30/09/2003
30/09/2003

Die Welt als Welle und Entstellung

In Graz demonstriert das neue „Kunsthaus“, warum die biomorphe Architektur an ihren eigenen Träumen scheitert

An der Südseite des Grazer Doms erzählen die Reste eines gotischen Wandgemäldes – es ist das „Plagenbild“ – wovor sich die Grazer einst gefürchtet haben: vor der Pest, vor den Heuschrecken und vor den Türken. Die Außerirdischen und Architekten zählten bislang nicht zu diesen Apokalypsen. Aber das kann sich ändern, denn am Wochenende soll ein Alien in der Altstadt gelandet sein. Und zwar in Form des soeben eröffneten „Kunsthauses“, das von seinen Architektur-Schöpfern Peter Cook und Colin Fournier (zusammen mit dem Grazer Büro Architektur Consult) als „friendly alien“ bezeichnet wird: als freundliches Wesen aus einer fremden Welt.

Es stellen sich also zwei Fragen: Ist das Gebilde freundlich? Ist es fremd? Demnach müsste das 40 Millionen Euro teure Kunsthaus, dessen 11 000 Quadratmeter umfassende Nutzfläche erst im Oktober durch die Kunstausstellung „Einbildung“ bespielt wird, einerseits stadtverträglich sein (friendly) – und andererseits müsste es formal, konstruktiv und haustechnisch als nie gesehenes Gebilde überzeugen (alien); es müsste also auf behutsame Weise visionär, futuristisch, innovativ und dergleichen mehr sein.

Beide Behauptungen sind solche des architektonischen Selbstbewusstseins; beide Behauptungen lassen sich leicht überprüfen. Einerseits: ja, das Kunsthaus ist stadtverträglich. Zwar erregt es durch seine weithin wirkende, kraftvoll ausgebildete Quallen-Statur inmitten barocker oder klassizistischer Nachbarn einiges Aufsehen; aber es ist dennoch räumlich präzise in das Schnittmuster der zum Weltkulturerbe gehörenden Grazer Altstadt am rechten Ufer der Mur unweit des Hauptplatzes eingepasst. Auf angenehm suggestive Weise wird diese beachtliche Kulturinstitution die Besucher anziehen und zugleich vital auf das Quartier abstrahlen. Insofern ist das Haus, das der Gegenwartskunst gewidmet ist, durchaus freundlich. Aber andererseits: nein, das Kunsthaus ist alles andere als eine Vision. Es sieht, im Gegenteil, schon am Tag seiner Eröffnung so alt aus wie die popbunten Plastik-Utopien der sechziger Jahre, die sich als rheumadecken-verhüllte Pensionisten unter geriatrischem Geächze ins Jahr 2003 geschleppt haben. Insofern ist das Haus durchaus kein Alien, sondern nur ein angejahrtes Alien-Kostüm, das jemand im staubigen Winkel eines Grazer Kostümverleihs aufgestöbert hat.

Im Knetmasse-Delirium

Das blähbauchhafte Acrylplatten-Alien aus Graz wird aber dennoch unverdrossen als Update-Version einer Architektur-Gattung namens „Biomorphismus“ gefeiert. Doch in Wahrheit kann man an diesem Fallbeispiel nur dessen Scheitern diagnostizieren. Wenn, wie behauptet, ein extraterrestrisches Biomorphismus-Objekt in Graz gelandet ist – dann mag uns dies auf womöglich leicht morphinistische Art eher freundlich lallend als feindlich gegenüberstehen. Aber das darf einen nicht wundern: Das äußerlich aufgeblasen-attraktive Alien ist nämlich organisch starr, halb tot und schon deshalb völlig harmlos. Man möchte es eigentlich seiner inneren Dürftigkeit und Verklemmtheit wegen in den Arm nehmen und trösten. Es fühlt sich ja schon in der Gegenwart so unsagbar fremd. Von der Zukunft der Architektur und der räumlich wirksamen Kunstvermittlung aber hat es nun wirklich keinen Schimmer – da mag der Bürgermeister Siegfried Nagl noch so sympathisch stolz und heiter-weltoffen am Eröffnungsabend jubilieren: „Our Kunsthaus stands for the future of our province.“ Er irrt sich gewaltig – gottlob.

Seit einigen Jahren wird fast täglich irgendwo auf der Welt der architektonische Biomorphismus entdeckt. Zuletzt beispielsweise in Birmingham, wo die Architekten von „Future Systems“ ein Kaufhaus als Smarties-Explosion inszeniert haben. Oder das gleichfalls in England realisierte „Eden Project“ von Nicholas Grimshaw. Oder ein Haus-Projekt namens „Casa Floralis Mutantis“ (Beyond-Design), das aus einer „fleischigen Pflanze, die innen räumliche Strukturen ausbildet“ bestehen soll. Oder das „Embryological House“ von Greg Lynn: Wohneinheiten, die wie Zellhaufen aussehen und zu lange in der Sonne waren. Mit Hilfe des neuen ästhetischen Referenzmythos der Biotechnik verbinden sich auf bizarre Weise das allgemeine Bio-Brezel-Bäckertum und die spezifische Orthogonal-Müdigkeit der üblichen Moderne-Kritik. So wächst derzeit eine Armee der gläsernen Seifenblasen und betonierten Würstchen heran – vorgeblich als „Bauten für das Genzeitalter“. Aber in Wahrheit sind einfach nur einige Architekten auf der Suche nach Inspiration und neuen Images einem komatösen Knetmasse-Delirium anheim gefallen. Neu ist an der Drall- und Schwall-Baukunst nur die hübsch-groteske Worthülse „Biomorphismus“. Alles andere kann man auch im Fundus der Baugeschichte studieren, wo das Interesse am Schnittpunkt von Natur und Kultur, von Technik und Organik gut bekannt ist. Das weiß vermutlich auch Bubble-Stylist Peter Cook, der, Jahrzehnte vor seiner Kunsthaus-Erfindung, unter dem legendären Label „Archigram“ nicht nur Science Fiction, Comics und die Beatles für die Architektur entdeckt hat – sondern auch das Erbe von Friedrich Kiesler, Richard Buckminster Fuller oder Bruno Taut.

In Graz sieht es so aus, als habe Cook sich endlich einmal einen Jugendtraum erfüllt. So etwas ist gefährlich. Vor allem dann, wenn man feststellen muss, dass der Traum vom schwerelosen, unbegrenzten, atmenden, osmotischen Raum am Ende aussieht wie eine grobschlächtige Laubsägearbeit. Wenn man irgendwo konstatieren kann, dass dem so genannten Biomorphismus zur technisch und ästhetisch geglückten Nachahmung organischer Strukturen noch immer die geeigneten Materialien und das konstruktive Wissen (vielleicht auch die ökonomische Potenz) fehlen: dann in Graz.

Aus dem, was die Architekten und Wettbewerbs-Juroren einst als „zweischalige, durchscheinende Membrane“ gepriesen haben, als intelligente, weiche, transzendente und transluzente Haut, worin ein organisch ausgeformter, fließender Raum die traditionellen Grenzen von Boden, Wand und Decke überwinden hätte sollen, aus all dem ist ein trübsinnig graudüsterer, dreigeschossiger Mehrzweckraum geworden, der sich steif und statisch unter eine dick gepanzerte Acrylplattenhaut zwängen muss. Wie die zwei oberen, durch grob ummantelte Rollbänder verstellten Ausstellungsebenen ohne dümmliche Stellwand-Architektur künstlerisch bespielt werden sollen: das ist gewiss die spannendste Frage einer Architektur, die der „lebendigen Spannung“ gewidmet ist. Der Rest ist: dauerelastischer Fugenkitt. Dieses hässliche Material haben die Architekten tonnenweise verarbeitet, um die Übergänge der Formen, Materialien und Volumina auch nur halbwegs geschmeidig zu machen. So ist eine Spachtelmasse entstanden, die an Karies und Billigamalgam denken lässt.

Darüber tröstet auch die kommunikative Medienfassade nicht hinweg (Konzept: „realities: united“). Und auch die behutsam restaurierte Gusseisen-Konstruktion des nunmehr erschlossenen Nachbarhauses – es ist eine der ältesten der Welt – vermag mit der unter den zitzenhaften Fensterstummeln breiig erstarrten Blasenform nicht zu versöhnen. Trotzdem möchte man dem Alien natürlich friendly einen rechten Winkel schenken.

GERHARD MATZIG

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