15/04/2008
15/04/2008

Die preisgekrönte Wienerbergersiedlung in Graz, von Ralph Erskine und Hubert Rieß, ziert seit der Verlängerung der Linie 6 entlang der Peterstalstraße ein Bretterzaun - eine Notlösung von Bewohnern der Erdgeschoßwohnungen mit Vorgärten, die nur durch einen schmalen Gehsteig von der Straße getrennt sind.

Die Straßenbahn donnert knapp an den Vorgärten vorbei.

Die Straßenbahn donnert knapp an den Vorgärten vorbei.

Das Straßenprofil ist für einen wachsenden Stadtteil viel zu schmal: daraus ergeben sich gefährlich schmale Gehsteige und....

...es bleibt kein Platz für Radwege

Erdgeschoßwohnung mit Vorgarten behind the wall

So kann man seinem Ärger über mangelhafte Stadtplanung auch Luft machen....ob´s was bringt? Wohl kaum. Fotos: el

Lieblose Gestaltung der Endstation der Linie 6. Hier war einst ein Ballspielplatz.

Endstation ohne Baum und sonstiges Grünzeug

Stromverteiler-Chaos an der Endstation

Die Wienerbergersiedlung in Graz ist seit der Verlängerung der Straßenbahnlinie 6 im Bereich Peterstalstraße ein Beispiel für die Entwertung einer preisgekrönten Siedlung mit hoher Wohnqualität. Der Grund dafür: mangelhafte Stadtplanung.

Wenn man in der Google-Suchmaschine den Begriff „Wienerbergersiedlung“ eingibt, bekommt man unter anderem die folgende Auskunft: “Diese Siedlung - angesetzt an einer Nahtstelle von Stadt- und Naturraum - zeigt den Modellfall für das Thema “Wohnen an der Peripherie". Hubert Rieß gewann gemeinsam mit Ralph Erskine den Wettbewerb für die Planung von ca. 550 Wohnungen. Es entstand ein vielfältiges Angebot von Wohnungstypen mit außen liegenden Treppen und Laubengängen. Zusammen mit den leicht konstruierten Windfängen, Balkonen und Erkern entstand eine filigrane Schicht der Kommunikation zwischen Innen- und Außenraum - ein Thema, dem gerade Erskine sich immer wieder gewidmet hat..."

Hubert Rieß meinte in seiner Rede anlässlich der Verleihung des Architekturpreises des Landes Steiermark 1988: „Was letztlich aus diesem Teil der Siedlung wird, wo die Bewohner das Heft schon in die Hand genommen haben, wird sich zeigen.“ (siehe unter Alte Ansichten - Stadtvisionen des 20. Jahrhunderts / MODELL STEIERMARK / 1981 Wienerberger Gründe; http://www.gat.st/pages/de/projekte/37.htm)

Die Befürchtungen von Architekten, dass Bewohner die Intention der Planer durch die Inbesitznahme der Siedlung verändern, ist zum Teil berechtigt, aber die Veränderungen durch die Aneignung der Bewohner muss gute Architektur aushalten. Fürchten müssen sich Planer eher vor nachträglichen Verkehrsmaßnahmen in Kombination mit fehlenden stadtplanerischen Maßnahmen, wie dies im Fall der Wienerbergersiedlung in Graz im Zuge des Ausbaues der Straßenbahnlinie 6 geschehen ist: Ein attraktives Wohnquartier mit hoher Wohn- und Lebensqualität, ausgezeichnet mit dem Architekturpreis des Landes Steiermark 1988, wurde entlang der Peterstalstraße im straßennahen Bereich völlig entwertet. Mit Baumarkt-Schallschutzwänden in Holz herrscht dort der Charme eines wenig attraktiven Vorstadtviertels. Das Straßenprofil ist für einen wachsenden Stadtteil viel zu schmal. Der Verkehr staut sich während der Stoßzeiten von der St. Peter Hauptstraße bis zum Ende der Wienerbergersiedlung. Mit dem Fahhrad ausweichen ist kaum möglich, denn es gibt keine Radwege, hinzu kommen gefährlich schmale Gehsteige (nur 150 cm breit), auf denen sich Fußgänger aneinander vorbeidrängen müssen. Darüberhinaus ist der gegenüberliegende Gehsteig im Bereich der Wohnsiedlung von Architekt Vladimir Nikolic unterbrochen. Die Straßenbahn fährt in einem viel zu geringen Abstand zu den Wohnungen der Wienerbergersiedlung, deren Terrassen und Balkone sich dort zur Straße hin orientieren. Nebenbei bemerkt zeigt die Gestaltung der Endstation der Linie 6 nicht gerade Detailliebe. Man hat das Gefühl, dass nur das Notwendigste gemacht wurde. Dieser Bereich hätte durchaus etwas mehr Platzcharakter vertragen. Einst war hier übrigens ein stark frequentierter Ballspielplatz.

Wie konnte diese stadtplanerische Katastrophe passieren?
Es war nicht so, dass es sehr beengte Platzverhältnisse gab, die Wohnbebauung und Einfamilienhäuser bereits vorhanden waren und somit keine andere Lösung möglich gewesen wäre. Die Wienerbergersiedlung entstand erst nach 1981, dem Jahr des Wettbewerbgewinns, die ersten Planungen für die Verlängerung der Straßenbahn liefen aber bereits in den 1970er-Jahren, wie dies einem Bericht in der Kleinen Zeitung, am 07.08.2007, zu entnehmen ist: „Planungen für eine Straßenbahnverlängerung nach St. Peter waren schon 1975 im Laufen. Anfang der 90er-Jahre wurde dann die Projektierung der heutigen Trasse ins Peterstal betrieben. Eine Volksbefragung im Jänner 1997 brachte ein Votum von 55,6 Prozent gegen die Verlängerung. Das Höchstgericht hat die Befragung später für ungültig erklärt. Ab 2003 wurde ein neuer Anlauf genommen….“

Es stellt sich also die Frage, wieso die Verantwortlichen der Stadtplanung es damals verabsäumt oder unterlassen haben, im Bebauungsplan entsprechende Grundstücksabtretungen im straßennahen Bereich und einen größeren Gebäudeabstand zur Straße vorzuschreiben? War die Lobby des Wohnbauträgers / Grundeigentümers zu mächtig? Aber auch die Planer haben, so scheint es, Fehler gemacht, sie haben die Wohnungen zu nahe zur Straße geplant, hier war wohl der Druck des Auftraggebers groß, höhere Dichten zu erreichen. Wären diese nicht auch mit einer Erhöhung der Geschoßzahl zu erreichen gewesen? Nun haben die Bewohner der Erdgeschoßzone jedenfalls Bretterwände vor der Nase und müssen wegen der hohen Lärmbelastung eine erhebliche Verminderung ihrer Wohn- und Lebensqualität hinnehmen. Die Wohnungen verkaufen? Ohne empfindliche Geldeinbußen wird dies hier nicht mehr möglich sein.

Das beschriebene Beispiel zeigt, dass gute Wettbewerbsergebnisse noch keine Garantie für eine hohe Wohnqualität sind, wenn die Stadtplanung ihre Hausaufgaben nicht gemacht hat.

Verfasser/in:
Elisabeth Lechner, Kommentar
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