17/10/2013

steirischer herbst 2013
"Liaisons dangereuses"

17/10/2013

Festivalzentrum des steirischen herbst 2013

Architektur: atelier le balto©: steirischer herbst

Festivalzentrum des steirischen herbst 2013

©: steirischer herbst

Festivalzentrum des steirischen herbst 2013

©: steirischer herbst

Festivalzentrum des steirischen herbst 2013 im Ex-Zollamt, Graz

©: steirischer herbst

Das regionale Superfestival ist vorbei, seine Bilanz – 108 Projekte, über 90 % Auslastung bei den szenischen Produktionen – beeindruckend. Und wie war er sonst so, der "herbst 13"? Man müsste schon verrückt sein, eine andere als subjektive Wertung abzugeben. Nicht einmal die Intendantin Kaup-Hasler dürfte bei allen der 251 Veranstaltungen dieses dichten, unterschiedliche Themen und Zielgruppen verknüpfenden Festivals unter dem Motto "Liaisons dangereuses" dabei gewesen sein.

Ähnlich wie dieser leicht verspätete Text hat der "steirische herbst"  ein Timingproblem. Die meisten szenischen Veranstaltungen finden nur dreimal statt. Ob etwas großartig, mittelprächtig oder schlimmer ist, weiß der Besucher erst post festum. Verschärft wird das Problem dadurch, dass die Akteure einem größeren Publikum praktisch unbekannt sind. Dafür existiert allerdings dieser Raster: Große Produktionen laufen in der List-Halle, mittleres, dafür technisch Anspruchsvolles, gastiert im Dom im Berg, im Next Liberty, in der KUG oder im Orpheum und der Rest findet im Heimatsaal oder sonst wo statt.

Zusätzlich zum Reigen der üblichen Ausstellungsmacher war die herbsteigene Ausstellung "Liquid Asset" im Ex-Zollamt eine Bereicherung. Sie ist noch bis 1. Dezember zu sehen und zeigt u.a. eine Menge brauchbarer Videos zum Thema. Für Architekten besonders sehenswert: "In Light of the Arc" von Zachary Formwalt, (mit)produziert vom steirischen herbst. In perfekt kardierten Bildern, unterlegt von einem schnörkellosen Text, zeigt Formwalt den Bau einer von Rem Kolhaas und OMA konzipierten Börse in China und entwickelt dabei eine marxistische Analyse des Kapitalismus. Große Teile dieser von Luigi Fassi und Katerina Gregos kuratierten Ausstellung landen später auf der Athener Biennale. Deren Besucher werden durch die dort befindlichen Exponate auf den steirischen herbst verwiesen. Ob das touristische Folgen haben wird, darf bei der momentanen Lage in Griechenland allerdings bezweifelt werden.

Existenzieller Zirkus
Bestimmend für die Wahrnehmung des Festivals sind die "großen Aufführungen" zur Eröffnung. Und "H, an Incident" in der List-Halle nach Texten von Daniil Charms in der Inszenierung von "A Two Dogs Company/Kris Verdonck“ war tatsächlich eine Sensation. Niemals hat man eine Putzfrau herzzerreißender und abgrundtiefer brüllen gehört, nie waren die Prügeleien trauriger, nie klangen die Chöre süßer, nie waren die Ungeschicklichkeiten der Akrobaten kunstvoller. Kris Verdonck gelang es, die während des stalinistischen Terrors entstandenen, knappen Texte Charms ohne Verlust ihrer Intensität in eine große Form zu transportieren; vielleicht gerade deswegen, weil er sich weit vom schmerzhaften Minimalismus Charms entfernte, der, 1942 zwangseingewiesen in ein Irrenhaus, verhungerte. Es spricht für die Imagination und Virtuosität des Ensembles, dass es sogar den Einsatz der musikalischen Roboter,  den Pomp der Technik vergessen machte.

Ebenfalls in der List-Halle Federico Leòns "Las Multitudes", die ultraschlichte Lovestory mit 120 mitwirkenden Grazerinnen und Grazern aller Altersstufen ... Ins Extrem vergrößerte Schulaufführung?  Sonnwendfeier mit Taschenlampen? Ornament der meist im Dunkeln unsichtbaren Masse? Aber wer will sich schon mit so vielen Mitbürgerinnen und Mitbürgern anlegen?

Zu den technisch perfekten Arbeiten im Orpheum zählte das hermetische, betäubend laute Tanztheater "Marzo" des Künstlerkollektivs Dewey Dell. Wobei sich die Italiener durch den japanischen Manga-Zeichner Yuichi Yokoyama verstärken ließen. Tolle Farben, tolle Kostüme, tolles Licht, gute Choreographie, trotzdem viel Lärm um nichts als Design. Ein weiterer technischer Overkill im Orpheum war "Kredit" von Daniel Kötter/Hannes Seidl;  eine multimediale Show gegen den Neoliberalismus. Leider garantieren Stoßrichtung der Attacke und eine komplexe Parallelführung verschiedenster künstlerischer Elemente für sich allein noch keinen ästhetischen Gewinn. Stumme, unscharf verwackelte Filmbilder, deren Legitimation darin bestand, dass sie irgendwie reale Börsenleute zeigten, wurden von zwei Geräuschemachern live vertont, dazu sang der Laienchor der Deutschen Bundesbank und wurde Informatives zur Kapitalwirtschaft eingespielt: Virtuoser Mix, nicht ganz falsch, aber doch zu wenig. Beim inhaltlichen Engagement des steirischen herbsts hätte statt einiger wirtschaftstheoretisch dilettierenden Künstler etwas wissenschaftliche Kompetenz nicht geschadet. Nur die drei vielleicht?  Sennet (Der flexible Mensch) Streeck (Gekaufte Zeit) Colin Crouch (Postdemokratie).

Schräg, klassisch
Dafür bot Antonia Baehr mit ihrem "Abecedarium Bestiarium", in dem sie ausgestorbene Tiere im Dom im Berg präsentierte, einen beinah genialen Abend. Nacheinander schlüpfte sie in die Haut eines jedes Mal anderen ausgestorbenen Tieres, das ihr von Freunden vorgegeben wurde: Tasmanischer Beuteltiger, Dodo, Martelli-Katze, Stellersche Seekuh ... Baehrs minimalistisches Konzept erzählt vom Umgang mit der Natur, von unserer Beziehung zu Tieren, aber auch von schrägen, ausgegrenzten Menschen und den  Strategien ihrer Selbstbehauptung.  Gefehlt hat an diesem intensiven Soloabend von Antonia Baehr nur das Mastodon aus Bruce Chatwins "In Patagonien". Aber der hat`s ihr leider nicht mehr vorschlagen können.

Auch "Happy End", ebenfalls im Dom im Berg am Eröffnungswochenende, war eine technisch aufwendige Produktion, die vor allem Ratlosigkeit hinterließ. Ausgehend von Kafkas Romanfragment "Amerika" – die apostrophierte, gleichnamige Installation des verstorbenen Malers Kippenberg fand dann keinen Eingang in das Konzept – wurden Sätze aus Kafkas Text gesucht, die sich auf Körperteile wie "Hand", Fuß" oder "Kopf" bezogen, um dann tänzerisch realisiert zu werden: erst chronologisch, dann a-chronologisch, wobei den Tänzern die Sätze über Kopfhörer zugespielt wurden. Dass sie sich dabei über eine  Karte der USA bewegten, war ähnlich illustrativ wie die pittoresken Kostüme. Die Tänzer hätten ein überzeugendes Konzept verdient, die Sounds von Peter Böhm waren sehr gut, Rauschmeiers vis à vis projizierte Videos im extremen Schlangenformat weniger.

Als eingangs die sakrosankten Sätze Kafkas auf Englisch rezitiert  wurden, entstand der Eindruck einer Art ... Kannibalisierung der Literatur? Gar nicht kannibalistisch ging dafür das Theater im Bahnhof gemeinsam mit dem Gaststubentheater Gößnitz bei der Bearbeitung von Hans Leberts Roman "Die Wolfshaut" vor.  Wegen urheberrechtlicher Schwierigkeiten konnte die gemischte Truppe nur auf wenige Situationen und Namen des Romanes zurückgreifen. Ausgangsthema war dann folgerichtig das Scheitern der Probearbeiten – also ganz modern, die Entstehung des Kunstwerkes als sein eigentliches Thema. In den nachgespielten Proben (kokett mit Datumsangabe) entwickelt sich aber ein dichtes Motivgeflecht: der gewohnt anthropologisch-ironische Blick auf ländliche Institutionen, die Kluft zwischen Stadt und Land, aber auch auf die zwischen der Wirklichkeit des Theaters und der gespielten Fiktion und natürlich der historische bzw. gegenwärtige Faschismus als Thema von Leberts Roman. Ed Hauswirth inszeniert und montiert – dem pompös-wissenschaftlich angedrohten Konzept zum Trotz – den Abend unaufgeregt-pragmatisch. Pia Hierzegger, furchteinflößend als Darstellerin der Regisseuse, skizziert überzeugend die unvermeidlichen gruppendynamischen Prozesse.

Schönes Scheitern demonstrierte der Theatermacher Boris Nikitin auf der Grazer Probebühne mit "Sei nicht du selbst!" Schauspieler erzählen abwechselnd in schönem Rhythmus, welche Einflüsse sie zu dem gemacht haben, was sie sind. Dann beim Kochen und Essen auf der Bühne sind sie "wirklich so". Und im letzten Teil tauschen sie ihre Identitäten – ein, wie schon die extremen Gendertheoretiker feststellen mussten, aussichtsloses Unterfangen. Trotzdem klug, gut gespielt, bedenkenswert.

Nicht ganz so überzeugend war Massimo Furlans „Gym Club“, eine ebenfalls kleine Produktion im Heimatsaal. Anknüpfend an den hiesigen Heros Schwarzenegger, wurde erst tüchtig Circletrainig betrieben, danach gab eine durchaus heitere Demonstration, wie einem der eigene Körper gerade durch seine radikale Formbarkeit abhandenkommt.  Schwarzenegger hat damals übrigens nicht im Liebenauer Stadion trainiert, sondern bescheidener in der Kastellfeldgasse.

Interessantes Finish
Schriller, gelegentlich schwer erträglich, war "Sleeping Beauty" von der hauptsächlich in New York agierenden Südstaatlerin Ann Liv Young. In den Teilen eins und zwei, durchgehend in schwerem Rosa gehalten, mischt sie das Dornröschenmärchen à la Disney auf. Die Teile drei und vier in düsterem Schwarz sind dem Reich des Horrors und dem Bösen gewidmet. John Waters und Divine lassen grüßen bei diesem Versuch, durch die Oberfläche der US-Massenkultur in die Tiefe des amerikanischen Traumes zu tauchen. Die "Sleeping Beautys & Sherry Truck", in der auch die kleine Tochter der Regisseurin mitspielt, beschwören (immer so grell wie nur möglich) Hippiementalität und Selbsterfahrung. Selbst die in der Dunkelheit knurrenden und heulenden Ungeheuer der Finsternis sehnen sich noch nach Heim und Familie, folgerichtig landen sie in einer Hupfburg. Das an sich "Falsche", sentimentale Songs für das Karaoke oder mangelnde Perfektion etwa  bei "Balance" oder "Aplomb" von Ann Liv Young als Balleteuse, werden so zu Elementen der Authentizität. Ann Liv Youngs Trash erinnert an die Filme des verstorbenen Syberberg, aber während die Arbeiten des Deutschen von der Geschichte ausgehen, wurzeln die "Sleeping Beauties" in der Massenkultur – politisch sind beide.

Literaturdefizit
Anleihen bei Charms, Kafka und Lebert und die alljährlichen "Randnotizen" – eine Art Blog. Das war´s dann, was die Literatur betrifft. Selbst beim Generalthema "Liaisons dangereuses"  wurde auf jede Erwähnung des titelgebenden Romanes von de Laclos verzichtet.  Liegt die Logik dieser Abstinenz darin, dass Geschriebenes ohnehin bei den vorherrschenden, spartenübergreifenden Projekten auftaucht? Der steirische herbst setzt sich, ähnlich wie ein Studiofilm, aus den unsichtbaren (aber spürbaren) Modulen der Filmhallen, aus seinen Strukturen zusammen. Dazu zählen: die finanzielle Ausstattung, die verfügbaren Spielstätten, die hiesigen Veranstalter, vor allem im Bereich der Bildenden Kunst, und natürlich das Interesse der jeweiligen Leitung. Liebhaber der Neuen Musik spielten moderne Opern, ein theoretisch orientierter Intendant publiziert dicke Kataloge, Intendantin Veronica Kaup-Hasler hat ihr Schwergewicht im Experimentellen und im Tanztheater. Da an den anderen Strukturen nicht viel zu ändern ist, steht eigentlich nur die Leitung des Festivals als "Stellschraube" für allfällige Veränderungen zu Verfügung. 

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