03/10/2008
03/10/2008

Carl Moll. Der Naschmarkt in Wien, 1894. Ölgemälde. Copyright: Belvedere, Wien

U-Bahn-Bau, 1971. Fotografie. Copyright: Wiener Linien

Otto Wagner wird der Ausspruch zugeschrieben, der Karlsplatz sei kein Platz, sondern eine Gegend. Eine Charakterisierung des großen städtischen Freiraumes im Süden der Wiener Innenstadt läuft tatsächlich meist auf seine Undefinierbarkeit hinaus: Zwischenraum und Niemandsland, Nicht-Ort oder Un-Platz, Fragment und Torso, aber auch offener Ort und Hoffnungsraum für neue städtebauliche Konzepte. Ein Ort der Widersprüche allemal. Im 20. Jahrhundert haben sich einige der prominentesten österreichischen Architekten – von Otto Wagner bis Roland Rainer – hier abgearbeitet. Schließlich wurde der Platz in den 1970er-Jahren im Zuge des U-Bahnbaus von dem dänischen Landschaftsarchitekten Sven-Ingvar Andersson neu gestaltet.

Umgeben nicht nur von der namensgebenden Karlskirche, einem Herrschaftssymbol der Zeit Karls VI., und einigen der wichtigsten Wiener Kultur- und Bildungsinstitutionen – Künstlerhaus, Secession, Technische Universität etc. – breitet sich die „Gegend“ direkt vor der Haustür des Wien Museums aus, wo noch bis zum 26. Oktober 2008 ebendieser Platz Thema der umfangreichsten stadthistorischen Ausstellung der Ära Wolfgang Kos ist (Kuratoren: Elke Doppler und Christian Rapp).
Beginnend mit der von den Römern noch unberührten Aulandschaft am (später als „Wien“ bezeichneten) Flusslauf wird in zwölf Zeitschnitten der Platz als Ort permanenter Veränderung bis in die Gegenwart präsentiert: als Spitälerstandort des mittelalterlichen Wiens, als militärisches Sperrgebiet im Zusammenhang mit den Türkenbelagerungen, als Repräsentationsort des autoritären Ständestaates und vieles mehr. Die chronologische Aneinanderreihung der Epochen wird durch „Zeitschleusen“ unterbrochen. In einer dieser Passagen stecken zwei Interviewte das heutige Wahrnehmungsspektrum des städtischen Terrains zwischen Verkehrsdrehscheibe, Drogenplatz und Architekturdesaster ab: Ist der Karlsplatz für Imad Al-Saded, einen Geschäftsbetreiber in der Passage, ein „Volkstheater ohne Ticket“, so befindet Ex-Opernballorganisatorin Lotte Tobisch, die hier aufgewachsen ist, den Platz als das „städtebaulich Ungeschickteste und Patschertste, was man sich nur vorstellen kann.“

Um in der Schau bis zu den Auseinandersetzungen als „Streitplatz der Moderne“ und städtebauliches Experimentierfeld im 20. Jahrhundert durchzudringen, muss man sich allerdings – wie so oft bei Ausstellungen des Wien Museums – durch eine Überfülle an Exponaten bis ins 1. Obergeschoss durcharbeiten. Besonders im Anfangsteil irritiert manchmal ein etwas simpler ahistorischer Zugang: wenn etwa ausgestopfte Wildschweine als Vertreter der Auwaldfauna neben symbolisch hoch aufgeladenen Tierdarstellungen (Reichsadler etc.) an den Gebäuden des heutigen Karlsplatzes gegenübergestellt werden – so als hätten sich diese quasi aus den Urzeiten auf die Hausfassaden herübergerettet.

"Am Puls der Stadt. 2000 Jahre Karlsplatz"
im
Wien Museum
Karlsplatz
A-1040 Wien

Bis 26. Oktober 2008
Geöffnet Dienstag bis Sonntag und Feiertag, 9.00 bis 18.00 Uhr.

Katalog zur Ausstellung:
Am Puls der Stadt
2000 Jahre Karlsplatz
Farb- und Schwarzweißabbildungen,
broschierte Ausgabe, 526 Seiten
erschienen im Czernin-Verlag, Wien 2008
ISBN 978-3-7076-0279-1 (Softcover)
ISBN 978-3-7076-0266-1 (Hardcover)
EUR 34,00

Verfasser/in:
Antje Senarclens de Grancy, Ausstellungsrezension
Netzwerktreffen
16. + 17.11.2023
 
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