06/11/2010
06/11/2010

Friedrich Achleitner, Doyen der heimischen Architekturkritik. Foto: oe1.orf.at

Günter Eichberger
WAS ES ALLES NICHT GIBT
Friedrich Achleitner und das Trauma der Enge

Was ist steirische Moderne? Kulturkampf in begrenzten Räumen, mit beschränkter Haftung. Nirgends sind die politischen Feinde so eng und freundschaftlich beisammen gehockt, kaum wird in einer anderen Stadt die Enge so traumatisch künstlerisch thematisiert.
Friedrich Achleitner

1
Ich erzähle Ihnen eine Geschichte, von der ich noch nicht weiß, wie sie sich entwickeln, wovon sie handeln wird. Allerdings hat sie eine Vorlage. Die stammt von Friedrich Achleitner und heißt „Graz ohne Grazer“. Anhand dieser Vorlage werde ich wohl rasch voran, ins Unbekannte, Ungewisse, ins Abenteuer gelangen. Und fort von Graz.
Mit Sätzen reist man am geschwindesten. Ein Satz ist mehr als ein Hüpfer. Sie werden schon sehen.

Persönlichkeiten sind Städte. Das ist ein umgedrehter Satz. So werden wir hier alles umdrehen und sehen, was dabei herauskommt. An Sinn oder Sinnvortäuschung.
Wenn also Persönlichkeiten aus Häusern, Straßen, Parks bestehen, dann kann man mit großer Selbstverständlichkeit in ihnen herumgehen. Heute reise ich nach Anton, könnte man sagen. Und dann späht man in Antons Innenhöfe und Nischen. Besteigt seinen Aussichtsturm. Und stürzt sich in Antons Abgründe.
„Eine barocke Persönlichkeit“, damit ist der Lebensstil gemeint, nicht die Fassade. Oder auch, dass der Körperbau das Bewusstsein spiegelt, um nicht zu sagen, bestimmt. Wir sollten alle aussehen, wie wir sind, damit es keine Unklarheiten gibt.
In Anton gibt es immer wieder Erdbeben, er dürfte selbst die Ursache sein. Dieses Vulkanische seiner Persönlichkeit, dieses Ausbrechen, Überfließen, in einem fort ergießen will er sich. Das macht die Bekanntschaft zu einer Naturkatastrophe.
Irgendwann wird Anton einstürzen, wenn er nicht behutsam renoviert wird. Unter Bewahrung des Originalensembles, aus dem sich seine Persönlichkeitsstadt zusammensetzt. Aber einmal wird auch das nichts mehr nutzen. Selbst wenn sich eine Kommission für seine Bewahrung einsetzt, selbst wenn er unter Denkmalschutz gestellt wird.

2
Mit diesen Sätzen sind wir nicht recht vom Fleck gekommen. Vielleicht liegt es an der Vorlage. Vielleicht versuchen wir einen anderen Einstieg. Geschichten kranken mitunter an ihrem ersten Satz. Aus dem ersten Satz muss sich ganz organisch, als Selbstzeugung, der weitere Text ergeben. Der erste Satz ist das Fundament. Auch wenn alles aus der Luft gegriffen sein mag, muss es doch tragen können. Nach dem letzten Satz kann es in sich zusammenfallen, der Text kann sich ruhig selbst zerstören, das ist sogar wünschenswert, das kommt immer sehr gut, dieses selbstzerstörerische Element, denn sonst würden Texte immer weiterwuchern, und die Folgen wären nicht abzusehen, ganze Landstriche, Länder würden von Texten bedeckt, vollgesponnen sein, die ganze Welt schließlich unübersehbar von Erzählgarn umwickelt, zweifach, dreifach, absolut undurchdringlich. Es wäre das Ende der Welt, so weit wir sie kennen.
Achleitner klammert dieses Problem aus. Wir schieben es ein wenig hinaus. Geschichten erzählen uns für gewöhnlich viel zu wenig von ihrer Verfertigung. Dieser Mangel wird hier ausgeglichen.
Wir werden es noch einmal mit Achleitner versuchen. Er ist unser Leitstern, beleuchtet uns den Sprachraum, leuchtet uns heim. Er scheint uns etwas über Graz erzählen zu wollen, indem er darauf besteht, dass genau das unmöglich sei: „Der Grazer - den es nicht gibt – erfindet auch die Welt neu und behauptet die existierende nie gesehen zu haben.“ Und zwangsläufig kommt er auf die Grazer Schule zu sprechen, aber konsequenterweise im Verweis auf deren Nichtexistenz. „Die Grazer Schule ist ein missglückter Begriff, weil es in Graz keine Schüler gibt. Eine Zunft von Einzelgängern, Einzelkämpfern. Der Grazer Architekt – den es nicht gibt – ist höchstens Lehrer, nie Schüler.“
Wenn wir versuchen, das in ein Bild zu übersetzen, sehen wir eine Schulklasse, in der lauter Lehrer vor leeren Bänken ihre Vorträge halten. Der eine nimmt vom anderen keine Notiz, ein höchst dissonanter gemischter Chor, dem ein Dirigent fehlt, beziehungsweise der an einer Überzahl an Dirigenten leidet, lauter Taktstockvirtuosen, aber keine Musiker.
Die Lehrer könnten sich ja auch gegenseitig belehren, aber es wird wohl so sein, dass sie ihre Kollegen nicht wahrnehmen, als Monaden in sich gefangen sind, ihre Lehrmeinungen gehen vermutlich so weit auseinander, dass sie keinen Blickkontakt aufnehmen können, aus den Augen, aus dem Sinn, und so können sich ihre Erkenntnisse und Erfahrungen auch nicht verbinden. Wir wissen nicht, ob wir darüber klagen, ob wir es bejubeln sollen.
Einer spricht wie besessen von einem Steinhaus, in das er gefallen sei, denn Architektur sei etwas, in das man hineinstürzen müsse. Architektur ist, was der Fall, der Sturz ist. Er nähert sich während seiner Ausführungen bedenklich dem Fenstersims. Ein anderer spricht von Mitbestimmungsmodellen, die er eingeführt habe, um als Architekt endlich mitbestimmen zu können. Wieder einer von Architektur als einem konzentrierten Abenteuer des Blicks, wobei seine Augen wie auf der Flucht zu sein scheinen. Ein anderer murmelt ständig Algorithmen.
Das Bild des leeren Klassenzimmers bedrückt uns. Wir schleichen hinaus. Wir lassen die Lehrenden mit ihren Lehren allein.

3
Eine Geschichte wird das wohl nicht mehr. Zu sehr sträubt sie sich gegen das Erzähltwerden. Und zwingen wollen wir sie nicht zu unserem Glück. Wir folgen den Sätzen und zeichnen sie auf, in sie hinein, über sie hinaus, so werden aus den fremden Sätzen immerfort eigene, die uns befremden.
Ob das Ausdruck der Enge unserer Umgebung ist? Schauen uns, während wir schreiben, auch schon Feinde über die Schulter? Und sticheln schon jetzt? Und wollen schon im Entstehen alles verhindern? Und vielleicht gelingt es ihnen ja auch. Der Gedanke, den wir denken, ist schon der Feind des nächsten. Wir sitzen hier fest, in unserem Einfallskorsett.
Wovon sind wir ausgegangen? Es ist uns, als seien wir hier herein geworfen worden, in eine Luftsäule verschlossen. Und wir denken jetzt viel über diese Säule nach, aber nicht, wie wir ihr wieder entkommen könnten. Wir haben die Luftsäule als Haut akzeptiert.
Was eigentlich ein Schluss sein könnte. Aber darüber entscheiden wir schon nicht mehr, wir haben das Heft aus der Hand gegeben.

4
„Das Einfache ist alles andere als einfach“, sprechen wir nach. Aber wir wissen wahrscheinlich nicht, was wir sagen. Das immer vorausgesetzt. Damit die Relationen deutlich sind.
Wir verwerfen jetzt alles, jedes Haus, jeden Satz. Darin könnten wir unsere Aufgabe erkennen. „Das Pathos des Schöpferischen ist eine furchtbare und fruchtbare Eigenschaft“, sprechen wir nach. Darum werden wir auch nicht mehr schöpferisch sein, kein eigenes Haus bauen, immer nur in Abgewohntes einziehen, abgewohnte Gedanken denken. Uns in Gewohnheiten wie in Elternhäuser zurückziehen.
Beschreibende Sätze verstehen wir nicht: „Der Block teilt das leicht abgesenkte Grundstück in zwei sehr unterschiedliche Freiflächen.“ Unter Block können wir uns nur „Blockade“ vorstellen, unter Grundstück allenfalls „Grundstock“, mit Freiflächen können wir in unserer traumatischen Enge nichts anfangen. Jede Beschreibung kommt uns phantastisch, kommt uns irreal vor.
Es ist unsere allgemeine Befangenheit, die uns an den Ort fesselt. Wir erkennen ihn schon gar nicht mehr, so sehr ist der Ort in uns eingedrungen, hat uns die Innenwelt ersetzt. Und wir hatten doch einmal eine reichhaltige Innenwelt. Zumindest glaubten wir das.
Leerräume ausblenden, denken wir. Leerräume ausblenden.

Verfasser/in:
Günter Eichberger
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