12/12/2011
12/12/2011

Das vom Institut für Architekturtheorie, Kunst und Kulturwissenschaften der TU Graz veranstaltete Symposium beschäftigte sich mit der Rolle der Architektur in einer neoliberalen Welt zwischen Kritik und Affirmation.

Anselm Wagner, Architektur- und Kunsthistoriker, -theoretiker und -publizist ist Professor am IAKK.

Tahl Kaminer, Architekturtheoretiker und Publizist, unterrichtet an der Delft School of Design.

Rixt Hoekstra ist Architekturhistorikerin und unterrichtet an der University of the Arts in Arnhem.

Ana Jeinic unterrichtet am IAKK der TU Graz und konzipierte das Symposium gemeinsam mit Anselm Wagner.

Maria S. Giudici ist Architektin und arbeitet im PhD-Programm "The City as a Project" am Berlage Institut in Rotterdam.

Gideon Boie, Architekt und Philosoph, betreibt mit Matthias Pauwels das BAVO research office und unterrichtet an der Sint-Lucas School of Architecture in Brüssel.

Arie Graafland, Architekturtheoretiker und Publizist, ist Professor für Architekturtheorie an der TU Delft.

Jeremy Till, Architekt und Publizist, unterrichtet an der University of Westminster und ist der Dekan der dortigen Fakultät für Architektur.

Teil 2 der Nachlese zum Symposium "Is there (anti-)neoliberal Architecture?" des Instituts für Architekturtheorie, Kunst- und Kulturwissenschaften an der TU Graz.

Die Architektur einer Epoche repräsentiert immer den jeweiligen "Zeitgeist" und hält ihn fest. Sie spricht von Wünschen und Ideen einer Zeit, vom Geschmack und den Gefühlen einer Zeit (Ole W. Fischer). Und unsere Zeit ist die des Neoliberalismus. Der Neoliberalismus selbst hat Wesenszüge eines Phantoms: Jeder hat Angst vor seiner Allgegenwärtigkeit, aber niemand sagt von sich, er sei neoliberal. Besonders in Europa wird der Begriff fast ausschließlich im negativen Sinn verwendet. Tatsache ist aber, wie Anselm Wagner, der das Symposium gemeinsam mit Ana Jeinić konzipierte, einleitend festhielt, dass wir alle im Neoliberalismus leben wie Fische im Wasser: Wir sind ein Teil von ihm und schwimmen in seinem Strom.

In der Postmoderne hat sich der Mainstream der Architektur – nach dem Ende der hoffnungsvollen Debatten der 68er-Jahre über die Wirksamkeit von Architektur in der Gesellschaft – von politischen Ansprüchen weitgehend abgewandt. Es entstand die Auffassung, dass Architektur in erster Linie die bestehende Gesellschaftsordnung nachzeichne, festschreibe und damit als Instrument den jeweils Mächtigen diene. Heute stellen sich wieder viele die Frage nach einer Architektur, die sich nicht unterordnet, sondern unabhängig agiert. Architektur und Stadt würden nicht mehr nur als Produkt, sondern auch als Subjekt der Gesellschaft verstanden, konstatiert Tahl Kaminer von der TU Delft. In den Sechzigern träumten viele Architekten von der gesellschaftlichen Revolution und entwarfen umfassende kritische Utopien; später wurde von den Post-Critics eine pragmatische Veränderung in kleinen Schritten propagiert. Heute steht die Architektur vor dem Problem, mit ihrer Kritik an den glatten Oberflächen des Neoliberalismus keinen Halt zu finden. Wie soll eine Architektur, die in ihrer Produktion eng mit neoliberalen Strukturen und deren Akteuren verwoben ist, relevante Kritik üben? Rixt Hoekstra von der University of the Arts in Arnhem sieht in der suggerierten Alternativenlosigkeit und verführerisch gemütlichen, scheinbaren individuellen Freiheit, in der wir nach dem "Ende der großen Erzählungen" (Jean-François Lyotard) leben einen Grund für die Schwierigkeit der Kritik am Neoliberalismus.

Form vs. Prozess
Ana Jeinić geht auf der Suche nach einem kritischen Umgang mit dem Neoliberalismus zurück auf David Harvey und sein Konzept vom Neoliberalismus als Utopie des Prozesses im Gegensatz zur "klassischen" Utopie der räumlichen Form. Die einzige genuine Form des Neoliberalismus ist die endlose Ausdehnung, die antagonistisch zur determinierten, durch Ein- und Ausschluss gekennzeichneten architektonischen Form steht. Das Ziel besteht darin, ausgehend von der gegenwärtigen architektonischen Praxis, Harveys Konzept einer dialektischen "formal-­‐prozesshaften" Utopie weiterzudenken, um eine realisierbare Alternative zum neoliberalen Status quo anbieten zu können.

Die architektonische Zeichnung bannt einen Moment, egal ob zukünftig, schon vergangen oder in der Gegenwart, in eine Form. Sie ist eine Verwirklichung des Konzepts des Politischen, der bewussten Entscheidung, dass der prozesshaften Undeterminiertheit des Neoliberalismus widerspricht, weil es unweigerlich zu Brüchen im neoliberalen Fluss führt.

Seit rund drei Jahrzehnten erleben wir nun aber vermehrt Entwurfsstrategien, die die Form dem Prozess ihrer Herstellung unterordnen und sich damit dem neoliberalen Wesen bedienen – dabei aber nicht zwangsläufig dem Neoliberalismus unkritisch gegenüberstehen müssen. Das antikapitalistische Konzept der Multitude als demokratisch organisiertes, auf sozio-räumlichen Beziehungen basierendes Netzwerk ist, wie der neoliberale Prozess, antagonistisch zur begrenzenden architektonischen Form.
Ein der Idee der Multitude nahestehendes Projekt am niederländischen Berlage Institut präsentierte Maria S. Giudici: Für Athen, eine ausgeprägt neoliberale Stadt und ein "Monument des Laissez-faire", wurden anstelle eines Masterplans generische Typologien entwickelt und damit wurde der prozessuale Charakter des Neoliberalismus übernommen, um den negativen Folgen einer unkontrollierten Stadtentwicklung entgegen zu wirken.

„Kritik entsteht aus dem Wechselspiel von Theorie und Praxis“ (Bernard Tschumi)
In diesem Dialog positioniert Gideon Boie vom Brüsseler Büro BAVO Kritik am Neoliberalismus. Anhand von Fallbeispielen untersucht er die gesellschaftliche Funktion von konkreten architektonischen Interventionen auf Nachbarschaftsebene und regulierenden Eingriffen der Verwaltung, um soziale Ziele, wie etwa die Erhaltung einer heterogenen Bewohnerschaft in einem Quartier, zu erreichen. Die Diskussion führte bis zur noch jungen Frage der Gentrifizierung, die ebenfalls ein neoliberales Phänomen ist, das nur schwer von der Aufwertung von Straßenzügen oder von, für ihre Umgebung relevanten Gebäuden abzukoppeln ist.

Andere aktuelle Entwicklungen, die eng mit dem neoliberalen Paradigma verbunden sind, wurden in den Vorträgen von Arie Graafland, Professor an der TU Delft und Jeremy Till, Dekan an der University of Westminster, in den Vordergrund gestellt. Während Graafland die Auswirkungen der sich rasant entwickelnden Informationstechnologien auf den architektonischen Diskurs und die architektonische Praxis kritisch beleuchtete, sprach Till über die Verknappung von Ressourcen. Der Kreislauf von Knappheit und Nachfrage sei nur durch einen grundsätzlichen Wandel, weg vom neoliberalen System des "want" hin zum essenziellen "need" (dessen Bedarf bei besserer Verteilung relativ leicht gedeckt werden könnte) zu durchbrechen. Der Fetisch einer übertechnisierten Nachhaltigkeit sei auf jeden Fall keine wirklich nachhaltige Lösung.

Wir wissen nun: Es kann neoliberale Architektur geben. Wir haben eine Vorstellung davon, was sie auszeichnet und wie sie aussehen kann. Und wir haben noch viel Diskussionsstoff zum richtigen Umgang mit ihr.

Verfasser/in:
Martin Grabner, Bericht
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16. + 17.11.2023
 
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