05/04/2022

Aber Hallo! 90

Nachbetrachtung des ersten Stadtdialogs

Jeden ersten Dienstag im Monat veröffentlicht GAT in der Kolumne Aber Hallo! Anmerkungen von Karin Tschavgova zu aktuellen Themen von Architektur und gebauter Umwelt.

05/04/2022
©: Karin Tschavgova

Nachbetrachtung der ersten öffentlichen Veranstaltung zur nachhaltigen Stadtentwicklung von Graz aus der Sicht des Citoyens. 

Zugegeben, selbst Wikipedia definiert den Citoyen etwas hochtrabend als „Bürger bzw. Staatsbürger, der in der Tradition und im Geist der Aufklärung aktiv und eigenverantwortlich am Gemeinwesen teilnimmt und dieses mitgestaltet“. Als Kolumnistin geht es mir jedoch nur darum, mit Citoyen nicht den gänzlich charmebefreiten Terminus Aktivbürger oder gar Aktivbürger*in zu verwenden und – was wesentlicher ist – den ersten Stadtdialog nicht als Expertin zu betrachten. 

Im Stück treten auf: Am Podium die seit der Stadtwahl für Stadtentwicklung, Stadtplanung und Verkehr zuständige Politikerin, der Stadtbaudirektor, der Stadtplanungschef, der Vorsitzende der Sektion Architekt:innen in der Kammer und sein Stellvertreter. Im Saal ein etwa 100-köpfiges, aufmerksam und gespannt lauschendes Publikum, dazwischen ein Moderator, der seine Rolle als vermittelnder Aufnehmer von Fragen und Fragesteller mit Umsicht und Verve, kurz: glänzend erfüllt.

Doch nun zum Inhalt der Auftaktveranstaltung. Die brachte Überraschendes - trotz meiner Befürchtung, dass ohne Eingrenzung und Fokussierung auf einzelne Themenfelder sowohl die kritische Feldbetrachtung als auch Arbeitsaufträge zur Entwicklung für eine zukunftsfitte Stadt allgemein geraten und zu kurz kommen könnten. 

Die Programmatik – wie man sich vorstellt, „Nachhaltigkeitsziele in strategische Planung und praktische Politikgestaltung“, sprich: Alltagsaufgaben zu integrieren - kam im Impulsreferat der Vizebürgermeisterin von Seiten der Politik. Und zwar ausschließlich von dort. Das erste Ziel, groß und dabei schon verdammt kurzfristig bis 2030: zum Kreis der 100 „Klimaneutrale(n) und intelligente(n) Städte“ zu zählen, eine „Mission“ der EU-Kommission, die 2020 zur Bewältigung großer gesellschaftlicher Herausforderungen ausgeschrieben wurde. Bis zu kleinen Vorhaben wie die Begrünung von Straßen, Plätzen und Fassaden kam vieles vor. Wie man den MIV, den motorisierten Individualverkehr, inklusive Pendlerverkehr „in den Griff bekommen“, also reduzieren möchte, wurde uns noch nicht verraten. Kein Wunder, ist doch dieses Thema eines der heiklen und eine Steuerung in die gewünschte Richtung läge, was die Pendler betrifft, in der Hand des Bundes. 

Dass auch von der Grazer Stadtregierung Ideen und Initiativen zur Eindämmung des Pendlerverkehrs kommen müssen, weiß jeder, dem klar ist, dass Stadtplanung nicht an der Stadtgrenze endet. Dieser Meinung scheint der Stadtbaudirektor zu sein, wenn er zu einem konkreten Beispiel von Wohnbebauung an der infrastrukturarmen südlichen Stadtgrenze beteuert, dass man von Seiten des Amts hier, am vor langem als Kerngebiet gewidmeten Areal, mit großem Einsatz ein schlechtes Investorenprojekt verhindert hat. Und wenn man, um das Statement zu untermauern, zum Vergleich des jetzigen Ergebnisses mit den Wohnbauten jenseits der Stadtgrenze rät. 

Dass gedeihliche Stadtentwicklung und Stadtplanung durch qualitätsvolle Architektur oder Baukultur gewährleistet sein könne, hört der Citoyen in mir auch aus dem Statement des Kammervertreters heraus. Als jemand, die sich seit langem für einen zeitgemäßen Stadtumbau und seine Herausforderungen interessiert, dazu recherchiert und schreibt, sehe ich das als fatalen Fehler. Warum? Weil eine robuste Stadt, die den Klimawandel nicht weiter anheizt, sondern ihm bestmöglich standhalten kann, nicht vorrangig aus guter Architektur geformt wird, sondern, siehe oben, von den Maßnahmen zur Eindämmung des MIV und wesentlich von einer Raumplanung, die gegen Zersiedelung und Versiegelung steht, in der Siedlungsgebiete attraktiv öffentlich erschlossen sein müssen und das Verhältnis von bebauten zu unbebauten Frei- und Grünflächen ausgewogen.

Änderungen im Kleinen, ja, selbst Reformen und Novellierungen von Gesetzen sollten im jetzt für Graz angekündigten Paradigmenwechsel möglich sein. Naturgemäß ist es keine Stunde null, die wir erleben, aber die Politik offeriert ein „Window of Opportunity“.

Was sich der Citoyen wünscht, dem die Stadt als Gemeinwohl ein echtes Anliegen ist, der eine Stadtentwicklung fordert, in der alle unterschiedlichen Player oder neudeutsch: Stakeholder zu Wort kommen? Mein Wunsch, um die Bühne für neue Zeiten „besenrein“ zu machen: Man möge doch, in allen zuständigen Verwaltungsebenen der Stadtentwicklung, aufhören zu glauben, dass man Nichtgelungenes, Fehler und Schwächen aus der Vergangenheit ständig weiterhin rechtfertigen müsse. Daraus lernen, ja, sie verteidigen, nein. Den Sprechrollen von Stadtbaudirektor und Stadtplanungschef stünde in der Inszenierung der Zukunft von Graz gut an, zu zeigen, dass sie sich gerne aufmachen, um an der neuen „Mission“ mitzuarbeiten. Dass sie als Experten kooperieren und Ideen für eine klimaneutrale und intelligente Stadt Graz mitentwickeln und mittragen werden. Dass sie gut arbeiten können, wenn sie frei von hoheitlichem Druck und Zwängen sind - nur ermutigt und ermuntert durch eine neue sachorientierte Stadtpolitik. Möge die Übung gelingen! Der Anfang ist getan, die Hand gereicht. 

Anonymous

ich glaubs erst wenn ich zeitnah die erste massnahme sehe oder erlebe.
denn neu ist nur die vizebürgermeisterin - der rest ist immer noch von der betonfraktion - die forderung des lernens ist höflich ausgedrückt.

Di. 05/04/2022 20:37 Permalink
Anonymous

1. solche öffentlichen Dialogen sollten mind. mit 50/50 Frauen, Männer und divers besetzt werden. 2. wo sind denn die Nicht-Männer in der Kammer oder bei den Spitzenbeamtem???? Es gibt sie, man muss halt nur wollen! Aja es ist mittlerweile 2022…

So. 10/04/2022 10:35 Permalink
Elisabeth Kabelis-Lechner

Danke für den guten Bericht über den Stadtdialog.
Ein paar Ergänzungen aus meiner Sicht:
Sehr unhöflich war, dass Vizebürgermeisterin Judith Schwentner nicht entsprechend begrüßt wurde. Sie wurde vom Moderatoer erst nach den Stäatements der Beamten auf das Podium gebeten und sie war auch nicht in den Dialog eingebunden. "Dialogisiert" haben zwei männliche Beamte und zwei männliche Kammervertreter! Aus Sicht einer Frau gant schlecht!
Sehr verwunderlich waren auch die Reaktionen und Antworten von Baudirektor Werle und Stadtplanungsamtleiter Inninger. Auf kritische Meldungen aus dem Publikum wurde beleidigt reagiert: " Nicht alles war schlecht, was wir gemacht haben". Hier fehlte eindeutig die Bereitschaft zu einem offenen Dialog.
Auf meine konkrete Frage, wie Werle und Inninger den von Judith Schwentner angekündigten Paradigmenwechsel in der Planung umsetzen werden, wo doch 20 Jahre das System Nagl praktiziert wurde, gab es keine zufriedenstellende Antwort. Laut Werle und Innigner wurde eh alles richtig gemacht.
Da kommt Skepsis auf, ob die Beamtenschaft überhaupt zu einem echten Paradigmenwechsle bereit ist.

Do. 07/04/2022 15:34 Permalink
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