17/04/2016

Stadt in Bewegung / Teil 2
Learning from London and Beirut

Gedanken von Eugen Gross
zu urbanen Entwicklungen.

17/04/2016

Kanalinsel Guernsey, St.Peter Port, Castle Cornet, 2015

©: Archiv Eugen Gross

St.Peter Port, Wohnkomplexe, 2015

©: Archiv Eugen Gross

St.Peter Port, Bootshafen, 2015

©: Archiv Eugen Gross

St.Peter Port, Royal Plaza Passage, 2015

©: Archiv Eugen Gross

TIME PATTERN in der Kunst

©: Archiv Eugen Gross

Tel Aviv am Jom Kippur-Tag

©: Martin Grabner

Sonnenfelsplatz, Graz, 2015

©: Archiv Eugen Gross

Beirut, Zerstörung eines Großteils der Innenstadt, Ende der 1980er Jahre

©: Archiv Eugen Gross

Beirut, Amerikanische Universität Beirut (AUB), 2015

©: Archiv Eugen Gross

Beirut, Campus der Amerikanische Universität Beirut (AUB), 2015

©: Archiv Eugen Gross

Beirut, Stadt am Berg, 2015

©: Archiv Eugen Gross

Beirut, archäologische Stätten, 2015

©: Archiv Eugen Gross

Beirut, Platz im Zentrum, 2015

©: Archiv Eugen Gross

Beirut, Hariri Moschee, 2015

©: Archiv Eugen Gross

Beirut, moderne Kirche, 2015

©: Archiv Eugen Gross

Byblos, Souk, 2015

©: Archiv Eugen Gross

Beirut, Monte Verde, 2015

©: Archiv Eugen Gross

Beirut, Monte Verde Terrassen, 2015

©: Archiv Eugen Gross

Beirut, Landgewinnung, 2015

©: Archiv Eugen Gross

Beirut, Hochhäuser, 2015

©: Archiv Eugen Gross

Beirut, green building, 2015

©: Archiv Eugen Gross

St.Peter Port auf Guernsey
Die Kanalinsel Guernsey, im Ärmelkanal nahe der französischen Küste gelegen, mit eigenem Verwaltungsstatut, jedoch der Englischen Krone unterstellt, ist ein beliebtes Ausflugsziel für Engländer und Franzosen. Der Hauptort St.Peter Port wird von einer an der Hafeneinfahrt gelegenen Burg, dem Castle Cornet, beherrscht, schmiegt sich jedoch den Hang aufsteigend in die weitläufige Bucht und zeigt eine bunte Mischung von Restaurants, Shops und kleingliedriger Wohnbebauung. Die klimatisch durch den Golfstrom begünstigte Stadt weist mit ihrer Vegetation einen südländischen Charakter auf.

Diese bevorzugte Situation nutzt ein neuer größerer Wohnkomplex, der durch große ausschwingende Bauformen zum Meer orientiert ist und ebenso ein integriertes Hotel enthält. In der Basiszone sind Geschäftsräumlichkeiten untergebracht. Die einheitliche Orientierung zur Corniche wie die weitere Uferbebauung vermitteln den Eindruck einer topografischen Einheit, die einem Großwohnkomplex gleicht, ohne es ausdrücklich zu sein.

In der rhythmischen Geschäftigkeit, die der Brückenfunktion zwischen dem englischen und französischen Festland entspricht, sehe ich Zeitzyklen verwirklicht, die durch die Servicefunktion der marittimen Transportmittel bestimmt sind. Im Takt des täglichen Tidenhubs von mehreren Metern, der die Konstruktion der Hafenanlagen bestimmt, ist der Zyklus sichtbar. Zu jeder Tageszeit erreichen oder verlassen Schiffe verschiedener Größe, Fähren wie Ausflugsschffe, den geschützten Hafen. Kreuzfahrtschiffe ankern auf See und bringen Touristen abwechselnd in die Stadt. So ist das Leben sowohl der Bewohner wie der Besucher durch den vom Meer bestimmten Rhythmus gekennzeichnet, der sich auch in den Einrichtungen für Einheimische wie Fremde niederschlägt. Stündlich kursieren öffentliche Busse zu einem Enheitspreis um die Insel, wobei diese Besichtigungs- und Kaffeepausen an einigen Küstenstreifen einlegen. Dazu gehören neben Orten auch Sichtbetonbunker des Westwalls, die nie angegriffen wurden. Sie bilden nichts als Geschichtsspuren einer Erinnerungszeit. 

Nicht reine Planungsprozesse, sondern architektonische Erfahrungsmuster im Sinne von „City, shaped by time“ lassen sich im Wandel der Gestaltung der Großwohnkomplexe in England im Zeitraum der letzen 50 Jahre erkennen. Dabei wurden stark ausgebildete ideologische Positionen zugunsten pragmatischer Anforderungen einer „Neuen Normalität“ aufgegeben.
Die soziale Dimension spiegelt den Wechsel der politischen Verhältnisse, die in der Nachkriegszeit unter einer am Schwedischen Wohlfahrtsstaat orientierten Bedarfsbefriedigung für die Massen von Wohnungssuchenden standen. Analogien zum Wiener Wohnbau der Zwischenkriegszeit sind erkennbar.

Der englische soziale Wohnbau hatte unter der Labour-Regierung eine sozialistische Zuschreibung, waren doch zahlreiche englische Architekten auch am Spanischen Bürgerkrieg 1936-39 zur Verteidigung der demokratischen Bewegung gegen das faschistische Regime beteiligt. Den Entwürfen wurde neben der Funktionserfüllung eine revolutionäre Haltung eigen, die sich auch in der Anschauung des Rohen im New Brutalism niederschlug. Die Großwohnkomplexe waren die Flaggschiffe dieser Bewegung, aufgeladen durch das Postulat der gemeinschaftlichen Solidarität, Anreizen zur Gruppenbildung und einem gezielten Angebot von bedarfsdeckenden Funktionen. Zahlreiche dieser sind heute in einem heruntergekommenen Zustand, wie der einst revolutionäre Robin Hood Gardens estate mit seinen flying streets von Alison und Peter Smithson.

Die heutige gesellschaftliche Situation bringt völlig andere Bauwerke hervor, die das liberale politische System Englands spiegeln. Der Käufermarkt einer Wohnungsnachfrage wurde abgelöst durch einen Verkäufermarkt eines großen Angebots, das den gehobenen Ansprüchen genügen muss. Diese sind gute Erreichbakeit mit öffentliche Verkehrsmittln, bevorzugte  Aussichtslagen mit Kontakt zur Natur, Erfüllung zeitgemäßer ökologischer Anforderungen, Einbeziehung von Naturelementen in die Anlage, Vielfalt an Wohnungstypen zur Befriedigung unterschiedlicher Bedürfnisse bei bester infrastruktureller Versorgung. Die Betonung der Individualität wird zugeich mit einer Öffnung zum öffentlichen Raum hervorgekehrt, wobei verschiedene Nutzergruppen bei den Ergänzungsräumen zur Lebensbewältigung angesprochen werden. Formal ist keine einheitliche stilistische Ausrichtung erkennbar, jedoch scheint eine Hervorhebng optischer Signifikanz ein Attraktionsmoment zu sein.

TIME PATTERN
Die von mir im Hinblick auf die zukünftige Entwicklung der Stadt Beirut 1985 konzipierte Planungsstrategie eines TIME PATTERN als Steuerungsinstrument beim Wiederaufbau hatte die Chance zur Voraussetzung, nach den Zerstörungen völlig neu beginnen zu können. Dies traf auch in gewissem Maße auf Europa nach den Schäden des zweiten Weltkriegs zu. Diese Möglichkeit nutzten die Großwohnkomplexe in England und Deutschland, beschränkt auch in Österreich wie bei der Planung der Terrassenhaussiedlung in Graz-St. Peter. Waren es das eine Mal großflächige Zerstörungen durch Bombardements, war es das andere Mal die Umformung alter, funktionslos gewordener Industriegebiete. In beiden Fällen lag die Herausforderung in einer urbanen Bauform, die in Anlehnung an alte Städte Mehrfachnutzungen anstelle monofunktionaler Wohnbebauungen postulierte.

In den Vordergrund trat der zyklische Gedanke, der architektonische Prozesse als Wechselbeziehung von neuen Planungsstrategien wie Steigerungen der Dichte gegen Zersiedlung mit gesellschaftspolitischen Veränderungen, die sich als Bedürfnis nach Mitgestaltung behaupteten, erkannte. Diese Erkenntnis rückte von der utopischen Vision der 1920-er Jahre ab, durch Architektur eine neue Gesellschaft zu schaffen, da sich die auf reine technische Beherrschung gerichtete Vorstellung in einem hypertrophen Regulierungsverhalten und anonymisierender Serienproduktion tot lief. Die Zivilgesellschaft organisierte sich um Problembereiche, wie es die Widerstandsbereitschaft der Grazer Bevölkerung, nicht unwesentlich von der Leitfigur eines Prof. Hubert Hoffmann beeinflusst, in der Ablehnung der Führung einer übergeordneten Stadtautobahn durch Graz zeigte. Dieser oppositionelle Widerstandgeist war weiters maßgeblich an der Bildung neuer politischer Gruppierungen wie den Grünen beteiligt, die auch im Sinne einer ökologischen Verantwortung Forderungen an den Wohnbau stellten. Dieser Anspruch wurde bei der Planung der Terrassenhaussiedlung gestellt, wie er auch durch zahlreiche gleichgesinnte Wohnungsinteressenten als potenzielle Bewohner, die sich als Mitgestalter verstanden, realisiert wurde.

Nicht nur die Architektur hat auf diese Herausforderungen, neue städtebauliche Strukturen als zeitgesteuerte Prozesse einer Bewusstseinskultur zu sehen, reagiert, sondern auch die Künste haben diesen Schritt vollzogen. In den bildenden Künsten ist die Konkrete Kunst zu nennen, die den Herstellungsprozess als Überlagerung von Bewegungsmustern in den Vordergrund rückt. Einem Grazer Vorreiter, Gustav Zankl, folgen heute andere wie Klaus Wanker, der in einer kürzlich gezeigen Ausstellung mit dem Titel turbulenzen Raumverdichtungen aus linearen Bandelementen zeigt, die bei distanzierter Betrachtung aus Bewegungen hervogegangene räumlich verdichtete Stadtstrukturen zeigen. Diese tragen die Bestimmungsmerkmale von taktgebendem movens in der Symbiose von technischer Beherrschung und gesellschaftlicher Aneignung und sind auf die Gewinnung jener Freiheit gerichtet, die allein aus der bewussten Auseinandersetzung mit Architektur/Kunst hervorgeht.
Wie Zeitstrukturen räumliche Ensembles in unterschiedlicher Weise bestimmen, zeigen zwei Situationen: die Nutzung des Straßenraumes von Tel Aviv am Jom Kippur-Tag als Spielraum für die Bewohner und der Grazer Sonnenfelsplatz, bei dem in Vollziehung eines shared space die differenzierte Herabsetzung von Geschwindigkeit das Nutzungsbild studentenorientierter Lokale hervorbringt. 

BEIRUT
Auf die Stadt Beirut bezogen, lässt sich in mehreren Dimensionen oder Handlungsräumen die den Aufbauprozessen der Stadt zugrunde liegende „taktende Zeitmaschine“ nach Ludger Schwarte (1), als Wirkungsmechanismus verstanden, darstellen. Ich bezeichne TIME PATTERN dabei als zeitbestimmte Transformationsprozesse, die von einem  grobmaschigen bis zu einem kleinmaschigen Zeitraster Stadtstrukturen zu bestimmen in der Lage sind. Zu beobachten ist, dass in Beirut ein wirkender Handlungsspielraum ausgenützt wurde, der die lineare Fortführung der auf reine Ökonomisierung ausgerichteten Stadt der Vorbürgerkriegsära ablöste. Der Autor (1) nennt drei Erfahrungsdimensionen als solche Felder: die symboltheoretische, die phänomenologische und die machttheoretische.

Zur historischen Dimension
Die neue Chance eines Wiederaufbaus orientierte sich an den Anfängen der Besiedelung durch die Phoenizier, die den Landstrich an der Levante vor 6.000 Jahren kultivierten und von da aus den Mittelmeerraum beherrschten. Symboltheoretisch wird im nationalen Interesse das Bild des „sich aus der Asche erhebenden Phoenix“ aktiviert, das zugleich das Zurücklassen und die Erneuerung ausdrückt. Das Bild der Zeder als Nationalsymbol drückt diesen Glauben an die Überlebenskraft aus.
Die Zerstörung eines Großteils der Innenstadt ermöglichte, in zyklischer Vorstellung an den Anfang der Stadt zurückzugehen und historische archäologische Stätten aus einer Schicht von 10m mit phönizischer, griechischer und römischer Besiedelung ans Licht zu heben. Damit wurden auch neue Schneisen als Verbindung von den Bergen zum Meer als Grünzonen geschaffen. Eine diesen Umständen entsprechende Gesetzgebung führte die individuellen Eigentumsrechte in gemeinschaftliche über, indem den Beteiligten Gesellschaftsanteile einer Aufbaugesellschaft zugeteilt wurden. Durch eine neue Parzellierung, die jene erhaltensweren historischen Stätten aussparte und ein großräumiges Blockbausystem mit entsprechenender Straßenerschließung festlegte, wurde die Voraussetzung für die heutige Bebauungsstruktur geschaffen. Ein vorsorgliches begleitendes Tunnelsystem bietet die infrastrukturellen Anschlüsse. Der zentrale Stadtbereich konnte sich als urbane Zone in Analogie zu einer kleinräumigen Schleifenbildung, wie sie in den Mäandern eines Deltas erscheint, regenerieren, was einer Rückgabe an die Nutzer entspricht. Vorbild war das Gelände der Amerikanischen Universität, das die Kriegsereignisse aus Gründen einer von beiden Kriegsparteien anerkannten konfessionellen Durchmischung der StudentInnen im Hinblick auf den Ruf der Universität überdauerte.

In regionaler Sicht führte der Bürgerkrieg, der auf eine durch illegale Einwanderung zurückgeführte Migration palästinensischer Flüchtlinge mit Veränderung des demografischen Gleichgewichtes zwischen Christen und Moslems zum Ausbruch kam, zu einer konfessionellen Entmischung mit weitreichenden Folgen für die Stadtentwicklung. Eine quer durch die Stadt führende Grüne Grenze wurde zur Symmetrie- und Trennachse zwischen der christlichen und muslimischen Bevölkerung. Siedelte sich diese im Norden an, eroberte die andere den Süden. Es entstand eine aus dem Zusammenschluss mehrerer Küstenorte bestehende Bandstadt, die durch eine lineare Verkehrsbewältigung, dominat durch den Individualverkehr auf primären Straßen bestimmt, gekennzeichnet ist. Die baulichen Interventionen, von Hochhauskomplexen bis zu Packungen von Geschoßbauten, lassen dabei die von mir postulierten „Schleifen“ vermissen, die einer wirklichen Aneignung des Raumes als urbane Qualtät entgegenstehen. Allein im Bereich alter Stadtkerne wie der Küstenstadt Byblos und Touristenzentren wie Jounieh haben die historischen baulichen Strukturen hemmend gewirkt, sodass Oasen kommunikativen Lebens entstehen. Es sind auch die Orte, die von allen Schichten der Bevölkerung aufgesucht werden, um in den Souks zu flanieren. Offensichtlich wird es einige Zeit brauchen, bis die Entschleunigung als neue Chance gesehen wird, attraktive Orte im jungen Stadtgefüge zu schaffen.

Zur phänomenologischen Dimension
Man wird im Nahen Osten keinen Staat finden, der weltoffener und zugleich historisch verankerter ist. Der Libanon, vom Libanon-Gebirge abgeleitet, wurde immer wieder als die „Schweiz“ des Ostens bezeichnet. Hat die Stadt Beirut durch die Kriegsereignisse und den Aufstieg der Golfstaaten diese Rolle auch eingebüßt, findet die lokale Bevölkerung ihren geistigen Horizont über das kleine Land hinaus in der Welt. Es zeigt sich in der Sprachgewandtheit ihrer Bewohner, die üblicherweise 3 bis 4 Sprachen sprechen. Die im Westen über dem Meer stehende Sonne wird auf der Bühne des Lebens als Anziehungspunkt erkannt, auf den die längs der Küste sich entwicklnde Stadt mit Aufstieg zum Libanon-Gebirge ihr Gesicht richtet. Der Sommersitz des Präsidenten, der ehemalige Emirspalast Beit ed Din, zeigt die charakteristischen Elemente der Architektur des Libanon. Das von Ost gegen West absteigende Profil des Landes, auf eine Distanz von 40 – 50 km komprimiert, weist alle Klimazonen vom Hochgebirge über eine Mittelgebirgslandschaft bis zur mediterranen Mittelmeerküste auf. Diesem Gefälle folgen die Flüsse, die von den Gebirgsketten als Wolken-Stauzone der Seewinde dem Meer zufließen.

Die Architektur des Libanon ist auf den Sonnenzyklus von Ost nach West ausgerichtet, was in der traditionellen Bauweise klar zum Ausdruck kommt. Ein Österreicher, Professor an der AUB und ehemaliger Bauhauschüler, Friedrich Ragette, hatte in seinem 1974 erschienen Werk den klimatischen Besonderheiten seine Aufmerksamkeit geschenkt, die eine transparente Architektur der Anpassung an die Sonnenstände und der Durchlüftung durch die Berg-Meerwinde hervorbringt. In wenigen über den Krieg hinaus erhaltenen Bauwerken ist das erkennbar. Wir haben in einem Entwurf aus 1983 für ein Country Health Center an den Hängen des Libanonn auf diese Bedingungen durch ein dem Hang sich anschmiegendes Terrassenhaus zu entsprechen versucht. Darin ist ein TIME PATTERN verwirklicht, der dem Tagesrhythmus von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang entspricht. Durch vorspringende Terrassen und schattenspendende Arkaden kann auf eine energieintensive Kühlung verzichtet werden.

Die heutige Verbauung von Beiruts downtown weist neben der Rekonstruktion historischer Bauten das Bild einer zeitgnössischen Moderne auf, die sich auch in der Beauftragung bekannter europäischer und internationaler ArchitektInnen zeigt. Zaha Hadid baute innerhalb der Amerikanischen Universität ein dynamisch erscheinendes Institutsgebäude in Sichtbeton. Herzog und de Meuron realisieren gerade einen plastisch strukturierten Hochhaustower, der deutliche Elemente der Begrünung im Sinne einer aktuellen Green Architekture zur Schau trägt. Dabei wird den Anforderungen des lokalen Klimas deutlich besser entsprochen als bei anderen Hochhaustürmen, die als Bürohäuser auf vollständige Klimatisierung angewiesen sind.
Die Küstenlinie auf überwiegend neu gewonnenem Terrain wird als Freizeitzone erschlossen, die in niedriger bis mittelhoher Bebauung Hotels, Resorts, Restaurants und Marinas aufweist. In allen diesen baulichen Interventionen ist bei temporärer Nutzung eine Zeitstruktur baulich wirksam, die bei starker Funktionsmischung besonders die Ausrichtung auf das Meer als TIME PATTERN einem kleingliedrigen Netzwerk verdankt.

Zur machttheoretischen Dimension
Die Antwort berührt grundsätzlich die Frage, wie städtebauliche Vorstellungen politisch durchsetzbar sind. Im Falle von Beirut nach 15 Jahren Bürgerkrieg, der zugleich durch ausländische Interessen der Einflussnahme (teilweise Besetzungen des Landes durch Syrien und Israel als Folge der palästinensischen Einwanderungswelle 1969) gekennzeicnet war, ist bemerkenswert, dass sich die Kriegsparteien als verfassungsmäßigen Kompromiss ihrer Gründung eines autonomen Staates 1943 besannen. Damit war ein seit den 20er-Jahren bestehendes französisches Mandat zu Ende gegangen, das eine starke Bindung zum Westen herbeiführte und im ausgereiften Bildungswesen nachhaltige Spuren hinterließ.
Dieser politische Grundkonsens war die entscheidende Voraussetzung für den Willen zum Wiederaufbau von Beirut, der ab 1990 einsetzte. Die inhaltliche Basis bot französisches Know-how zur Erstellung eines Masterplans, der sich in Entsprechung der lokalen Voraussetzungen keiner funktionalistischen Doktrin verschrieb, sondern der Komplexität der historischen Stadt entsprechen sollte.

Einem ersten Touristenführer nach der Bürgerkriegsära entnehme ich den Satz: „In Beirut the unwary traveller is led round in ever-decreasing circles because the names used locally for places are not the names in your map, whatever language your map is in“.  Diese Aussage vermittelt, dass die Stadtnutzer, Bewohner oder Gäste, ihre räumlichen Erfahrungen in einem Zeitmuster, eben TIME PATTERN, machen. In enger werdenden Kreisen dringen sie in die Stadt ein, was darauf hindeutet, dass die Stadtstruktur unter dem Aspekt der Kommunikation sich in enger werdenden Maschen, was besonders auf eine orientalische Stadt zutrifft, entwickelt. Die Analogie zu einem Fluss ist naheliegend, der von einem zielgerichteten Oberlauf sich in einer Mäandrierung im Tal ausbreitet, wobei sich das Land den Fluss aneignet. Dem entspricht eine Abschwächung der Fließgeschwindigkeit, was auch auf das städtische Verkehrssystem anwendbar ist.

In diesem Sinn spiegelt Stadtentwicklung ein Wechselspiel von Beherrschung des Raumes durch ein technisch differenziertes Infrastruktursystem, das sich über Transformationspunkte, Plätze und Freiräume unterschiedlicher Funktionsbestimmung, und den Verhaltensweisen der Bewohner, die sich den Raum aneignen wollen, ausbreitet. Bereits die Stadt kann die Schwellen des Übergangs von Öffentlichkeit zu Privatheit anbieten. Dies geschieht in kommunikativen Nischen, die verschiedene kulturelle Ausrichtung aufweisen können.

Diese TIME PATTERN als zeitgesteuerte Transformationsprozesse lassen dabei Erfahrungen aus der Vergangenheit in die Visionen der Zukunft münden. Die Gegenwart fordert dabei die Entscheidung heraus, welche neue Ansprüche aus den vollzogene Zyklen an einen kurz-, mittel- oder langfristigen Zukunftsentwurf gestellt werden. Wie im „sand-glass-tree“, einem Stammbaum in der Genealogie, die Generationenwechsel als Einschnitte und Ordnungsdaten dargestellt werden.
Urbanität ist ein fragiler Zustand, der nicht ein für alle Mal aufrecht erhalten werden kann. Als Anspruch muss er immer wieder gestellt werden, mit jeweils anderen Mitteln. Beirut hat die Mäandrierung der Zeit als Chance angenommen, auch wenn die Stadt in der Überwindung alter Hemmnisse wie die schrankenlose individuelle Mobilität erst auf dem Weg ist. Ein hochrangiges Schnellbahnsystem nach dem Vorbild Japans sollte als lineares Bewegungsmoment im Gegensatz zu den urbanen Schleifen die ausgedehnten Stadt wieder zusammenwachsen lassen.

Die Mahnung aus dem Stadtführer, dass die Nennung von Orten einer Missdeutung unterliegen kann – in der Unterschiedlichkeit von Bezeichnungern und Plänen – enthält zugleich die Chance, die Aneignung der Stadt als poetischen Akt anzusehen, der eine besondere Atmosphäre erleben lässt.

Learning from Beirut – Larning everytime – Learning everywhere.

(1) Ludger Schwarte, Über die Erfahrung der Architektur - Eine Auseinandersetzung mit Michel Foucault, Vortrag bei der Österreichischen Gesellschaft für Architektur, Wien, am 19.02.2016

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