22/10/2003
22/10/2003

Sinnestäuschung in der "blauen Blase"
Die erste Schau im neuen Grazer Kunsthaus widmet sich den Phänomenen der Wahrnehmung in der Kunst

Die erste Schau im neuen Grazer Kunsthaus widmet sich den Phänomenen der Wahrnehmung in der Kunst des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts. "Einbildung" zeigt die Kunst als gleichberechtigten produktiven Partner in der Kognitionsforschung. Vom Publikum wird Teilhabe verlangt, Aktivität, um die Werke zu komplettieren.

"Man muss Künstler finden, die kämpfen können", hat der venezianische Architekturtheoretiker Marco de Michelis zu den beiden Ausstellungsebenen des "Friendly Alien" der Architekten Peter Cook und Colin Fournier bemerkt. Denn auch im Inneren der "blauen Blase" verbirgt sich kein White Cube.

Im Gegenteil: Inszenierung, Verkleidung und Ausleuchtung der amorphen Gewölbe fordern vehement Dialog ein. Isoliert voneinander lässt sich im Bauch des Besuchers aus dem All der 60er-Jahre nichts betrachten. Die Wahrnehmung jedes Objekts ist strikt an seine wenig leise Umgebung gebunden. Dazu dienen auch die dominanten Rolltreppen der Grazer Dauerinszenierung, verhelfen sie doch den Staunenden zu Levitationserlebnissen ins Unbekannte.

Kunsthaus-Direktor Peter Pakesch hat die Einbildung - Das Wahrnehmen in der Kunst zum Thema der ersten Präsentation im neuen Bau gemacht. Kommenden Samstag wird die international bestückte Schau feierlich eröffnet - eine Herausforderung für Künstler, Kurator und Besucher. Geht es doch im Wesentlichen um Teilhabe, darum, Kunst als produktive Wissenschaft von den Vorgängen in unseren Gehirnen zu begreifen. Beteiligung wird abverlangt, dafür aber ein solider Erlebnisparcours geboten.

Etwa bei Marc Adrian: Noch bevor "Op-Art" zum Begriff und Victor Vasarély deren populäres Aushängeschild wurde, hat der Österreicher mit der Konvention gebrochen, dass vorrangig Kontemplation vonnöten wäre, Kunst zu erfahren, stille Versenkung in der Hoffnung, das Bild würde sich öffnen, sein Wesen preisgeben. Adrian verlangte schon 1955 Teilhabe, forderte vom Betrachter Bewegung ein - und die Bereitschaft, am Kunstwerk aktiv mitzuarbeiten. Er ersetzte den abschließenden Firnis des klassischen Tafelbildes durch Industrieglas, ließ seine "Bilder" durch Hunderte Linsen brechen. Je nach Betrachtungswinkel und Lichteinfall ergeben sich unzählige Varianten der Ausgangssituation. Der Betrachter ist daher gezwungen, in Bewegung zu bleiben, das Tafelbild als "Film" anzunehmen.

Über Alfons Schillings Rotationsbilder und stereoskopische Malereien, Chuck Closes vermeintliche Fotos, Heinz Gappmayrs knappe Angaben für komplexe Bilder im Kopf, Richard Kriesches Pioniertaten mit den jeweils gerade neuen Medien verläuft eine Linie, die an Markus Raetz' sinnlich verspielten Täuschungen vorbeiführt, Sarah Morris wie Ester Stocker streift - bis hin zu den trendigen Spiegelkabinetten und Kristallwelten des Olafur Eliasson.

Dem Erleben stellt Peter Pakesch im Katalog zur Schau einen fundierten wissenschaftlichen Handapparat nach. Csaba Pléh, Direktor des Budapester Zentrums für Kognitionswissenschaft, etwa erläutert einige "Gesichtspunkte der Theorien visueller Wahrnehmung im 20. Jahrhundert".
(DER STANDARD, Printausgabe, 23.10.2003)

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