21/04/2004
21/04/2004

Es ist ein Dilemma: dass die kühnen Ideen der Architekten immer geerdet werden müssen, weil die "praktischen Erfordernisse der Materie, mit der man baut" Wolkenkuckucksheime verhindern.In seinem Essay „Die Poetik des Mauervorsprungs“ setzt sich Jan Turnovsky ausführlich mit einem Grunddilemma der Architektur auseinander: Die praktischen Erfordernisse der Materie, mit der man baut, verhindern immer wieder die perfekte Umsetzung eines „idealen“, bis dahin noch kompromisslosen Konzepts. Es ist ein Scheitern, wie es Ludwig Wittgenstein beim Wiener Haus (Wittgenstein) für seine Schwester durch genau den von Turnovsky thematisierten Mauervorsprung kaschieren wollte. Die Absicht, ein vollkommenes Gefüge reiner klarer Geometrien zu schaffen, wird dort durch die Unmöglichkeit vereitelt, ein Fenster zwischen einer Außen- und einer Innenecke so anzuordnen, dass es sowohl außen und innen genau mittig, also symmetrisch, in der Wand sitzt.

Im besten Fall erfindet der Architekt eine List, wie eben den Mauervorsprung, und der Kunstgriff gelingt. Im schlechtesten Fall jedoch bleibt das Dilemma sichtbar - wie ein nicht aufgegangenes Rätsel.

In der Halbärthgasse steht seit einiger Zeit ein neues Gebäude, das „Servicezentrum der Uni“. Den gedanklichen Höhenflug seiner Entwerfer stellt es noch ansatzweise zur Schau: eine kühne Auskragung. Man muss schon genau hinschauen und einige Phantasie aufbringen, um die weitgespannte Spange, die wohl ein großzügiges Tor ins nördliche Areal bilden sollte, noch zu erkennen.

Dilemma: Die „praktischen Erfordernisse der Materie“ verlangen für eine so kühne Auskragung eine entsprechende Konstruktion. Die kostet Geld, zu viel vermutlich für den Investor. Was macht der geistreiche Planer? Er behilft sich mit einem Pfeiler, den er, damit er sich harmonisch einfügt, genau mittig in die Verlängerung der Fahrbahn setzt, auf Achse sozusagen (was sich im Plan sicher gut macht).

Oh, Jammer. Was als Konzept so schön begann, die „Wolkenspange“ - geerdet, festgemacht an einem mächtigen Pfeiler. Das einladende Tor - mickrig geteilt auf halber Wegesbreite mit einem, ja genau, mächtigen Pfeiler.

„Fest gemauert in der Erden
Steht die Form, aus Lehm gebrannt.....“
Was das ist? Nicht die Poetik der Glocke von Friedrich Schiller, auch nicht die eines Mauervorsprungs, sondern die Banalität eines falsch verstandenen Mauerpfeilers.

Verfasser/in:
Karin Tschavgova
Netzwerktreffen
16. + 17.11.2023
 
GAT+