anGedacht 015

Lieber Oliver Elser!

Man sieht es deutlich an der Zahl der Publikationen - der Weinbau hat Konjunktur. Das neue Bauen der Winzer ist ein Modethema und wie bei allem, was Mode ist, unterliegt es der Gefahr mangelnder differenzierter Betrachtung. Dem Standard ist dieser Boom sogar eine Serie, genannt "Dionysische Architektur" wert, immer samstags platziert an bester Stelle.

Dionysisch - übersetzt mit rauschhaft – damit assoziiert man Sinnesfreuden und Üppigkeit. Davon ist für mich in der überwiegenden Anzahl jener Vorzeigeprojekte, die nun überall publiziert werden, nichts zu spüren. Was ich darin sehe (und wohl auch eine Mehrheit der Leser) ist makellos glatte, klinisch saubere, coole Architektenbefriedigung, in ihrer chromglänzenden Aus- und Aufgeräumtheit bestens geeignet für künstlerische Fotografie und Hochglanzpublikationen.

Keiner verlangt ernsthaft vom Architekten, der so eine Bauaufgabe übernimmt, dass er in der Kitschkiste kramt und tradierte Vorstellungen weinseliger Gemütlichkeit reproduziert.

Aber bitte, ein wenig Stimmung darf doch wohl erwartet werden. Räume, der die Lust des Kostens, Schmeckens, Riechens umrahmen und unterstützen und letztlich das Kaufverhalten fördern. Wie stellte Jacques Herzog (Herzog&deMeuron) - ein Schweizer! - kürzlich in der „Die Zeit“ so trefflich fest: Das Reinigen und Klären der Form hat etwas Sektiererisches und Protestantisches. Die ganze Moderne wollte ja weg von den Ornamenten und vom Sinnlichen ....

„Coole Kisten und cleane Innenräume mit lederbespannten Paravents“ – ich zitiere aus Ihrem Artikel im Standard. Sind sie dazu geeignet, das Sinnlich-haptische, das Weinkonsum und Weinverkostung darstellen, räumlich widerzuspiegeln?

Zynisch könnte man dem vielleicht entgegenhalten, dass diese Art der Weinpräsentation der heutigen, genauso cleanen industriellen Produktion des Weines bestens entspräche.

Ich bleibe dabei! In der klinischen Atmosphäre eines Seziersaals würde ich die Qualität des besten Weines nicht erschmecken können (und wollen).
Deshalb plädiere ich für mehr Dionysisches in der Architektur rund um den Weinbau – nicht nur im Titel.
Mit kollegialen Grüßen!

Verfasser/in:
Karin Tschavgova

Datum:

Tue 25/05/2004
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