren“ Filme der Dardenne sind auf DVD erhältlich und man kann sie in der Mediathek der Stadt Graz oder im „Filmzentrum im Rechbauerkino“ ausleihen.

WILHELM HENGSTLER ist Filmregisseur und Autor, ausgezeichnet mit dem Manuskriptepreis 2004, lebt in Judendorf/Strassengel bei Graz.

Verfasser/in:
Wilhelm Hengstler
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