05/02/2019

So mancher will manches 2019 anders machen – Matera als Kulturhauptstadt

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Jeden ersten Dienstag im Monat veröffentlicht GAT in der Kolumne Aber Hallo! Anmerkungen von Karin Tschavgova zu aktuellen Themen von Architektur und gebauter Umwelt.

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05/02/2019
©: Karin Tschavgova

Ab einem bestimmten Alter sind gute Vorsätze zum Jahreswechsel nur mehr etwas für Realitätsverweigerer oder Masochisten. Unerschütterlich lebensfreudig in die Zukunft Blickende wie ich haben vielleicht mit sich selbst vereinbart, die guten Vorsätze in weniger herausfordernde, mehr dem Genuss verwandte Vorsätze ohne Anspruch auf Selbstoptimierung umzuwandeln. Einer dieser lustvollen Vorsätze ist Reisen. Das spießt sich – nicht erst seit die Schweden jüngst das Wort Flugscham erfunden haben, und die Nachtzüge dortselbst angeblich überfüllt sind – mit der Notwendigkeit, für die entfernteren Reiseziele das Flugzeug zu nehmen und seinen ökologischen Fußabdruck zum Beispiel mit einem einzigen Flug nach New York im Jahresmaß übersättigt zu haben. Was also tun, um beide Bedürfnisse unter einen Hut zu bringen? Ich versuche es mit dem Näherungsverfahren, das bei mir nichts mit dem mathematischen zu tun hat, das ich schon in der Schule als nicht notwendig verstanden habe. Mein Vorsatz ist, weniger weit zu verreisen und die Ziele, die man noch mit einer oder mehreren Tagesreisen erreichen kann, mit dem Zug oder dem eigenen Auto anzupeilen. Kurze Fernreisen wie mal übers verlängerte Wochenende nach Mallorca zum Wandern, werden wegfallen, auch solche, für fünf Tage nach Santorin zum ehemaligen Studienkollegen zu fliegen, der sich dort vor langer Zeit angesiedelt hat.
Mal sehen, ob mir dieser Vorsatz für 2019 und darüber hinaus gelingt, denn konsequent zu sein ist nicht meine Stärke, Ideen zur Kompensation mit weiterer (Konsum-)enthaltsamkeit im Alltag sind vorhanden.
Eine Reise habe ich mir vorgenommen – mit langsamer, stufenweiser Annäherung und ausreichend Zeit, um Land und Leute kennenzulernen. Ich werde in den Mezzogiorno reisen, in den Süden Italiens, in die Provinzen Apulien und die Basilikata. In letzterer befindet sich – genau, richtig schlussgefolgert – eine der beiden heurigen Kulturhauptstädte, Matera. An alle, die nun die Nase rümpfen, weil man doch nicht irgendwo hinfährt, nur weil es die Kulturhauptstadt ist: ich war noch nie dort und möchte diese Region sehen, Städte mit so klingenden Namen wie Ostuni, Monopoli und die barocke Küstenstadt Lecce kennenlernen.
Und ich werde nach Matera fahren. Nicht neu gebaute Infrastruktur (von der es nur den erneuerten Bahnhof des Mailänders Stefano Boeri gibt) oder neue Kulturbauten, extra errichtet für die Kulturhauptstadt sind mein Ziel (die es angeblich gar nicht gibt), sondern die Stadt selbst. Ich möchte erleben, wie diese Stadt mit 60.000 Einwohnern ihr Vorhaben umsetzt, aus dem Weltkulturerbe mit den berühmten Sassi und der barocken Überformung der Oberstadt kein Disneyland für Touristen entstehen zu lassen.
Die Programmatik ist eindeutig: man will keine Touristen anziehen, die den Ort nach drei Stunden Besuch abhaken, sondern Reisende als Gäste und Teilhabende, die sich die Zeit nehmen, die Stadt und ihre elftausend Jahre alte besondere Geschichte zu entdecken. Und ihre Bewohner. Die haben, wie sie betonen, immer schon alles Lebensnotwendige geteilt an diesem steilen Abhang zur Schlucht, den sie urbanisierten, um sich vor Angreifern zu schützen – den Tuffstein, in den sie Höhlen zum Wohnen für Mensch und Tier schlugen und die wenigen Wege, Treppen und Terrassen, die sie durch die Bearbeitung des Gesteins gewonnen hatten, das kostbare, lebensnotwendige Regenwasser in komplexen Rinnen und Zisternen und das wenige zu Feldern und Gärten gemachte Land.
Ich möchte sehen, ob und wie es der Kulturhauptstadt 2019 gelingt, ihre Bürger mitzunehmen auf diese Reise, wie sie die Bewohner und Bewohnerinnen einbezieht in ihren Plan. Ich werde mich eingliedern in Plan A, der Besucher symbolisch zu Mitbewohnern machen soll: einen „Passport 2019“ zum Preis von 19 Euro beantragen, damit vorübergehend die Staatsbürgerschaft erwerben, die ein Recht und eine Pflicht beinhaltet: das Recht auf Registrierung und die Pflicht, einen Gegenstand nach Matera bringen. Ich werde ein Buch aus meiner Heimat mitbringen, das mit den Büchern und Gegenständen der vielen anderen, die erwartet werden aus der ganzen Welt, zu einer Sammlung anwachsen soll. Vielleicht halten Sie, lieber Leser, das für naiv. Mir gefällt die Symbolik des dadurch manifestierten Miteinanders, denn letztlich ist die Welt, die wir haben, nur eine, und wir teilen sie. Eine andere „Bringschuld“ als Mitbürgerin auf Zeit strebe ich freiwillig an. Ich werde mein Italienisch aus vier Jahren Unterricht im Gynmasium erneuern und upgraden. Denn ich will natürlich auch mehrere der vielen Veranstaltungen (täglich angeblich fünf in der gesamten Basilikata) besuchen, die angekündigt sind und die man mit diesem Pass kostenlos besuchen kann – und in einen Dialog treten mit der Region. Das geht noch immer am besten durch eine gemeinsame Sprache. Bericht folgt nach hoffentlich gelingender Entschleunigung. Sorry, aber das kann dauern.

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