24/01/2023

Krims Märchen: Die Kremlins oder die Rückkehr des Patriarchats und das neue Proletariat

Das Patriarchat gewinnt als Diktat, als Diktatur des Politischen wieder zunehmend an Bedeutung. Was ab den 80-ern des vorigen Jahrhunderts als Schubumkehr, als Eindämmung der Emanzipationsbewegung im arabischen Raum begann, erhält nach dem Zusammenbruch der realsozialistischen Welt auch bei uns langsam aber sicher wieder Einzug – in Form des Patriarchen, des „starken Mannes“. Nur, wer stark ist, braucht der anderen, des anderen Geschlechts Stärken nicht zu fürchten und muss nicht auf die Schwachen, die Schwächen anderer treten.

Die Kolumne zeitenweise von Wolfgang Oeggl erscheint jeden 4. Dienstag im Monat.

24/01/2023

What have you done with my socks, dear?

©: Severin Hirsch

In letzter Zeit überkommt mich oft das starke Gefühl, dass sich die Geschichte wiederholt, fast in minutiösem einhundertjährigen Abstand, und ich hege große und meines Erachtens berechtigte Zweifel, ob wir auch nur das Geringste aus der Geschichte lernen können. Freilich, es ist nicht unsere Geschichte, zumindest sind die meisten unter uns nicht persönlich in diese Geschichte involviert gewesen und folglich können wir nicht aus unseren eigenen Fehlern lernen. Dieser vermeintliche Freibrief gibt uns die fragwürdige Gelegenheit, dieselben Fehler wie unsere Ahnen zu machen und somit zum wiederholten Male in die Geschichtsfalle zu tappen. Spanische Grippe, Weltwirtschaftskrise, Zuflucht zu Nationalismen, Rufe nach starken Männern, Brandmarkung vermeintlich Schuldiger, Flucht in den Krieg. Es riecht nach Wiederholung, nach Schnee von gestern.

Herrschaft – das besagt schon der Name – ist ein männliches Prinzip in seiner symbolischen Form, die auf Machtausübung, Besitzaneignung und Eroberung beruht und sich in weiterer Folge vornehmlich über die Sexualität als biologische Tatsache ausgibt. Tatsächlich aber ist die Inkorporation oder die Internalisierung derartiger Strukturen wie Macht oder Herrschaft (wie auch die Unterscheidung von Mann und Frau in ihren „charakteristischen“ Eigenschaften) nichts anderes als die Übernahme und Anerkennung/Verkennung von symbolischen Formen, die mit den Prinzipien von Position und Opposition, also mit binären Codes, arbeiten. Bourdieus Buch Die männliche Herrschaft entfachte zum Ende des vorigen Jahrtausends heftige Diskussionen unter den Feminist*innen in Frankreich aufgrund der Einseitigkeit seiner Darstellungsweise, ohne Bezug auf wissenschaftliche feministische Literatur und Gender Studies zu nehmen. Vor allem seine These, dass die männliche Herrschaft (auch als Dominanz in der Sexualität) von beiden Geschlechtern als biologische Gegebenheit, als „natürlich“ – und nicht etwa als soziale Konstruktion von Geschlechtszugehörigkeit und Identität, eben als symbolische Form – angenommen wird, stieß auf vehemente Kritik, versuchten doch Feminist*innen allerorts die künstlich konstruierten Geschlechterverhältnisse zu demaskieren, zu dekonstruieren und für Gleichberechtigung abseits von Sprache, vom Symbolischen, von Vorstellungen und Vorurteilen zu sorgen.

Als gegen Ende des 2. Jahrtausends v. Chr. die Dorer in Nordgriechenland und vornehmlich am Peloponnes einfielen, führte dies auch zu einer groben Umstrukturierung im Reich der griechischen Göttinnen und Götter. Robert (von Ranke-) Graves, britischer Schriftsteller und Dichter, beschreibt in Griechische Mythologie die sozialen Umbrüche, die durch diese Invasion stattfanden. Es handelt sich hierbei auch um die Ablöse des Mythos hin zum Logos, zur Ära der Vernunft, des festgeschriebenen Wortes, des väterlichen Gesetzes. Zur damaligen Zeit lebten auf griechischem Gebiet vornehmlich matriarchalisch und matrilinear organisierte Völker ohne große Expansionsambitionen und die theokratische Hierarchie stand ebenfalls im Zeichen der Göttinnen. Der Mythos ist zumeist – aufgrund der mündlichen Weitergabe – eng mit dem Matriarchat, den Zyklen des Lebens, der Natur und der biologischen Weitergabe des Lebens verbunden. Durch den Logos als gesetztes Wort bekommt auch der Mann die Möglichkeit, etwas über sein Leben hinaus weiterzugeben, sich fortzusetzen, sich in das ewige Leben einzuschreiben. Die Dorer, vermutlich aus dem süddalmatinischen Raum, waren eine militärische Aristokratie und mit ihrem waffentechnologischen Vorsprung auf Expansion ausgerichtet, und durch ihren Einmarsch im nordgriechischen Raum wurde das Patriarchat zur geregelten Herrschaftsform. Mit dem Verlust des Matriarchats verloren auch die Göttinnen ihre gewichtige Rolle in der Götterhierarchie und der Mythos wurde zurückgedrängt – und mit ihm zugleich die symbolischen Formen der weiblichen Macht. „Die Errichtung des Patriarchats beendete die Periode des echten Mythos; seine Fortsetzung ist die historische Legende, die im Lichte der allgemeinen Geschichte verblaßt.“ (Robert von Ranke-Graves, Griechische Mythologie. Quellen und Deutung. Hamburg 1984. S. 18.)

Die Gewichtigkeit der Rolle der Frau verblasst, sie wird selbst zum Mythos, begraben unter Schichten von Schriften, unter herrschaftlichen Symbolen, einer 3000 Jahre währenden Geschichte, die von Männern erzählen und geschrieben sein will. Der Vatergott und sein Fleisch gewordener Logos, der Kloß im Hals, die geschwollene Zunge, erzählen die Geschichte. Die Wahrheit, Aletheia, Tochter des Zeus oder der Zeit (Chronos), ist nicht Teil dieser Geschichte. Im vorigen Jahrhundert machte die Emanzipationsbewegung – nicht zuletzt aufgrund zweier Weltkriege, in denen hauptsächlich Frauen das System aufrechterhielten – vor allem ab den späten Sechzigern bedeutende Schritte auf die Männerwelt zu und half auch reflexionsfähigen Männern dabei, ihr eigenes Bild zu durchleuchten, die Konstruktion von Männlichkeit zu durchbrechen und dadurch eine gesellschaftliche Befreiung aus der klassischen Rollenverteilung herbeizuführen. Doch um Veränderungen hervorzubringen, bedarf es nicht nur des Willens, des Durchhaltevermögens, der Konsequenz, es ist dafür auch Solidarität und eine globale Choreographie, ein zeitliches Zusammenspiel notwendig – und selbstverständlich auch die politische Umsetzungskraft. Wird der Mensch schwach, aufgrund von Erschöpfungs-, Angst- oder Stresszuständen, helfen ihm Routinen und Muster bei der Bewältigung des allfälligen Alltags. Er wird anfällig, wieder in zu überwinden wollende Muster zurückzufallen. Ein ähnliches Phänomen lässt sich momentan in Fragen der Emanzipation und der Gleichberechtigung – selbst in den ehemalig realsozialistisch regierten Ländern, in denen die gesellschaftspolitische Position der Frauen jenen der Männer (zumindest formal) stets ebenbürtig war – beobachten. Der Konservativismus nimmt wieder zu, die Rollenbilder verstärken sich, beide Geschlechter sind zu schwach, um dem Anderen Stärken zuzugestehen, es werden vergrabene Muster, symbolische Formen wieder angeeignet, das Andere, das Fremde wird aus dem Selbst ausgegrenzt, die Hierarchie der Schwachen, der Schwächen, der Schwächsten hat eine breite, stark abfallende Basis und an der Spitze steht der starke Mann, der Patriarch mit seinem verlogenen Logos, erzählt uns die Geschichte, erzählt uns, wer Schuld trägt, wer im Recht ist, wer auf wen noch weiter nach unten treten kann. All diese Trumps, Orbans, Kurzs, Janšas, Putins, Bolsonaros, Erdoğans, Vučićs und wie sie alle heißen oder heißen werden, die ihre Macht und ihren Profit auf den Rücken der Schwächsten mit Lügen und Betrügen aufbauen und mit scharfen Sprüchen ihre Markierungen in der Geschichte setzen, all diese skrupellosen Lobbies, denen kein Weg zu grausam, kein Mittel zu unmenschlich ist, um ihre Einflusssphäre auszuweiten, all diese Magnaten, für die der Kampf um die Spitze des Reichtums ein Spiel ist, für das Bauern geopfert werden müssen, all jenen Schurken, Ganoven, Kriminellen geht es nicht um Ideale, um Gerechtigkeit, um Menschen, um Menschlichkeit. Für sie sind wir Zahlen, die sie auszahlen, wenn es sich für sie auszahlt oder die sie auszählen, wenn dem nicht so ist. Unsere Schwäche ist ihre Stärke, unsere Ohnmacht ihre Macht. Und für sie zählt einzig das Recht des Stärkeren, weshalb auch Krieg und Gewalt probate Mittel sind, um Macht und Stärke zu demonstrieren.

Wir sind keine Opfer. Auf einer Opferrolle aufgebaute Identitäten bedienen dasselbe Oppositionssystem, das auch die Herrschaft rechtfertigt. Wie schon Stuart Hall im postkolonialen Diskurs bemerkte, exkludiert die Opferrolle die eigene Handlungsfähigkeit. Wir sind Teil eines Systems, das wir mittragen und mitverantworten und zudem handlungs- und entscheidungsfähige Individuen. Wer sich stark fühlt, braucht die Stärken der anderen nicht zu fürchten oder deren Schwächen auszunutzen. Aber wir sollen uns ja schwach fühlen, ohnmächtig in die Entscheidungen über unsere Zukunft einzugreifen. Das Geld wie auch die Ressourcen werden knapp, wir sind das Kanonenfutter der Reichen und Mächtigen. Russland steuert in Richtung Sowjetunion, die Rüstungskosten explodieren, ein Land, das für einen Krieg arbeitet, den es nicht will, die Armen hungern, während die Führung von ihren gut beheizten Datschen aus deren Schicksal besiegelt. Das Proletariat erlebt einen weltweiten Aufschwung, erhält Zuwachs durch all jene, die arbeiten müssen, die geregelten Jobs nachgehen, um überleben zu können, ohne sich großartigen Besitz aufzubauen, während das Bürgertum für seinen Besitz, sein Erbe arbeitet, um ihn zu schützen und zu vermehren. Und all jenen unter uns, die arbeiten, um zu überleben und nicht des Besitzes wegen, sei getrost gesagt: Wir sind das neue Proletariat! 

Netzwerktreffen
16. + 17.11.2023
 
GAT+