14/04/2004
14/04/2004

Lieber Oliver Elser!

Vor kurzem konnten wir im „Standard“ Ihre Rezension des Architekturführers Graz lesen, die das nun fertiggestellte Nachschlagwerk lobend beschrieben hat – mit einer Einschränkung: Die Ablehnung und somit das Fehlen des Geschäftshauses der Architekten Leeb & Condack ist für Sie unverständlich. Nun, als Grazer(in) stellt man bei diesem an sich löblichen Unterfangen, die wichtige Zeit der Grazer Architektur ab 1990 erstmals systematisch zu bündeln, doch mehrere unverzeihliche Unterlassungen nebst einigen Schwachpunkten fest.

Ein umfassender Überblick über eine Stadt aus der Flugperspektive beschränkt sich im Wesentlichen auf das Erkennen topografischer Grundzüge und kann bestenfalls etwas über die geplante/ungeplante Stadtentwicklung aussagen. Profunde Zusammenhänge erschließen sich über die lückenlose Darstellung der Architekturproduktion einer bestimmten Region. Damit meine ich nicht, dass jede bauliche Hervorbringung Aufnahme in so ein Zeitbild finden muss, ungeachtet ihrer architektonischen und städtebaulichen Qualität.
Keineswegs fehlen dürfen aber ganze Bereiche des Bauens, die den guten Ruf der Architektur aus Graz nachhaltig mitbegründet haben. Sie finden in diesem Buch weder Geschäftslokale noch Kaffeehäuser und kein einziges Einfamilienhaus! Dabei sind namhafte Architekten hierorts mit Einfamilienhäusern „groß“ geworden, Klaus Kada etwa und in jüngerer Zeit Hans Gangoly, Josef Hohensinn und Wolfgang Feyferlik, der wahrscheinlich zur Zeit interessanteste Architekt in Graz. Letztere sind gar nicht (wie Alfred Boric und seine Gruppe pur:pur, Shootingstars der Szene) oder nur im Index namentlich angeführt, ebenso Heinz Wondra, der aus Graz nicht wegzudenken ist. Es fehlt das bemerkenswerte Forschungsgebäude der Akademie der Wissenschaften der holländischen Gruppe Cepezed, während ein konventioneller, nicht mehr als modisch verbrämter Bürobau nebenan Aufnahme fand.

Klar - Wertungen sind nie frei von Subjektivität, aber in manchem, etwa der Beurteilung der Aufbahrungshalle und Kapelle in der Petersgasse scheint mir sogar der große Peter Blundell Jones danebengegriffen oder –geschaut (?) zu haben. Anderes ist schlichtweg fachlich falsch, trotz erfolgtem Fachlektorat. Hinterfragen sollte man auch dürfen, ob es klug und professionell war, einen ortsansässigen Architekten ins Auswahlverfahren einzubeziehen und einen Teil der Bauten beurteilen zu lassen.

Das Ärgerlichste jedoch bleiben die vielen Fehlstellen, schon allein deshalb, weil das Argument für ein Weglassen, etwa der Einfamilienhäuser, nicht nachvollziehbar ist. Verstehen Sie, warum man ein Haus nicht sehen, erfassen, einschätzen können soll, wenn es einem verschlossen bleibt? Sagt die Lage eines Hauses - wie es eingebettet ist, wie es sich zum Nachbarn verhält, wie es sich öffnet oder verschließt, wie es proportioniert ist, wie Anschlüsse ausgebildet sind, Materialübergänge u.s.w. – nichts aus über die Güte eines Bauwerks?
Wie sind wir doch in Paris zu Le Corbusiers Haus für den Maler Ozenfant gepilgert, genau wissend, dass wir nie einem Blick in sein Inneres werfen können. Oder haben die beschwerliche Anreise weit aus der Stadt hinaus auf uns genommen, nur um einen Blick über den Gartenzaun auf die grandiose Villa Savoie zu werfen.

Vielleicht sollte ich Rundgänge zu den Bauten jener Architekten, die zu Unrecht im neuen Architekturführer fehlen, initiieren. Kommen sie doch auch, ich würde mich freuen, mit Ihnen „fachsimpeln“ zu können - aber nehmen Sie sich genügend Zeit.

Verfasser/in:
Karin Tschavgova
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