30/08/2003
30/08/2003

Seit Jahrhunderten ist die Toskana ein fruchtbarer Nährboden für Kunst, Kultur, Wein und kulinarische Genüsse. Eine Ausstellung im Ringturm erweitert nun die Perspektive: der liebliche Landstrich hat auch eine eigenwillige, regional geprägte moderne Architektur zu bieten. Von Isabella Marboe

Hügelige Weinberge, Oliven und Zypressenhaine, römisch-antike Ruinen, Schlösser und Castelli: In südlichem Sonnenlicht verschmelzen Landschaft und Kultur der Toskana gleichsam zum italienischen Arkadien, wo Chianti und Brunello fließen. Ihre Hochblüte erlebte sie in der Renaissance. Unter der mächtigen Dynastie der Medici wurde Florenz zur bedeutenden Metropole, die Palazzi der Patrizierfamilien mit Sockelzonen aus schwerem Rustika-Mauerwerk und kunstvollen Rundbogenfenstern darüber wurden zum stilbildenden Bautyp einer Epoche. In den Uffizien entsteigt Botticellis Venus der Muschel, Bramante, Palladio, Alberti und Michelangelo drückten der Architektur ihre Stempel auf. Der Geist dieser Genies weht über der Toskana, gibt den hohen Maßstab vor, an dem sich Neues messen muss. Ein schwieriges Terrain für die Bauten des zwanzigsten Jahrhunderts.

In fünf Jahren Forschung dokumentierte die Fondazione Michelucci 500 nun Beispiele moderner Architektur aus der Region, ein Großteil ist in der Fotoausstellung im Ringturm zu sehen. Ein Hauch von "Toscanità" umweht auch das neue Bauen: Zeitgenössische Architektur artikuliert sich hier inhomogen, von Einzelpersönlichkeiten geprägt. Undogmatisch, poetisch und kreativ, bewegt sie sich im Spannungsfeld von alt und neu. Internationale Tendenzen werden spielerisch aufgenommen, um Regionalbezüge bereichert in ihr Umfeld integriert. Die Moderne der Toskana ist nie ortlos, bleibt verwurzelt in Kultur, Bautradition und Landschaft. Ihr Spektrum reicht von außergewöhnlichen individuellen, skulpturalen Positionen bis zu angepasstem, oft postmodernem Mittelmaß.

Erste zaghafte Vorboten des Neuen finden sich im Jugendstil, danach manifestierte sich der Fascismo im Gegensatz zu deutschnationaler Gigantomanie in der renaissancegeprägten Toskana klassisch modern. Die Ära Mussolini bescherte ihr einige herausragende Bauten des italienischen Razionalismo. Weltberühmt ist das Stadion "Artemio Franchi" von Pier Luigi Nervi und Giuntoli Alessandro in Florenz (1932). Wegweisend war auch der neue Hauptbahnhof (1933), den die "Gruppo Toscano" (Baroni, Berardi, Gamberini, Guarnieri, Lusanna) unter Leitung von Giovanni Michelucci plante. Sorgfältig in die Stadt gebettet, besticht seine klare Architektur mit der kaskadenartig über Eck in die Vertikale geführten Glasdecke. Das einzigartige Stellwerk (1932-34) entwarf Angiolo Mazzoni: ein raffiniert plastisch gestalteter, rot verputzter Baukörper aus Kuben, Schloten und Treppen mit markantem Rundturm.

Große Einzelpersönlichkeiten prägten die "Toskanische Schule". Giovanni Michelucci, Gründer der Stiftung, der "Fondazione", erlebte Weltkriege und Katastrophen mit. Als Sohn eines Kunstschmieds 1891 geboren, starb er zwei Tage vor seinem 100. Geburtstag. Sein Gespür für Material und Detail zeigt sich u.a. am elegant geschwungenen Stiegenhandlauf aus Marmor in der Palazzina Reale (1934-35) in Florenz. Mit der Malerin Eloisa Pacini verheiratet, kunstsinnig, weltoffen und sozial engagiert, verstand er Architektur als "progetto continuo", nahm immer Bezug zu Mensch und Umgebung auf. Als seine Handelsbörse von Pistoia in die Jahre kam, plante er sie ohne Zögern um. 1945/46 hatte sein bahnbrechender Beitrag zum Wiederaufbau der Gegend um den Ponte Vecchio gegen die starken bewahrenden Kräfte keine Chance. Michelucci verließ Florenz im Streit, um fortan als Dozent an der TH in Bologna zu lehren.

Als unübersehbare Landmark sitzt seine Chiesa di San Giovanni Battista (1961-64) in Campi Bisenzio. Rund geschwungene Natursteinmauern, wie ein Mantel breitet sich ein Blechdach über die eigenwilligen Formen: ein organischer moderner Sakralbau, der im Material eine regionale Tradition aufnimmt, ohne seine Gegenwart zu leugnen. Als Sohn der Toskana wusste Michelucci um die antiken Wurzeln, suchte nach neuen Anknüpfungspunkten, befasste sich mit dem Haus als Hütte und Turm, dem uneingeschränkt begehbaren Raum, der veränderbaren Stadt. Einige Bauten wurden erst nach seinem Tod fertig. Als Leitstern der "Gruppo Toscano", Vordenker und Lehrer prägte er in seiner offenen Haltung die Folgegeneration.

Seine Schüler Edoardo Detti, Leonardo Ricci und Leonardo Savioli führten die "Toskanische Schule" fort. Detti (1913-84) wirkte vor allem als Stadtplaner. Mit Carlo Scarpa plante er u.a. die Kirche von Firenzuola (1957), gestaltete ein Appartementhaus in Marina di Carrara konsequent als Betonkubus mit eingeschnittenen Terrassen und Fenstern. Ricci (1918-94) und Savioli (1917-1982) verband nicht nur der Vorname, sondern auch eine lebenslange, brüderliche Freundschaft und ausgeprägte Liebe zur Malerei. Beide planten die eigenen Häuser selbst, Lichteinfall und Kunstwerke im Innern vermitteln Atelieratmosphäre. Sie entsprechen dem Typ des Künstlerarchitekten, was sich auch an der expressiven Plastizität ihrer Bauten zeigt.

Ricci führte eine Künstlerwerkstatt in Moterinaldi als Ort der Begegnung. Hier trafen sich u.a. Marino Marini, Albert Camus, Savioli, Lionello Venturi, Bruno Zevi und Elisabeth Mann Borgese, deren Villa Ricci baute. Er orientierte sich an der Avantgarde, beschäftigte sich mit Wright, Corbusier, Aalto. Seine Konzeption des sozialen Wohnbaus als organisch gewachsene, flexible Makrostruktur aus Sichtstahlbeton war wegweisend, wurde aber oft nur fragmentarisch realisiert. Mit Savioli plante er die "Case popolari di Sorgane" (1963-80), eine mit mächtigen Betonstützen, auskragenden Flugdächern, Loggien und Balkonen eindrucksvolle Großform.

Savioli war ein charismatischer Lehrer. Baute er, gingen Kunst, Poesie und Architektur eine innige Verbindung ein. Ständig zeichnend, intensiv mit Malerei und Skulptur beschäftigt, fand er zu pulsierend dynamischer Räumlichkeit. Ins Bildgedächtnis gräbt sich sein "Edificio Il Triangolo" (1982-86) in Pistoia, ein auf schmalen Stützen schwebendes, gigantisches Dreieck. Architektur, die als monumentale, bewohnte Skulptur in der Stadtlandschaft steht. Mit Danilo Santi und Silvano Fabbri plante er die Villa Taddei (1964-66), plastisch artikuliert sie den Kontrast von leicht und schwer, Beton und Glas. Über horizontalem Fensterband wirkt das massive Flachdach schwebend, darauf hauchdünn ein Geländer. Savioli und Santi setzten Material gekonnt ein: In der Überdachung des Gemüsemarkts von Pescia (1970-71) kommt die Leichtigkeit des Stahls zum Tragen. Als Saviolis bestes Werk gilt die Erweiterung des Friedhofs Montecatini.

In den 60ern formierte sich die Utopisten-Avantgarde in Gruppen wie Archizoom, Superstudio. Heute bauen die "Exradikalen" sehr konventionell. Aus aktuellen Projekten ragt einzig die reduzierte, klare Architektur von Massimo Carmassi heraus. Trotz gewaltiger Dimension wirkt sein nüchterner Wohnblock in Cisanello (1985-88) nicht eintönig: Ziegelmauerwerk gibt ihm kleinteilige Struktur, Rundbögen zitieren abstrahiert ein Viadukt. Carmassis starke, strenge Großformen entfalten ihren eigenen Reiz durch gliedernde Elemente im Spiel von Licht und Schatten und das erdige Baumaterial. Fotos, wie sie im Ringturm zu sehen sind, vermitteln einen Eindruck, die gebaute Realität dahinter lässt sich nur erahnen. Eine Entdeckungsreise zur modernen Architektur in die Toskana dürfte sich lohnen. [] []

Toskana: Architektur der Moderne. Bis 3. Oktober 2003. Wiener Städtische Versicherung, Ausstellungszentrum im Ringturm, Schottenring 30, 1010 Wien. Mo-Fr 9-18 Uhr, Do 9-19.30 Uhr, freier Eintritt.

Hügelige Weinberge, Oliven und Zypressenhaine, römisch-antike Ruinen, Schlösser und Castelli: In südlichem Sonnenlicht verschmelzen Landschaft und Kultur der Toskana gleichsam zum italienischen Arkadien, wo Chianti und Brunello fließen. Ihre Hochblüte erlebte sie in der Renaissance. Unter der mächtigen Dynastie der Medici wurde Florenz zur bedeutenden Metropole, die Palazzi der Patrizierfamilien mit Sockelzonen aus schwerem Rustika-Mauerwerk und kunstvollen Rundbogenfenstern darüber wurden zum stilbildenden Bautyp einer Epoche. In den Uffizien entsteigt Botticellis Venus der Muschel, Bramante, Palladio, Alberti und Michelangelo drückten der Architektur ihre Stempel auf. Der Geist dieser Genies weht über der Toskana, gibt den hohen Maßstab vor, an dem sich Neues messen muss. Ein schwieriges Terrain für die Bauten des zwanzigsten Jahrhunderts.

In fünf Jahren Forschung dokumentierte die Fondazione Michelucci 500 nun Beispiele moderner Architektur aus der Region, ein Großteil ist in der Fotoausstellung im Ringturm zu sehen. Ein Hauch von "Toscanità" umweht auch das neue Bauen: Zeitgenössische Architektur artikuliert sich hier inhomogen, von Einzelpersönlichkeiten geprägt. Undogmatisch, poetisch und kreativ, bewegt sie sich im Spannungsfeld von alt und neu. Internationale Tendenzen werden spielerisch aufgenommen, um Regionalbezüge bereichert in ihr Umfeld integriert. Die Moderne der Toskana ist nie ortlos, bleibt verwurzelt in Kultur, Bautradition und Landschaft. Ihr Spektrum reicht von außergewöhnlichen individuellen, skulpturalen Positionen bis zu angepasstem, oft postmodernem Mittelmaß.

Erste zaghafte Vorboten des Neuen finden sich im Jugendstil, danach manifestierte sich der Fascismo im Gegensatz zu deutschnationaler Gigantomanie in der renaissancegeprägten Toskana klassisch modern. Die Ära Mussolini bescherte ihr einige herausragende Bauten des italienischen Razionalismo. Weltberühmt ist das Stadion "Artemio Franchi" von Pier Luigi Nervi und Giuntoli Alessandro in Florenz (1932). Wegweisend war auch der neue Hauptbahnhof (1933), den die "Gruppo Toscano" (Baroni, Berardi, Gamberini, Guarnieri, Lusanna) unter Leitung von Giovanni Michelucci plante. Sorgfältig in die Stadt gebettet, besticht seine klare Architektur mit der kaskadenartig über Eck in die Vertikale geführten Glasdecke. Das einzigartige Stellwerk (1932-34) entwarf Angiolo Mazzoni: ein raffiniert plastisch gestalteter, rot verputzter Baukörper aus Kuben, Schloten und Treppen mit markantem Rundturm.

Große Einzelpersönlichkeiten prägten die "Toskanische Schule". Giovanni Michelucci, Gründer der Stiftung, der "Fondazione", erlebte Weltkriege und Katastrophen mit. Als Sohn eines Kunstschmieds 1891 geboren, starb er zwei Tage vor seinem 100. Geburtstag. Sein Gespür für Material und Detail zeigt sich u.a. am elegant geschwungenen Stiegenhandlauf aus Marmor in der Palazzina Reale (1934-35) in Florenz. Mit der Malerin Eloisa Pacini verheiratet, kunstsinnig, weltoffen und sozial engagiert, verstand er Architektur als "progetto continuo", nahm immer Bezug zu Mensch und Umgebung auf. Als seine Handelsbörse von Pistoia in die Jahre kam, plante er sie ohne Zögern um. 1945/46 hatte sein bahnbrechender Beitrag zum Wiederaufbau der Gegend um den Ponte Vecchio gegen die starken bewahrenden Kräfte keine Chance. Michelucci verließ Florenz im Streit, um fortan als Dozent an der TH in Bologna zu lehren.

Als unübersehbare Landmark sitzt seine Chiesa di San Giovanni Battista (1961-64) in Campi Bisenzio. Rund geschwungene Natursteinmauern, wie ein Mantel breitet sich ein Blechdach über die eigenwilligen Formen: ein organischer moderner Sakralbau, der im Material eine regionale Tradition aufnimmt, ohne seine Gegenwart zu leugnen. Als Sohn der Toskana wusste Michelucci um die antiken Wurzeln, suchte nach neuen Anknüpfungspunkten, befasste sich mit dem Haus als Hütte und Turm, dem uneingeschränkt begehbaren Raum, der veränderbaren Stadt. Einige Bauten wurden erst nach seinem Tod fertig. Als Leitstern der "Gruppo Toscano", Vordenker und Lehrer prägte er in seiner offenen Haltung die Folgegeneration.

Seine Schüler Edoardo Detti, Leonardo Ricci und Leonardo Savioli führten die "Toskanische Schule" fort. Detti (1913-84) wirkte vor allem als Stadtplaner. Mit Carlo Scarpa plante er u.a. die Kirche von Firenzuola (1957), gestaltete ein Appartementhaus in Marina di Carrara konsequent als Betonkubus mit eingeschnittenen Terrassen und Fenstern. Ricci (1918-94) und Savioli (1917-1982) verband nicht nur der Vorname, sondern auch eine lebenslange, brüderliche Freundschaft und ausgeprägte Liebe zur Malerei. Beide planten die eigenen Häuser selbst, Lichteinfall und Kunstwerke im Innern vermitteln Atelieratmosphäre. Sie entsprechen dem Typ des Künstlerarchitekten, was sich auch an der expressiven Plastizität ihrer Bauten zeigt.

Ricci führte eine Künstlerwerkstatt in Moterinaldi als Ort der Begegnung. Hier trafen sich u.a. Marino Marini, Albert Camus, Savioli, Lionello Venturi, Bruno Zevi und Elisabeth Mann Borgese, deren Villa Ricci baute. Er orientierte sich an der Avantgarde, beschäftigte sich mit Wright, Corbusier, Aalto. Seine Konzeption des sozialen Wohnbaus als organisch gewachsene, flexible Makrostruktur aus Sichtstahlbeton war wegweisend, wurde aber oft nur fragmentarisch realisiert. Mit Savioli plante er die "Case popolari di Sorgane" (1963-80), eine mit mächtigen Betonstützen, auskragenden Flugdächern, Loggien und Balkonen eindrucksvolle Großform.

Savioli war ein charismatischer Lehrer. Baute er, gingen Kunst, Poesie und Architektur eine innige Verbindung ein. Ständig zeichnend, intensiv mit Malerei und Skulptur beschäftigt, fand er zu pulsierend dynamischer Räumlichkeit. Ins Bildgedächtnis gräbt sich sein "Edificio Il Triangolo" (1982-86) in Pistoia, ein auf schmalen Stützen schwebendes, gigantisches Dreieck. Architektur, die als monumentale, bewohnte Skulptur in der Stadtlandschaft steht. Mit Danilo Santi und Silvano Fabbri plante er die Villa Taddei (1964-66), plastisch artikuliert sie den Kontrast von leicht und schwer, Beton und Glas. Über horizontalem Fensterband wirkt das massive Flachdach schwebend, darauf hauchdünn ein Geländer. Savioli und Santi setzten Material gekonnt ein: In der Überdachung des Gemüsemarkts von Pescia (1970-71) kommt die Leichtigkeit des Stahls zum Tragen. Als Saviolis bestes Werk gilt die Erweiterung des Friedhofs Montecatini.

In den 60ern formierte sich die Utopisten-Avantgarde in Gruppen wie Archizoom, Superstudio. Heute bauen die "Exradikalen" sehr konventionell. Aus aktuellen Projekten ragt einzig die reduzierte, klare Architektur von Massimo Carmassi heraus. Trotz gewaltiger Dimension wirkt sein nüchterner Wohnblock in Cisanello (1985-88) nicht eintönig: Ziegelmauerwerk gibt ihm kleinteilige Struktur, Rundbögen zitieren abstrahiert ein Viadukt. Carmassis starke, strenge Großformen entfalten ihren eigenen Reiz durch gliedernde Elemente im Spiel von Licht und Schatten und das erdige Baumaterial. Fotos, wie sie im Ringturm zu sehen sind, vermitteln einen Eindruck, die gebaute Realität dahinter lässt sich nur erahnen. Eine Entdeckungsreise zur modernen Architektur in die Toskana dürfte sich lohnen.

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