02/09/2015

Urbanität durch Dichte?
Geschichte und Gegenwart der Großwohnkomplexe

Karen Beckmann eröffnet neue Sichtweisen auf die Architektur der 1970er Jahre und Strategien für den Umgang mit Gebäudestrukturen dieser Art. Ihre Aktualität zeigen Projekte wie das Brunswick Center in London, die Olympiastadt in München und die Terrassenhaussiedlung in Graz-St.Peter.

Karen Beckmann (Dr.-Ing. Architekt) lebt und arbeitet als Architektin in Hannover. Ihre Forschungsschwerpunkte sind neben Architektur- und Städtebaugeschichte der 60er/70er Jahre Fragen zu Architekturrezeption und -produktion.

transcript Verlag, 2015
500 Seiten,
kart., zahlr. Abb.
39,99 Euro
ISBN 978-3-8376-3063-3

02/09/2015

Brunswick Center in London von Patrick Hodgkinson, 1972

©: Eugen Gross

Brunswick Center in London von Patrick Hodgkinson, 1972

©: Eugen Gross

Brunswick Center in London von Patrick Hodgkinson, 1972

©: Eugen Gross

Brunswick Center in London von Patrick Hodgkinson, 1972

©: Eugen Gross

Brunswick Center in London von Patrick Hodgkinson, 1972

©: Eugen Gross

Terrassenhaussiedlung Graz-St. Peter, 1978

©: WERKGRUPPE GRAZ

Terrassenhaussiedlung Graz-St. Peter, 1978

©: WERKGRUPPE GRAZ

Der Transcript Verlag, Bielefeld, hat ein bemerkenswertes Buch herausgegeben, das sich in umfassender Form mit Großwohnkomplexen der 60er- und 70er Jahre in Europa befasst. Autorin ist Karen Beckmann, die diese Thematik als Forschungsarbeit für eine Dissertation an der Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover behandelt hat.
Sie weist darauf hin, dass Großwohnkomplexe ein besonderes Feld innerhalb der wieder aktuellen Situation von urbanen Wohnquartieren als Stadterweiterungen darstellen, die durch zwei gegensätzlich erscheinende Merkmale gekennzeichnet sind: einerseits die Zeitbezogenheit auf eine „Boomzeit“ des Wiederaufbaus nach dem zweiten Weltkrieg und andererseits die Erkennbarkeit von Bruchlinien zur klassischen Moderne, die sich als Abkehr von den Prinzipien der städtischen Funktionstrennung im Gefolge der Charta von Athen darstellt und eine qualitative Funktionsüberlagerung postuliert. Dem entsprechend weist das Buch den Untertitel Geschichte und Gegenwart der Großwohnkomplexe auf.
Das Buch ist das Ergebnis einer profunden und systematisch fundierten Forschungsarbeit, das zugleich gut lesbar ist.

Zunächst wird das Forschungsziel als in die Zukunft weisende Problematik umrissen, dann eine Analyse der europäischen Wohnbauentwicklung hinsichtlich der Typologien und länderspezifischen Voraussetzungen vorgenommen und schließlich die Komplexität als entscheidendes Merkmal in den Vordergrund gerückt, die anhand einiger Fallbeispiele dargelegt wird. Diese umfassend analysierten Wohnanlagen sind das Brunswick Center in London, die Olympiastadt in München und die Terrassenhaussiedlung Graz-St.Peter.

Die Dissertantin hat zu diesem Zweck aufbauend auf einem Literaturstudium zu den Projekten diese besucht und Interviews gemacht, die sich auf die Erfassung der Planungsprinzipien, die Umsetzung als Bauwerk, Veränderungen am Bauwerk und die Nutzereinstellungen bezogen. An allen drei Bauwerken sind nach über 40-jähriger Nutzungsdauer Sanierungsmaßnahmen vollzogen worden, die jedoch das ursprüngliche Erscheinungsbild nur geringfügig veränderten. Trotz teilweiser negativer Einstellung der Öffentlichkeit zu diesen Bauvorhaben zur Zeit ihrer Errichtung – sie stellten „Inseln“ im Stadtkörper dar – konnte die Bewohnerzufriedenheit heute als unvermindert hoch festgestellt werden. Auf die Gründe wird in der Arbeit näher eingegangen.

Dem Buch wird einleitend die grundlegende Motivation der Autorin vorangestellt: „Entscheidend für das Forschungsinteresse an diesem Thema ist dabei die Feststellung, dass städtebaulich verdichtete Bebauungsstrukturen heute im Hinblick auf anwachsende Megastädte und dem Wiedererstarken der Stadt als Wohnort eine neue Aktualität erhalten“.

Die sozialgeschichtlichen Voraussetzungen der 60er- und 70er- Jahre bilden die Basis für die Auseinandersetzung mit dem Wohnbau. Auf der einen Seite sind es die Aufbaukräfte der Wiederaufbau-Zeit nach den Zerstörungen des 2. Weltkriegs mit dem sich daraus ergebenden Bau-Boom, auf der anderen revolutionäre Tendenzen, die auf eine Neuordnung der gesellschaftlichen Realität, die durch Stagnation gekennzeichnet war, zielten. Gesellschaftsentwürfe, die eine Befreiung von Zwängen auf allen Ebenen postulierten – Verwaltung, Bildung, Raumgestaltung – mündeten in utopische Entwürfe, die einen anderen Umgang mit dem Raum zum Inhalt hatten. Gemeinschaft bildende Kräfte, die der ressourcenfeindlichen „Raumvernichtung“ entgegenstanden, gewannen an Gewicht. Politische Entscheidungsträger begannen sich ihrer Verantwortung für eine urbane Umwelt, die mehr als Massenproduktion von Wohnbau sein musste, bewusst zu werden. Ungezügeltes Wachstum der Städte mit extensiver Landverschwendung sollte durch eine neue Konzeption des Städtebaus als kommunale Aufgabe hintangehalten werden.

Zugleich hatte sich architekturgeschichtlich ein Paradigmenwechsel vollzogen. Der CIAM – Congrès Internationale d`Architecture Moderne –, der über Jahrzehnte Träger von Architekturkongressen und freies Diskussionsforum der aufkommenden Erneuerungstendenzen in der Architektur war, hatte bereits 1953 bei einem Kongress in Aix-en-Provence unter dem Thema Habitat den Menschen in das Zentrum des Interesses gerückt. Teilnehmer wie Georges Candilis, Shadrach Woods, Alison und Peter Smithson stellten in Projekten die traditionelle Form der Straße als Kommunikationsraum hervor, um Konsequenzen für den zeitgenössischen Städtebau zu fordern:
„It is the idea of the street, not the reality of the street, that is important – the creation of effective group spaces fulfilling the vital function of identification and enclosure making the socially vital life-of-the streets possible“.
Bei weiteren Arbeitstreffen der den CIAM konstituierenden Gruppe schälte sich das TEAM TEN heraus, das über die französischen und englischen Teilnehmer hinaus die Proponenten der neueren niederländischen Architektur um den Vordenker Aldo van Eyck als auch Kenzo Tange einbezog, der die auf japanischem Denken aufbauende metabolistische Idee des Wandels in der Kontinuität vertrat. In Vorbereitung eines größeren Kongresses 1959 in Otterlo wurde auch Prof. Hubert Hoffmann als ehemaliger Bauhaus-Schüler, der auf die Städtebaulehrkanzel in Graz berufen worden war, eingeladen.

Dieser Kongress kann als die Geburtsstunde des Strukturalismus in der Architektur angesehen werden, bei dem anhand von Beispielen von Teilnehmern der Zeit ein besonderes Gewicht eingeräumt wurde. Bereits Allison und Peter Smithson hatten in einem Text darauf hingewiesen, dass es in der modernen Stadtplanung eines regressiven Schrittes bedarf, der auf wieder zu gewinnende Urbanität hinzielt. Diese müsse durch Überlagerung von Funktionen und Vermischung zu erhöhter Kommunikation und Verlebendigung des Stadtbildes führen. Durch Differenzierung der Typologien der Wohnbauten und Wegführungen auf verschiedenen Ebenen sollte dieser herbeigeführt werden, wobei der Begriff der Straße als neuer Kommunikationsraum aufgefasst wird. Strukturalistisches Denken verleiht dabei der Rezeption – eine individuelle Qualität – neben der Produktion – eine technologische Herausforderung der Zeit – entsprechendes Gewicht.

Die Autorin gewichtet daher Ihre Kriterien der differenzierten Wohnhaustypologie, der Funktionsüberlagerung und der Integration in den öffentlichen Raum in wohnpsychologischer Sicht, in der weniger die technische Umsetzung eines Programms als die reale Wohnerfahrung steht. Entsprechend hat sie neben einer Übersicht über eine Reihe bemerkenswerter Wohnanlagen der europäischen Nachkriegsmoderne drei ausgewählte Beispiele persönlich besucht, analysiert und Einwohner bzw. Bauträger interviewt.

Vorausgehend hat sie eine kurze Charakteristik von nahezu 30 Wohnanlagen in Europa vorgenommen. Sie reicht im Hinblick auf die Integration des öffentlichen Raumes vom frühen Beispiel der vielbeachteten Hangsiedlung Halen bei Bern vom Atelier 5  über die Autobahnüberbauung Schlangenbader Straße von Architekten Heinrichs und G.+ K. Krebs in Berlin bis zur Großwohnanlage Toulouse Le Mirail von Candilis, Shadrach, Woods. Auch der Erhaltungszustand der Wohnanlagen, die mehrfach experimentellen Charakter hatten, wird angesprochen. Dabei ist nicht zu übersehen, dass einige dieser Wohnanlagen nur in teilweiser Umsetzung des Programms realisiert wurden, gravierende Veränderungen in der Zeit erfuhren oder bereits aus sozialen oder technischen Gründen abgetragen wurden.

Als die drei gewählten Fallbeispiele von Großwohnanlagen, denen die Autorin einen hohen Grad von struktureller Komplexität im Hinblick auf ein Entwicklungspotential für den Wohnbau der Zukunft zumisst, sind zu nennen:

Olympiadorf in München
Das Olympische Dorf, das für die Sommerolympiade 1972 von den Archiekten Heinle, Wischer und Partner und Architekt Werner Wirsing (Flachbau) errichtet wurde, stellt einen Großwohnkomplex dar, der einen Wechsel von einer öffentlichkeitsbezogenen Anlage zu einer bewohnerbezogenen für ca. 3.000 Wohnungen erfahren hat. Beherbergte sie zunächst die Athleten, die gemeinsam versorgt wurden und denen die nahen Sportstätten der Spiele zur Verfügung standen, erfolgte anschließend die Besiedlung durch Neubewohner. Dieser Prozess ging nicht reibungslos vor sich, da die angebotenen öffentlichen Räume erst von diesen „erobert“ werden mussten. Allmählich wuchs das Ausmaß an interner Kommunikation, wobei die bauliche Struktur von mäanderförmigen Geschoßwohnbauten und vorgelagerten Flachbausiedlungen die Randbedingungen bieten. Entsprechend wuchs die Bewohnerzufriedenheit, die mit einer öffentlichen Akzeptanz einhergeht.
Dies ist eine Voraussetzung, dass eine bauliche Erneuerung und Sanierung in den letzten Jahren vonstattengehen konnte, die ebenso durch „smarte Sanierungen“ den baulich-ästhetischen Wert einer als Zeitzeugnis geltenden Anlage sicherzustellen versuchte. In diesem Sinn wurden in größerem Ausmaß Sichtbeton-Bauteile durch geeignete Innendämmungen, die den heutigen Standards entsprechen, in ihrem Charakter erhalten. Das ursprünglich planende Architektenteam wurde teilweise in die Sanierung einbezogen, die den Planungsprinzipien in zeitaktueller Form unter Anwendung technischer Neuerungen entsprechen sollte.

Brunswick Center in London  
Kürzlich führte mich ein Besuch nach London, wo ich das Brunswick Center im Stadtteil Bloomsbury besuchte. Die nordöstlichen Londoner Bezirke zeigten nach Zerstörungen einen starken Zuzug nach dem 2. Weltkrieg, was zu größeren Projekten im Kultur- und Wohnbau führte. Neben dem bekannten Barbican Center mit Wohnungen, Kultur- und Shopping-Center wurde das öffentlichkeitsbezogene Brunswick Center zu einem Pilotprojekt urbaner Verdichtung, das strukturalistischen Prinzipien im Sinne zeitaktueller Strömungen zu folgen versuchte.
Dem planenden Architekten Patrick Hodgkinson war es gelungen, den aus zwei längsgerichteten 3- bis 5-geschoßigen Terrassenbauten gebildeten Komplex, der multifunktional genutzte Freiräume auf erhöhtem Niveau umschließt, zu einer „lkone“ der englischen Nachkriegsarchitektur im Sinne des Brutalismus zu machen. Eine Bezugnahme auf die georgianische Umgebung sollte unbeschadet des raumplastischen Konzepts in der Farbgebung in einem Beigeton erfolgen, wurde vom Errichter jedoch verworfen. Die Stadt London hat schließlich dem Projekt den Grade II verliehen, was es zu einem als Zeitzeugnis geltenden schützenswerten Objekt erhebt.
Dem entsprechend hat eine in den letzten zehn Jahren vollzogene Generalsanierung auf den ursprünglichen Entwurf Bedacht genommen, indem der planende Architekt als Konsulent des beauftragten Büros Levitt & Bernstein einbezogen wurde (durch Bauträgerwechsel war er 1972 nicht mit der Fertigstellung befasst). Die stadtzentrale Lage hat bei der Sanierung mit gewissen Erweiterungs- und  Umbauten wohl zu einer in der Besucherfrequenz erkennbaren Aufwertung des öffentlichkeitswirksamen Freiraums geführt, der allerdings durch eine Einschränkung der Durchgängigkeit und strikte Trennung der Erschließungswege für die Öffentlichkeit und die Bewohner erkauft wurde. Dagegen wurde die ursprünglich vorgesehene Farbgebung der Sichtbetonteile nunmehr ausgeführt.
Der Entwurf sah als urbane Insel einen wenig ausgeprägten Naturbezug zum dicht verbauten Umraum vor, der allein als Durchgang zu einem östlich angrenzenden Park besteht. Durch Bepflanzungen auf dem öffentlichen Freiraum, künstlerische Interventionen mit Aktivierung des Wassers (Projekt Susanna Heron) und Bemühungen der Bewohner um Begrünungen im Terrassenbereich ist dieser Naturbezug im Zuge der Generalsanierung aufgewertet worden.
Das Brunswick Center bietet sich heute als attraktiver urbaner Bereich dar, der hochwertige Wohnnutzung mit städtischem Leben durch Geschäfte und Restaurants verbindet. Er stellt eine Landmark im Stadtraum dar, die angesichts der Errichtungszeit zwischen 1965 und 1972 ohne Zweifel programmatisch eine Bruchlinie zur Moderne markiert.   

Terrassenhaussiedlung Graz – St.Peter
Die Autorin hat nach Studium von Sekundärliteratur – über die Terrassenhaussiedlung liegt zum Unterschied von den anderen Fallbeispielen keine umfassende Gesamtdokumentation vor – auf Projektunterlagen der planenden Werkgruppe Graz (1) zurückgegriffen.
Sie charakterisiert sie als Großwohnanlage, die sich durch stadtnahe Lage, eine differenzierte Wohnungstypologie und Einbeziehung eines öffentlichen Freiraums als betont bewohnerorientierte Anlage ausweist. Dieser Charakteristik wird durch die Kleingliedrigkeit und das hohe Maß von Partizipation beim Wohnungsausbau bestätigt.
Dabei beobachtet sie einen gleitenden Übergang von einer Wohnstruktur halböffentlichen Charakters – Kommunikationsräume auf verschiedenen Ebenen – zu einem verstärkten Öffentlichkeitsbezug durch die zunehmende Inanspruchnahme von Raumgruppen für Zwecke tertiärer Raumnutzung. Dies geschieht neben dem Innenbereich auf mehreren Etagen durch die Erweiterung über den engen Raum der Siedlung hinaus, die sich als Attraktionspunkt im Siedlungsraum Graz-Südost ausweist. Die Autorin merkt an, dass die erkennbare durch das Terrassenhaus initiierte bauliche Entwicklung im Umraum in gewisser Weise das von den Architekten geplante Geschäftszentrum mit Hotel Garni auf der Fußgängerebene kompensiert. Gerade diese Funktionsmischung hat programmatisch dem strukturalistischen Konzept des 1965 entstandenen Entwurfes entsprochen.
Die Typologie der Wohnbauten als zweiseitig abgestufte Wohnhausscheiben – aus Besonnungs- und Orientierungsgründen – evoziert als freie Mitte einen „Hinterhofcharakter“, der sowohl der Erschließung als auch der öffentlichen Nutzung dient. In besonderer Weise sieht die Autorin die betonte Einbeziehung der Natur zum Unterschied der anderen gewählten Fallbeispiele ausgeprägt, wobei sowohl die für Bewohner und Besucher erlebbare Durchlässigkeit zum Parkgelände als auch die Bepflanzungen innerhalb der Anlage den ökologischen Aspekt zum Ausdruck bringen. Sie hebt den guten Erhaltungszustand der Anlage hervor, der eine Identifizierung der Bewohner mit ihrem Umraum hervorhebt. Ein Entwicklungspotential für den Wohnbau – wenn auch hinsichtlich von analogen Großwohnanlagen für Graz aus entwicklungsgeschichtlichen Gründen nicht nachvollziehbar – wird in der Komplexität der räumlichen Konzeption erkannt, die in ihrem programmatischen Charakter die Umbruchstendenzen der Moderne manifestiert.

Zusammenfassend ist das Werk als profunde und anschauliche Darstellung des Wohnbaues in Europa mit dem Schwerpunkt der Entwicklungsanstöße der 60- und 70-er Jahren zu nennen, die auch ein Potenzial für die bauliche Zukunft eines auf Verdichtung ausgerichteten Städtebaues enthalten.

(1) Eugen Gross, Friedrich Groß-Rannsbach, Werner Hollomey, Hermann Pichler mit Walter Laggner und Peter Trummer.

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