26/12/2010
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Architekt und Analyst der ethischen Konsequenzen der Finanzkrise: Zvi Hecker. Foto: Anette Kolarski

„Vertrauen, das; ein Gefühl, um das händeringend geworben wird, weil eine andere Regung, das Misstrauen, sich als nützlich erwiesen hat...“, Hans Magnus Enzensberger, „Das Alphabet der Krise“ / Literaturmagazin DIE ZEIT
Nr. 12 vom 12. März 2009. Foto: ©2008 David C. Pearson, M.D., www.pearsonfaces.com

ZVI HECKER
Architektur von ihrem Prunkgewand entblößt

Die Weltwirtschaftskrise bringt nicht nur Härten für Individuen und Gesellschaften mit sich, sie wird auch radikale Änderungen unseres ästhetischen Empfindens zur Folge haben. Unter dem Eindruck des Finanzcrashs und des Untergangs von Geldinstituten sollten wir nicht überrascht sein über die Erosion moralischer Standards.

Diese Erosion, verursacht durch den Missbrauch persönlicher Verantwortung sowie durch institutionalisierte Ungleichheit und Ungerechtigkeit, kann zerstörerischer wirken als eine militärische Streitmacht. Auf dem Friedhof der Geschichte finden sich zahlreiche Militärmächte, deren Zeit abgelaufen war und deren politische Strukturen zerfielen, bevor ihre Truppen überhaupt auf den Schlachtfeldern angelangt waren. Es wird mühselig sein und wahrscheinlich länger dauern, um die ethischen Fundamente wieder zu errichten, als es dauern wird, den von Panik erfassten, kreditfinanzierten Konsum erneut zu entfachen.

Architektur als Dienstleistung für die Menschheit ist ein integraler Bestandteil der ökonomischen Landschaft. Von der ethischen Dimension der gegenwärtigen Krise kann sie daher nicht freigesprochen werden. Mehr als eine Dekade lang war Architektur maßgeblich geprägt von billigem und abstraktem Geld, das in Bauexzesse floss, re-territorisiert wurde und schließlich in den berüchtigten Hypotheken-Crash mündete. Abstrakte Projekte, deren Basis der Überschuss des Öl- und Aktiengeschäfts bildete, erstarrten zu architektonischer Form – an den ungerechtesten Orten der Welt und auf denkbar umweltschädliche Art und Weise. Immobilien, die als Architektur verschleiert und oft auch noch als „nachhaltig“ bezeichnet wurden, waren ein profitables Terrain für den Überschuss-Kapitalismus. Architektur absorbierte das Geld, das anderswo nicht untergebracht werden konnte.

Je obskurer und ökologisch unverantwortlicher die Finanzinvestitionen gerieten, desto exzessiver gebärdete sich die architektonische Formensprache. In ihrer extremsten Form wurde die schiere Existenz von Architektur zu ihrer alleinigen Funktion, genauso wie das aufgeblasene Wachstum der Finanzmärkte ihr alleiniges
raison d’être wurde.

Wie die Weltöffentlichkeit als Ganzes hat sich auch die Architektur von der Armut und den Krisengebieten abgewandt. Sie schlug sich lieber auf die Seite der Potenten und glorifizierte den Einfluss der Finanzmarkt-Zauberer. Eingehüllt in prunkvolle Gewänder, glamourös und reich ornamentiert, verbarg sie sorgfältig ihren narzisstischen Ursprung. So seltsam es auch scheinen mag: Ausgerechnet diese selbstreferenzielle Architektur wurde als Beweis der mannigfaltigen Talente des Architekten willkommen geheißen. Eifrig befriedigte der geschäftstüchtige Fachmann, der lange daran gehindert worden war, sein Können unter Beweis zu stellen, die vermessenen Anfragen einer kolonialen Kundschaft, um repressive Regime mit althergebrachten Architekturbildern zu dekorieren. Gerne berief man sich dabei auf die Vorstellung vom Architekten als Künstler, der sich nur nach seinen Fantasien zu richten habe.

Oder auf die vom Architekten als Designer, der fashion lines, Aschenbecher und Handtaschen entwirft. Und schließlich auf die vom Architekten als Entertainer, der pseudo-intellektuelle Spektakel aufführt. Da es nicht mehr nötig war, den Gesetzen der Logik oder der Klarheit eines Grundrisses zu folgen, geriet der „Architekt als Architekt“ in Vergessenheit. Dies mag erklären, warum in den letzten Jahren so wenige innovative Entwürfe im Kerngebiet des architektonischen Engagements entstanden, warum so wenig Lösungen für den Wohnungs- und Städtebau sowie für die Integration sozial benachteiligter Schichten entwickelt wurden – Themen, die einst die Basis des Modern Movement bildeten.

Stattdessen führte die Architektur eine Art parasitäre Existenz, die die Arbeit vorheriger Generationen ausnutzte. Alte Entwürfe, banale Pläne aus der Schublade wurden hastig recycelt und in neue Materialhüllen gezwängt. Ganz oben auf der Wunschliste der Kundschaft stand das Glas. Regelrecht aggressiv wurden Glasfassaden als nachhaltig und umweltfreundlich beworben: Behauptungen, die nie ernsthaft überprüft wurden. Paradoxerweise fand die Glasarchitektur vor allem in der internationalen Banken- und Geschäftswelt großen Anklang. Mit ihrer Transparenz
lieferte sie das ideale Alibi für deren oft undurchsichtige Transaktionen. Angesichts derKrise dürfte das Glas-Alibi jedoch kaum ausreichen, um das verlorene Vertrauen in die Banken wiederherzustellen.

Sogar die Stadt Berlin, die sich der Tradition des radikalen Modernismus verpflichtet fühlt und sich bisher nicht so leicht von der Hysterie des Kapitalismus anstecken ließ, frönt mit dem Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses nun der architekturhistorischen Nostalgie. Dem pseudoaristokratischen Erbe dieser Stadt werden diese falschen Schlossfassaden durchaus gerecht, aber die Replik des Schlosses – das schon im Original von keiner besonderen architektonischen Güte war – droht, eine Farce zu werden. Überhaupt scheint das heutige Berlin nicht in der Lage zu sein, wahre Originalität von bloßen Modeerscheinungen zu unterscheiden.

Jede ökonomische Krise bedeutet nicht nur den Bruch mit der unmittelbaren Vergangenheit, sondern führt zu beschleunigten Veränderungsprozessen. Sie ist eine gute Gelegenheit, den Status quo zu überwinden und Zeitgenössisches zu entwickeln. So sorgte etwa die Krise der späten zwanziger Jahre und die Große Depression dafür, dass die prunkvolle Ornamentik des Neoklassizismus hinwegfegt wurde. Das 19. Jahrhundert der Architektur war zu Ende, die neue Architektur war weiß, glatt und undekoriert. 80 Jahre später nährt sich die heutige Krise aus der gleichen, von der Unehrlichkeit der Finanzmanager verseuchten Erde. Um die kreativen Kräfte nun wieder in Schwung zu bringen, ist eine moralische Haltung unabdingbar. Die Bauaktivitäten stoppen oder erlahmen – dieses Brachland kann ein fruchtbarer Boden für eine neue Ästhetik werden. Neue Ideen können jetzt entwickelt werden wie die Noten einer Partitur – später, wenn die Ökonomie sich erholt hat, werden sie dann womöglich realisiert.

Gebaute Architektur ist ein manifestes, reflektiertes Bild der Idee, die einem Grundriss innewohnt. Der Mensch ist ihr Maßstab, und die Logik ist ihr Mittel zur Schönheit. Sie verbindet Bedürfnisse und Träume mit einer immer wieder neuen ästhetischen Sensibilität. Diese unzertrennliche Dualität macht Architektur zu einer so einzigartigen, tiefgründigen Beschäftigung. Über Jahrhunderte schufen Menschen mit kreativem Engagement eine lebendige architektonische Tradition. Sie wurde uns anvertraut unter der Bedingung, dass unsere eigenen Ideen dieses großartige Erbe bereichern und seinen Horizont erweitern. In einer sich ständig verändernden Welt besteht die Relevanz der Architektur in ihrem Idealismus und ihrer Verantwortung, die Lebenssituation des Menschen zu verbessern. Architektur ist eine humane Kunst, sie kann niemals human genug sein.

ZVI HECKER ist einer der wichtigsten Architekten Israels. In Berlin baute er die Heinz-Galinski-Schule, in Israel u.a. die Bat-Yam City Hall und das Palmach-Museum für Geschichte. Er lebt und arbeitet in Berlin.
Zvi Hecker war am 03. und 04. Juli 2009 Gast beim HDA-Symposium „JOINT ACTION IN ARCHITECTURE – Getting political again?“, im Haus der Archiektur Graz.

Der Artikel von Zvi Hecker erschien am 23. Jänner 2009 in der gedruckten Ausgabe des „Tagesspiegel“ unter dem Titel „Die Ära der Exzesse ist vorbei“, außerdem in der HDA Gazette Mai/August_2009 und in der GAT-Reihe sonnTAG, am 03.05.2009. Der Text wurde uns mit freundlicher Genehmigung des Autors zur Verfügung gestellt. Übersetzung aus dem Englischen: Ingmar Faber.

Verfasser/in:
Zvi Hecker
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