30/05/2010
30/05/2010

Dr. Barbara Feller

Ausstellung "Fliegende Klassenzimmer", Vermittlungsprogramm. Fotos: Martin Ernesto Lotter

Ausstellung "Fliegende Klassenzimmer", Vermittlungsprogramm. Fotos: Martin Ernesto Lotter

BARBARA FELLER
Wozu Architektur- / Baukulturvermittlung für junge Menschen?

Jede/r wohnt, arbeitet und bewegt sich in gestalteten Räumen (innen und außen). Wahrnehmung und Erleben von Raum gehört damit zu den grundlegendsten Erfahrungen des menschlichen Daseins. ‚Architektur ist der Wille einer Epoche ausgedrückt in Raum’, wie es Ludwig Mies van der Rohe einmal formuliert hat. Es geht um das Zusammenleben in einer sich wandelnden Welt, wobei insbesondere auch Kenntnisse über andere Kulturen als Fundament für das gegenseitige Verständnis notwendig sind. Hier kann Architektur, in ihrer Eigenschaft als Seismograph der Gesellschaft, wichtige Impulse liefern und die Beschäftigung mit Architektur, Baukultur, Gestaltung und Raum kann entscheidende Anregungen bieten. Denn ein souveräner Umgang mit der gestalteten Umwelt, in der wir fast unser ganzes Leben verbringen, ist notwendige Voraussetzung zur Ausbildung von Identität und Mündigkeit. Und hat auch handfeste ökonomische Auswirkungen: Denn viele Menschen geben den größten Teil ihres ‚Lebensgeldes’ für Bauen und Wohnen aus: fürs Häuselbauen, für Eigentumswohnungen, Schrebergärten und Wochenendhäuser, für Miete und Betriebskosten; fürs Heizen, Kühlen, Kochen, Licht und Wasser. Und doch lernen wir zumeist nichts, um in diesem Bereich als mündige Bürgerinnen und Bürger agieren zu können. Hier setzten die Projekte zur Architektur- / Baukulturvermittlung an: einen Beitrag zu leisten, um die Menschen sehfähig, sprachfähig und damit entscheidungsfähig zu machen und zu einer verantwortungsvollen Teilhabe an der Gesellschaft zu befähigen.

Wenn in der Folge von Baukultur die Rede ist, dann ist damit ein breites Verständnis von gebauter und gestalteter Umwelt gemeint: es geht nicht nur um ‚schöne’ Gebäude (und damit nicht primär um Ästhetik bzw. ‚Baukunst’), sondern um die Gesamtheit von ‚Raum’ in seinen Dimensionen von Breite, Höhe und Länge und seinen Wirkungen und Bedingungen. Es geht auch nicht ausschließlich um Gebäude, sondern gleichermaßen um den Raum dazwischen. Es sind also viele Professionen angesprochen, die sich mit der Gestaltung und Nutzung des Raumes beschäftigen: Architektur und Raumplanung, aber ebenso Landschaftsgestaltung, Städtebau, Freiraum- und Verkehrsplanung, Ingenieurwesen und natürlich auch die Sozialwissenschaften mit ihren unterschiedlichen Schwerpunkten.

Raum beeinflusst unser persönliches Wohlergehen und unser soziales Zusammenleben.
Der Begriff ‚Baukultur’ ist in den letzten Jahren zunehmend populär geworden, er ist vielgestaltig und umfassend. Es gibt viele Definitionen (1) und kurz gefasst lässt sich sagen, dass damit die „Herstellung von und der Umgang mit gestalteter Umwelt“ zu verstehen ist. Wichtig ist bewusst zu machen, dass das Thema nicht nur professionelle PlanerInnen betrifft, sondern alle davon tangiert werden. Daher liegt auch die Verantwortung dafür nicht nur bei den Fachleuten alleine, sondern ist eine gesamtgesellschaftliche. Mit einem Bekenntnis zur Baukultur ist auch ein Eintreten für Qualität auf allen Ebenen von Bauen und Gestalten verbunden. Baukultur ist ein permanenter Prozess, der von der gesamten Gesellschaft, laufend aktiv weiterentwickelt werden muss. Baukultur findet Ausdruck auch im verantwortungsvollen und ressourcenschonenden Einsatz von Grund und Boden sowie von Rohstoffen und Energie. Sie umfasst den Umgang mit den vorhandenen urbanen und ländlichen Siedlungsräumen, mit sozialer und technischer Infrastruktur sowie den Natur- und Freiräumen. Baukultur muss gesamtheitlich und interdisziplinär wahrgenommen werden.

Und die Baukulturvermittlung für Kinder und Jugendliche ist ein ganz zentraler Baustein in diesem System. Raum beeinflusst unser persönliches Wohlergehen und unser soziales Zusammenleben. Raum kann bewirken, dass man sich gut aufgehoben und wohl fühlt, aber genauso das Gegenteil. Denn man kann nicht nicht von Raum umgeben sein. Le Corbusier hat dazu geschrieben: „Die erste Begegnung der Lebenden, der Menschen und Tiere, Pflanzen und Wolken, ist, den Raum in Besitz zu nehmen. Es ist die ursprünglichste Offenbarung von Gleichgewicht und Dauer. Der erste Daseinsbeweis ist die Besitzergreifung des Raumes“ (2)
Und die Erfahrung zeigt, dass Kinder und Jugendliche sehr interessiert an ihrer Umgebung sind und diese mit viel Aufmerksamkeit wahrnehmen. Daher lohnt es sich früh zu beginnen, um ein nachhaltiges Verständnis zu fördern. Dabei soll Architekturvermittlung für junge Menschen nicht die kritiklose Übernahme von normierten ästhetischen Konzepten sein, sondern die Fähigkeit, Architektur in ihrer Vielfalt wahrnehmen zu können. Daher steht auch kein Unterricht in Architektur, nicht das Ausbilden von ‚kleinen ArchitektInnen’ im Vordergrund, sondern primär das Wecken von Raumverständnis und das Aufzeigen der Gestaltbarkeit (und damit Beeinflussbarkeit) von gebauter Umwelt.
Das Verständnis für Architektur und Baukultur wird damit auf breiter Basis gestärkt und die Alltagsqualität von Architektur einem weiten Kreis erlebbar. Ziel sind BürgerInnen, die mehr von Häusern und Plätzen fordern als die reine Zweckerfüllung und damit wiederum auch die Architekturschaffenden zu besseren Projekten anspornen.

Baukultur und Bildungspolitik
Gerade im Kontext der aktuellen bildungspolitischen Diskussionen mit einem von allen Fachleuten diagnostizierten Bedarf an Reformen (Stichworte: Gemeinsame Schule bis 14 Jahre, Demokratisierung, Chancen für alle Begabungen, Erwerb von Schlüsselqualifikationen für die Herausforderungen der Zukunft, Erwerb von kulturellen Basiskompetenzen, Aufbau von sozialen und kognitiven Kompetenzen, Teamfähigkeit u.a.m.) kann Architektur- / Baukulturvermittlung einen wertvollen Beitrag leisten. Sie ist ein Modell der Öffnung der Schulen in Richtung externer Expertise ebenso wie für den geforderten Projektunterricht. Als Querschnittsmaterie mit ästhetischen, wirtschaftlichen und sozialen Aspekten ist sie ein Beispiel für vernetztes und nachhaltiges Herangehen an unterschiedliche Aufgabenstellungen und zur Lösung von Zielkonflikten. Insbesondere auch auf die Anforderungen, die sich im Zusammenhang mit der Ganztagesschule mit den verstärkten Angeboten an Nachmittagsbetreuung ergeben, kann Baukultur mit ihren lebensnahen Aspekten Antworten liefern.

Architektur- / Baukulturvermittlung stellt einen Bildungsauftrag dar, denn langfristiges Ziel muss es sein, dass jede/r zumindest einmal in der Ausbildung mit Aspekten von Architektur und Umweltgestaltung in Berührung kommt. Anzustreben ist eine mehrmalige, jeweils altersadäquate Auseinandersetzung.

Initiative Baukulturvermittlung
In vielen Orten in Österreich gibt es engagierte Menschen, die sich die Vermittlung von Architektur / Baukultur, speziell an Kinder und Jugendliche zum Ziel gesetzt haben.

• Architektur Zentrum Wien (www.azw.at)
• aut. architektur und tirol, Tirol (www.aut.cc)
• Vorarlberger Architektur Institut (www.v-a-i.at)
• ORTE Architekturnetzwerk Niederösterreich (www.orte-noe.at)
• Arbeitskreis Architektur Technik + Schule, Salzburg (www.at-s.at)
• Architektur_Spiel_Raum_Kärnten, Kärnten (www.architektur-spiel-raum.at)
• Was schafft Raum? Wien (www.was-schafft-raum.at)
• Raum macht Schule – Steiermark
• Arbeitsgruppe Architekturvermittlung an Universitäten
Antje Lehn, Akademie der bildenden Künste Wien, a.lehn@akbild.ac.atRenate Stuefer Technische Universität Wien, renate.stuefer@kunst.tuwien.ac.at
Alexandra Graupner, Universität für Angewandte Kunst Wien, alexandra.graupner@uni- ak.ac.at

Seit Anfang 2010 haben sie sich zur „Initiative Baukulturvermittlung“ zusammengeschlossen, um durch diese österreichweite Vernetzung das Anliegen gemeinsam noch kraftvoller transportieren zu können. Ab Herbst 2010 werden auf der Website www.baukulturvermittlung.at, deren Errichtung die Bundeskammer der Architekten und Ingenieurkonsulenten unterstützt, evaluierte und aufbereitete Dokumentationen bereits durchgeführter Projekte, Anregungen und Arbeitsmaterialien für den Unterricht sowie ein Kalendarium zu Angeboten der Baukulturvermittlung für junge Menschen zur Verfügung stehen. Darüber hinaus wird die Website als Diskussionsforum sowie dem Erfahrungsaustausch mit Initiativen in Österreich und anderen Ländern dienen sowie theoretische Beiträge und Kommentare ebenso wie fachspezifische Literaturhinweise enthalten.
Für eine nachhaltige Wirkung braucht es - neben dem Engagement der Architektur- / BaukulturvermittlerInnen – aber auch ein Bekenntnis der Öffentlichkeit, namentlich des zuständigen Ministeriums für Unterricht, Kunst und Kultur, das sich auch in kontinuierlicher finanzieller Unterstützung ausdrücken muss.

Und zum Ende noch drei aktuelle Hinweise:
• In der Plattform SchulUMbau haben sich PädagogInnen, Fachleute der Schulverwaltung und ArchitektInnen lose zusammengeschlossen, um Denkanstöße für einen zeitgemäßen und kindgemäßen Schulbau zu liefern. Die Gruppe hat eine Charta erarbeitet, die in 11 Punkten die Grundzüge eines zeitgemäßen Umgangs mit Lehr- und Lernräumen zusammenfasst. Sie verstehen sich als Diskussionsgrundlage für jeden Neubau oder Umbau einer Bildungsinstitution. Diese Charta kann auf der Website der Plattform schulUMbau online unterzeichnet werden: http://www.schulumbau.at/icharta.asp
• Im Kontext der Ausstellung ‚Fliegende Klassenzimmer’, konzipiert von Christian Kühn, Antje Lehn und Renate Stuefer, die nach ihrer Erststation im Kunsthaus Mürzzuschlag, aktuell in Salzburg und ab 9. Juni 2010 im vai Voralrberger Architektur Institut in Dornbirn, http://www.v-a-i.at/index.php?option=com_events&task=view_detail&Itemid=... zu sehen ist, gibt es einen Blog, der Möglichkeiten zur Diskussion bietet. http://mein.salzburg.com/blog/standpunkt/2010/05/schulraume-mit-hirn.htm...
• Am 20. und 21. September 2010 findet in Wien eine Schulbau Konferenz der OECD statt:
IMAGINE! Exploring radical visions for tomorrow's schools ... and how to make them work
Nähere Infos unter: www.gbl.tuwien.ac.at/imagine2010

Fußnoten:
(1) Einige finden sich im Österreichischen Baukulturreport; Wien 2006; zu lesen auch im Netz unter www.baukulturreport.at
(2) Le Corbusier: „Der Modulor“; Stuttgart 1953, S. 27

Biografische Notiz:

DR. BARBARA FELLER
Geboren in Wien, Studium der Geschichte, Geschäftsführerin der Architekturstiftung Österreich, Betreuung des Bereichs Architektur bei KulturKontakt Austria. Arbeitsschwerpunkte: Architekturvermittlung für Kinder und Jugendliche, Stadt und Leben im 20. Jahrhundert.
2005-09 Sprecherin der Plattform Architekturpolitik und Baukultur (zusammen mit Volker Dienst und Roland Gruber).
Obfrau der 'Initiative Baukulturvermittlung'.
Autorin zahlreicher Publikationen.

Verfasser/in:
Barbara Feller
Netzwerktreffen
16. + 17.11.2023
 
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