10/08/2003
10/08/2003

Samstag, 9. August 2003

Erste und zweite Klasse

Havanna zerfällt in Zonen historischer Rekonstruktion und in Zonen des Vergessens. Wer sich aus dem Touristengehege der Altstadt herauswagt, wird mit irritierenden Phänomenen konfrontiert. Eine Architektur-Reportage aus der kubanischen Hauptstadt von Gerrit Confurius

Dem frühstückenden Gast in der oberen Etage des Hotel Sevilla präsentiert sich ein morbides Panorama einer zerfallenden Stadt, die einer zerklüfteten Karstlandschaft ähnelt. Zu ebener Erde allerdings sorgen eilfertige Führer und die Bereitschaft, sich führen zu lassen, dafür, dass man nur das zu sehen bekommt, was man sehen soll: nicht Land und Leute, sondern eine Art folkloristischen Themenparks. Der organisierte Urlaub findet möglichst ohne Kontakt mit der einheimischen Bevölkerung und ihrer Lebenswirklichkeit statt. Die Besucher werden gettoisiert in den über die Küstenregionen verstreuten Ressorts oder auf festgelegten Routen herumkutschiert.

Selbst in Havanna wird das Touristenleben kanalisiert. Die Stadt ist in Zonen eingeteilt, die miteinander kommunizieren, mit ihrer Umgebung aber jede Berührung meiden. Die Stadt zerfällt in sichtbare und in verbotene Zonen. In Zonen historischer Rekonstruktion und Zonen des Vergessens. Wer sich aus dem Touristengehege der Altstadt herauswagt und in angrenzende Wohnviertel verirrt, wird mit irritierenden Phänomenen konfrontiert. Castro hatte damals vieles unternommen, Ungleichheit zu beseitigen. 1959 begann die große Umverteilung mit Verordnungen zur Neuregelung der Eigentumsrechte und des Land-Stadt-Verhältnisses. Der Mindestlohn wurde erhöht, die Preise für Arznei, Strom und Gas und für den öffentlichen Verkehr wurden drastisch herabgesetzt. Dem Landproletariat wurde zu Besitztiteln verholfen, und ein Gesetz sieht vor, dass jeder Haushalt über Mietkauf Besitzer der eigenen Wohnung wird. Man wollte administrativ sichern, dass die Wohnung Gebrauchsgut bleibt, und die Spekulation unterbinden. Inzwischen wohnen 85% der Bevölkerung in eigenen vier Wänden. Die Regierung ist auch mit Recht stolz darauf, dass Kindersterblichkeit und Analphabetismus so gut wie nicht mehr existieren. Kuba bietet Hochschulzugang für jedermann. Besaß das Land 1959 noch 58 Krankenhäuser, sind es heute 257. Die Lebenserwartung erlebte einen Anstieg von fast 50%.

Aber wenn man genauer hinschaut, gibt es eine tiefe Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Die erwachsene Bevölkerung ist zwar des Lesens und Schreibens kundig, aber sie findet keine Gelegenheit, das Erlernte zu praktizieren. Es gibt weder Bücher noch Tageszeitungen zu kaufen. Ärzte verschreiben Medikamente, aber jeder weiß, dass sie in der Apotheke nicht zu haben sind, sondern nur gegen Dollar zu Schwarzmarktpreisen. Es gibt Informatiker, die niemals einen Computer gesehen haben.

Ähnlich widersprüchlich verhält es sich mit der Wohnungspolitik. Mit der Übertragung der Eigentumstitel war auch die Verantwortung für Instandhaltung und Erneuerung auf die Bewohner übertragen worden. Aber ohne ausreichende finanzielle Mittel, Baumaterial und die nötigen handwerklichen Kenntnisse kann niemand ein Haus sanieren. Mit der Spekulation und der Grundeigentümerklasse wurde auch die Verantwortung für die Erhaltung der Bausubstanz abgeschafft. Industrielle Methoden und die Zuweisung des Problems an zentralisierte Großbetriebe führten wie in der ehemaligen DDR in eine Sackgasse. Am deutlichsten sind die Folgen dieser Kurzsichtigkeit in der Hauptstadt.

Durch Zuzugsbeschränkungen und Entwicklungsstopp wollte Castro die regionalen Disparitäten abbauen. Die Stagnation Havannas führte aber dazu, dass kaum noch neue Wohneinheiten gebaut und keine Maßnahmen zur Erhaltung der vorhandenen Bausubstanz ergriffen wurden, und zum Verfall ganzer Straßenzüge. Bereits 1985 kam eine Untersuchung zu dem Ergebnis, dass in Havanna 40% der Bausubstanz abbruchreif sei, weitere 23% dringend sanierungsbedürftig. Gleichzeitig gab es vermehrten heimlichen Zuzug. Selbst wenn er durch Emigration - Havanna wurde als Sprungbrett nach Florida angesehen - zum Teil wieder ausgeglichen wurde, kamen auf einen legalen Bewohner bald fünf illegale. Unter diesen Umständen entwickelte sich ein ganz eigener Haustyp. In Selbsthilfe hat man in vielen Häusern die Geschoße unterteilt und zusätzliche Decken eingezogen (barbacoa) und Aufbauten, vor allem Freiluftküchen, auf die Dächer gesetzt (azotea). Derartige Ansätze zur Selbsthilfe wurden kurzzeitig unterstützt - flankierend wurden die illegalen Zuwanderer legitimiert (ocupantes legitimos) - dann, wo nicht administrativ erstickt, durch Materialknappheit verunmöglicht. Seit 2000 wird Zuzug nach Havanna nur dem genehmigt, der nachweisen kann, dass ihm mindestens zehn m Wohnfläche zur Verfügung stehen.

Im Altstadtkern hat man einen Modellversuch gestartet, das denkmalgeschützte Bau- ensemble mit von der Unesco koordinierter internationaler Hilfe vor dem Zerfall zu bewahren. Das Büro Cenrem der Unesco stellt Mittel für die Infrastruktur zur Verfügung. Die Firma Habaguanex S.A., der alle touristischen und gastronomischen Dienstleistungsbetriebe der Altstadt unterstellt sind, richtete einen Sanierungsfonds ein. Die Sorge, dass die Stadt sich von unentbehrlichem ausländischem Kapital abhängig machen könnte, ist nur allzu begründet. Aber man hat Vorkehrungen getroffen.

Die kubanische Baufirma lässt nur Kooperationen mit 51% eigenem Kapitalanteil zu. Alle Maßnahmen müssen im Rahmen eines Masterplans genehmigt werden. Das Büro der Officina del Historiador hat zusätzlich das Recht, bei allen hier ansässigen Betrieben eine Sanierungs-steuer zu erheben. Verdrängung und Segregation freilich lassen sich kaum verhindern. Wie in der DDR war durch den Plattenbau das Bau-handwerk ausgestorben, müssen die handwerklichen Fähigkeiten erst wieder erlernt werden. Das Handwerk, als engstirnig belächelt und als Brutstätte des Kapitalismus verteufelt, war der vermeintlich zukunftsorientierten Industrie geopfert worden.

Dank ausländischer Hilfe gibt es jedoch wieder Ausbildung, und mit einer Fabrik für Fliesen nach traditioneller Art ist ein Anfang gemacht worden, auch die Produktion von Baumaterial wieder zu etablieren. Das gegenwärtig verfolgte Konzept - unter den gegebenen Umständen das denkbar Beste - bleibt auf Havanna Vieja beschränkt. Die weit stärker von Zerfall betroffenen Stadtteile Centro Havanna, Vedado, Cerro bleiben weiterhin sich selbst überlassen. Die Aussichten, das einzigartige Bauensemble - nicht wenige Bauhistoriker sprechen von der schönsten Stadt der Welt - vor dem endgültigen Verfall zu bewahren, sind gleich null. Dabei ließe sich durch Sanierung das Defizit an Wohnungen von ca. 600.000 Einheiten durch Instandsetzung um 60% reduzieren.

Das Alltagsleben ist von zahlreichen Entbehrungen gekennzeichnet. Der Zerfall der Bausubstanz ist nur der sichtbare Teil einer allgemeinen Misere. Die Lebensmittel-Grundversorgung über staatliche Zuteilungssysteme ist ungenügend. Die Waren auf dem freien Markt sind jedoch fast nur noch gegen Dollar erhältlich. Haushaltsgeräte ohnehin. Immerhin sind mittlerweile die Dollarläden nicht mehr nur für Touristen und Funktionäre reserviert. Tägliche Stromausfälle verlangen eine gute Haushaltsorganisation. Wasserknappheit zwingt zur Vorratshaltung in Regentonnen.

Nach offizieller Lesart ist die Wirtschaftsblockade der USA der Grund für die Misere. Kuba sieht sich als Opfer einer globalen Intrige. Der tagtäglich im TV verbreitete Diskurs über die Unbeugsamkeit des kubanischen Volkes und die Segnungen des Sozialismus steht immer unübersehbarer im Gegensatz zur tatsächlichen Lebenswirklichkeit, in der nur derjenige, der über Dollar verfügt, in der Lage ist, sein Leben auf menschenwürdige Weise zu fristen. Die relative Armut derer, die keine Dollars haben, wird immer deutlicher sichtbar, während diejenigen, die dank ausgewanderter Familienangehöriger an den Dollarfluss angeschlossen sind oder vom Tourismus profitieren, immer ostentativer konsumieren.

Die Folge ist eine Form der Apartheid, die Teilung in Menschen erster und zweiter Klasse. Dollarbesitz ist entscheidend für das Überleben, während nahezu alle Gehälter und Löhne nach wie vor in Pesos ausbezahlt werden. Ein Kellner in einem Restaurant bekommt als Gehalt gerade so viel, wie ein Tourist für ein Abendessen ausgibt. Die wöchentlichen Trinkgelder eines Kellners übersteigen leicht das Monatsgehalt eines Chefarztes. Das Lohnniveau bietet nicht den geringsten Leistungsanreiz. Die finanzielle Attraktivität der touristischen Dienstleistungen führt dazu, dass akademisch ausgebildete Fachkräfte aus Berufssparten des Bildungswesens oder der Medizin ihre eigentliche Arbeit ganz aufgeben. Wer keine feste Anstellung in der Tourismusbranche findet, versucht touristische Dienstleistungen ambulant anzubieten. Manche bemühen sich um eine Lizenz, einen Teil ihrer Wohnung an Touristen zu vermieten (casa particular) oder im Wohnzimmer ein Restaurant zu unterhalten (paladares). Die sichtbarste Folge der Dollareinführung ist, dass das Verhältnis von Kubanern und Touristen generell vom Zwang zum Geschäftsabschluss bestimmt wird. Es entsteht das Bild von Touristen, die durch Einheimische bedrängt werden.

Innerhalb eines Jahrzehnts ist es gelungen, den Tourismus zu einem der wichtigsten Wirtschaftsfaktoren des Landes zu entwickeln. Von 1992 bis 1996 verdoppelten sich die Bruttoeinnahmen. Die Besucherzahlen steigen bis heute unverändert um jährlich 20%. 2010 rechnet man mit zehn Millionen jährlich. Der Preis ist die Spaltung der Gesellschaft und eine untergründige Veränderung der Werte. Dabei kann der Tourismus nicht die Lösung der wirtschaftlichen Probleme des Landes sein, solange er nicht produktiv wird. Als in den 90er-Jahren, nach dem Rückzug der Sowjetunion, die Wirtschaft zusammenbrach und dramatische Engpässe in der Lebensmittelversorgung zu sozialen Unruhen und zur Massenemigration führten, erkannte man die Notwendigkeit einer Reform der Binnenwirtschaft. Im Transportwesen und in der Touristikbranche wurde unternehmerische Selbstständigkeit zugelassen. Die gerade noch verteufelten Bauernmärkte wurden wieder eingeführt. Privates Kleingewerbe entwickelte sich schnell und trug spürbar zur Verbesserung der Versorgungslage und damit zur sozialen Stabilisierung bei.

Das private Kleingewerbe, in dem zeitweise 40% aller Erwerbstätigen Kubas tätig waren, wird inzwischen durch massive Steuererhöhungen wieder abgewürgt oder in die Illegalität gedrängt. Der Sektor schrumpfte um ein Drittel. Man konzentriert sich wieder auf die Re- integration Kubas in die kapitalistische Weltwirtschaft, ermöglicht durch die spektakuläre Legalisierung des US-Dollars 1993. Vor allem der Tourismus öffnete sich für Investoren. Als wichtigste Devisenquelle zwingt er zur Konzentration aller Kräfte. Durch repressive Justiz hat Castro sich den Zugang zu internationalen Finanzinstitutionen erneut verscherzt. Kuba muss immer mehr Importe mit kurzfristigen Krediten finanzieren. Neben einem wachsenden Haushaltsdefizit wächst auch die Devisen-verschuldung, die man auf über 13 Milliarden US-Dollar beziffert, nachdem die Schuldner schon einmal 1,8 Milliarden wegen Zahlungsunfähigkeit abschreiben mussten.

Mit dem Helms-Burton-Gesetz ist es den Exilkubanern gelungen, die Alteigentümerrechte in Kuba zum zentralen Drehpunkt der US-Politik zu machen. Es macht die Anerkennung demokratischer Strukturen in Kuba durch die USA abhängig von der Rückgabe sämtlichen konfiszierten Eigentums. Sollte es tatsächlich angesichts des Todes von Fidel Castro zu einer Wende kommen, dann wäre dieses Gesetz bereits der Geburtsfehler.

Denkbar, dass die Amerikaner an dem Embargo vor allem deshalb festhalten, um das Castro-Regime vor dem Zusammenbruch zu bewahren. Ohne Embargo und Grenzschließung drohte ein gewaltiger Migrantenstrom, verbunden mit vermehrten Kosten für humanitäre Hilfe. Regimekritiker sehen das Ende Castros nahen. Aber Kuba ist auf eine Metamorphose nicht vorbereitet. Alles muß sich ändern, und nichts darf sich ändern. []

Netzwerktreffen
16. + 17.11.2023
 
GAT+