05/03/2019

Aber Hallo! 55

Jeden ersten Dienstag im Monat veröffentlicht GAT in der Kolumne Aber Hallo! Anmerkungen von Karin Tschavgova zu aktuellen Themen von Architektur und gebauter Umwelt.

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05/03/2019
©: Karin Tschavgova

Wie soll Stadt, die Welterbestadt, sich vor uns allen schützen können?

Vor wenigen Tagen kam ich aus Spanien zurück. Mehr als vier Tage verbrachte ich in Granada, wo wir Guiding-architects unser diesjähriges Meeting abhielten, zweieinhalb weitere in Cordoba. Beide Städte sind Weltkulturerbe-Städte. Granada mit der Alhambra (die, wie wenige wissen, eine autonome Stadt ist) und dem mittelalterlichen Albaicìn Quartier und Cordoba mit seinem historischen Kern rund um die berühmte Moschee, in die die katholischen Herrscher nach der Reconquista ziemlich schamlos eine mächtige Kathedrale hineinsetzten.
Am Weg nach Granada, irgendwann am Tablet beim Warten zwischen Bahn und Flug oder Flug und Bus, kam mir ein Kommuniqué unter, das ein paar Tage zuvor auf einer Konferenz der Organisation of World Heritage Cities (OWHC) in Wien entstanden ist. Es ging um das Spannungsfeld zwischen Bewahrung und Entwicklung des Welterbes in sich dynamisch entwickelnden Städten. Ich hätte dem möglicherweise nicht so viel Aufmerksamkeit geschenkt, hätte ich nicht die Erwartung gehabt, gerade jetzt in eine solche lebendige, sich dynamisch entwickelnde andalusische Stadt zu reisen.
Granada kannte ich nicht, hatte aber ein Bild von der Stadt. Meine Vorstellung von Granada, nein, mein Granada war Blanka, unsere Kollegin, die neuerdings als „Guiding-architect“ Andalusien vertritt. Blanka ist ein Energiebündel, eher ein angenehmer Wirbelwind, leichtfüßig, dabei sehr bei sich, selbstsicher und symphatisch unbefangen ihre Position einnehmend in unserer Mitte, dabei positiv und fröhlich. Und offensichtlich mit einem großen Erfahrungsschatz ausgestattet. Sie war erst ein Jahr zuvor in Budapest ins Netzwerk aufgenommen worden, aber sie wirkte damals schon, als wäre sie ein alter Hase unter uns. Als sie Granada als Austragungsort unseres nächsten Meetings vorschlug, dachte ich mir: Wenn das eine Neue kann, dann sie. Blanka stand also für Granada, bis ich mir selbst mit ihr als wunderbarer Erzählerin ein Bild machen konnte.
Granada ist eine von 300 Städten (der über 1000 Weltkulturerbestätten), die in der OWHC vereinigt sind, weil der Titel Weltkulturerbe mit der touristische Attraktivierung dieser Städte für sie auch erhebliche Schwierigkeiten bringt, die in gemeinsamer Interessenslage gelöst werden sollten. 
Wie ist das in Granada mit dem Spannungsfeld zwischen Bewahrung und Entwicklung?
Auf der Alhambra, der zauberhaften befestigten maurischen Palaststadt auf einem der beiden Hügelrücken, scheint dieses keine Konflikte zu bringen. Man hält sich noch heute an ein Gesetz, das die katholische Königin Isabella 1492 erließ, weil sie von der Schönheit der Anlage entzückt war und diese niemals verändert und zerstört sehen wollte (mit den Muslimen und Juden ging das Königspaar Isabella und Ferdinand nicht so zimperlich um, doch das ist eine andere Geschichte). Der Besucherströme versucht man Herr zu werden, indem man den Ticketverkauf durch Vorverkauf und zeitlich beschränkte Reservierung regelt und täglich nur eine Höchstanzahl ausgibt. Die 18 Familien, die das Recht haben, innerhalb der Stadtmauern zu leben, sind längst ausgezogen und sind auf der Alhambra selbst nur als Geschäftsleute tätig.
Anders im ältersten noch bestehenden Ortsteil Granadas, dem Hügel Albaicin.
Dieser ist durchzogen von einem Gewirr engster Gassen und Wege, manche nicht breiter als ein Karrenweg, die von weiß gekalkten Mauern begleitet werden, hinter denen sich Terrassen und Höfe mit Zitronen, Orangen und Weinlauben verbergen. Das Grundprinzip der maurischen Kultivierung – die Anlage von Terrassen, die im Lauf des Wachsens der Stadt als Verdichtung in immer kleinere Terrassen mit schmucken Häusern, den carmen, geteilt wurden – ist noch ursprünglich erhalten (carmen leitet sich vom Arabischen karm ab, das ursprünglich Weinberg bedeutete, später Haus um die Weinlaube). Diese kleinteilige Siedlungsstruktur scheint so intakt, und man wäre fast verleitet anzunehmen, dass auf ihr kein starker Verwertungsdruck laste. Dem ist nicht so, wie uns Blanka erzählt. Die Stadt hat zwar den Begehrlichkeiten nach einer Schneise durch den Albaicin für einen Boulevard, der direkt zur Bahnstation führt, gesäumt von neuen Hotels darauf, schon zum Ende des 19.Jahrhunderts mit einem Gesetz zum Schutz der Bebauung einen Riegel vorgeschoben, aber es hat sich dennoch, fast unsichtbar, Wesentliches geändert.
Die schmucken Häuser, deren Außenmauern häufig direkt an die schmalen Straßen grenzen, werden nicht mehr von ihren Besitzern bewohnt, sondern von Airbnb-Gästen. Ihre ursprünglichen Bewohner, darunter wohl hauptsächlich Ältere, haben ob der täglichen Besucherströme das Weite gesucht, ihr Haus an clevere Investoren verkauft und sich selbst in den neueren Quartieren angesiedelt, die bequem mit dem Auto erreichbar sind und mit allen infrastrukturellen Einrichtungen ausgestattet, die man sich als urbaner Bürger erwartet. Wem mag man das verübeln? Niemand schätzt es, wenn sich täglich Karawanen von Touristen, bewaffnet mit Kameras und Selfievorrichtungen, vor seinem Gartentor und dem Küchenfenster vorbeischieben und versuchen, eine der von der Terrasse überhängenden Orangen zu ergattern.
Genau das ist aber auch der Punkt, der sich nicht änderte, würde man die unter Druck stehenden Städte mit Welterbestatus eigens behandeln und eine Lockerung der Schutzvorschriften für sie erarbeiten. Wie könnte die Entwicklung des Albaicin im Spannungsfeld zwischen Bewahrung und notwendiger Neuerung ausschauen? Wie das zunehmende Problem des Massentourismus dort gelöst werden? Das ginge weder durch sanfte bauliche Erneuerung, die das Leben dort bequemer machte, aber die tägliche Hölle vor dem Haus nicht stoppte. Es ginge nicht durch die Errichtung haushoher Wände, die die Bewohner von der Touristenmenge schützen. Auch keine Möglichkeit wäre, die Zugänge zu dieser mittelalterlich labyrinthischen, aber offenen Stadtstruktur durch Reservierung und Tickets zu regeln, die man an Verkaufsdesks abholt.
Diese Reise hat mich weitergebracht. Sie hat mich einsehen lassen, dass jeder von uns die Musealisierung und dadurch die Zerstörung vitaler Strukturen von Welterbestädten mit verursacht, wenn er glaubt, dass er einmal im Leben all diese Schönheiten selbst, mit eigenen Augen, gesehen haben muss. Wir müssen erkennen, dass die Erhaltung all der atemberaubenden Schönheiten unserer Welt mit Verzicht einhergeht. Mehr Wert: nicht zehn in der günstigen Megapackung, sondern lieber eine in zehn Jahren. Die bedrängten Welterbe-Städte, das Klima und unsere Kinder und Kindeskinder werden es uns danken.

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