15/10/2018

Biennale Architettura 2018

Der schmale Grat zwischen Freiraum und Beliebigkeit

Gedanken zur Architekturbiennale 2018: FREESPACE und Tipps für Spätfahrende von einem Spätgefahrenen.

Biennale Architettura 2018

Venedig, 26.05. - 25.11.2018
Di-So, 10:00 -18:00 Uhr,
montags geschlossen,
ausgenommen 19.11.2018

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Bericht und alle Fotos, auch in der Fotoserie, von Martin Grabner, Oktober 2018.

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15/10/2018

Die Stadt Venedig ist und bleibt eine der Hauptattraktionen der Biennale.

©: Martin Grabner

Durch einen Vorhang aus schweren Tauen betritt man das Arsenale.

©: Martin Grabner

Das Theater Sala Beckett von Flores & Prats als kleines und sehr großes Modell.

©: Martin Grabner

VTN Architects lassen uns innehalten und Venedig beobachten.

©: Martin Grabner

Das wiederentdeckte Fenster des venezianischen Architekten Carlo Scarpa öffnet den Blick in die Giardini.

©: Martin Grabner

Die Britische Insel mit einem, an eine italienische Piazza erinnernden Boden auf dem britischen Pavillon, von Caruso St John mit Marcus Taylor.

©: Martin Grabner

Die Berliner Mauer von Marianne Birthler und Graft im deutschen Pavillon …

©: Martin Grabner

… löst sich bei Veränderung des Standpunkts auf.

©: Martin Grabner

Neue Einblicke in den österreichischen Pavillon auf der Installation Layers of Atmosphere von Henke Schreieck.

©: Martin Grabner

Sphäre 1:50.000 von LAAC verbindet Innen und Außen zu einer fließenden Einheit.

©: Martin Grabner

Der schmale Grat zwischen Freiraum und Beliebigkeit

Gedanken zur Architekturbiennale 2018: FREESPACE und Tipps für Spätfahrende von einem Spätgefahrenen.

Das Betreten der Hauptausstellung der Biennale im Arsenale hat schon fast etwas Rituelles. Der Moment in dem sich der Blick auf die lange Raumachse der Corderie öffnet verrät oft schon einiges über die Ausstellung. Die Kuratorinnen der 16. Architekturbiennale, die Architektinnen Yvonne Farrell und Shelley McNamara vom britischen Büro Grafton lassen uns durch einen Vorhang schwerer Taue in die Räume schreiten, in denen diese einst produziert wurden. Es geht um den Ort, um eine umfassende Sensibilität für das Vorhandene, seien es die gebaute Stadt oder natürliche Ressourcen, darum, auch mit wenig Gebautem oder in eng definierten Bauaufgaben einen räumlichen Mehrwert zu schaffen – im besten Fall für die Allgemeinheit. In ihrem Manifest FREESPACE umreißen die Kuratorinnen einen „Raum für Möglichkeiten, einen demokratischen Raum, offen für nicht festgelegte Nutzungen“, einen Freiraum im architektonisch-räumlichen und geistigen Sinn. In sieben Punkten spannen sie ein weites Feld auf, das (zu) viel offen lässt und, man vermutet es schon, schwer zu einem Gesamten geformt werden kann. Das zeigt sich sowohl in den sehr unterschiedlichen Nationenpavillons als auch in den beiden von Farrell und McNamara kuratierten Ausstellungen.

Promenade …
Im Renaissancebau im Arsenale inszenieren sie, das Spezifische des Ortes aufnehmend, die zentrale Achse als Promenade. Kuratorisch verstärkt das die Unmöglichkeit, in diesem Raum eine Ausstellung thematisch zu clustern. Eine beidseitige, weitgehend zusammenhangslose Aneinanderreihung von Architekturprojekten und -installationen ist die Folge.
Zwischen vielen, oft sakral überhöht präsentierten Architekturmodellen finden sich jedoch zahlreiche sehenswerte Projekte, wie gleich zu Beginn ein Schulcampus in Indien von Case Design als work-in-progress, der Neubau einer Medizinabteilung von Diller Scofidio + Renfro und ein wunderbar wuselndes Modell des Fuji-Kindergartens von Tezuka Architects. Danach wird es aber schnell beliebig. Als ein Highlight sticht die komplexe Revitalisierung des Avantgardetheaters Sala Beckett in Barcelona von Flores & Prats (die auch für die ebenfalls positiv auf ihre Umgebung ausstrahlende Stadshal in Gent bekannt sind) heraus. Zwischen mehreren Möglichkeiten die luftigen Höhen des Raumes zu erklimmen bieten Installationen Gelegenheiten innezuhalten und sich auf die Qualitäten des Raumes einzulassen. Am gelungensten beobachtend bei VTN Architects, die eine Verbindung zum Stadtraum Venedigs schaffen, rastend bei Álvaro Siza, der einen vom Besucherstrom abgewandten Rückzugsort erzeugt oder wandelnd im zeitgenössischen Säulenwald von Valerio Olgiati am Ende der Corderie.

… und Labyrinth
Im zweiten Teil der Hauptausstellung im zentralen Pavillon der Giardini räumten die Kuratorinnen mit den über die Jahre entstandenen Einbauten auf und entdeckten dabei ein lange vergessenes Fenster von Carlo Scarpa, das nicht nur an sich sehenswert ist, sondern auch einen Bezug zum Außenraum herstellt, der dem labyrinthischen Raumkonglomerat des Pavillons gut tut. Die Auswahl der in den 20 Räumen präsentierten ArchitektInnen mutet jedoch subjektiv an – allerdings meist hoch qualitativ. So findet man wunderbare Modelle von Peter Zumthor, eine schöne Präsentation der zurückhaltenden Arbeit des Mailänder Architekten Luigi Caccia Dominioni und das BIG U für Manhattan des viel weniger zurückhaltenden Bjarke Ingels ebenso wie Lacaton & Vassals Wohnraumerweiterungen mit Aussicht in Wohntürmen der 60er- und 70er Jahre oder eine Analyse der informellen Nutzungen von Zwischenräumen in Guashan von Amateur Architecture Studio.

Bunte Vielfalt in den Giardini
Am radikalsten und poetischsten setzten Caruso St John gemeinsam mit Marcus Taylor die kuratorische Vorgabe um. Sie lassen den britischen Pavillon völlig leer und errichten darüber eine Plattform, eine Insel, in deren Mitte das Dach des Pavillons wie eine weitere Insel herausragt. Ganz dem spanischen Architekten Alejandro de la Sota folgend, den Farrell und McNamara zitieren: „[architects] should make as much nothing as possible“. Die temporäre Insel mit Aussicht auf die Lagune und die Giardini erzählt von Aufgabe und Wiederaufbau, Isolation und Kolonialismus, dem Klimawandel und natürlich der aktuellen politischen Situation Großbritanniens.
Mit dem Victoria & Albert Museum ist Großbritannien ein zweites Mal vertreten und bietet einen umfassenden und ehrlichen Blick auf die 2017 abgerissene brutalistische Wohnanlage Robin Hood Gardens von Alison und Peter Smithson. Ein zweigeschoßiges Fassadenfragment wurde aus London nach Venedig gebracht und im Arsenale aufgebaut, außerdem zeigt ein Film die utopische Wohnvision der Smithsons kurz vor und während ihrem Abriss.
Betritt man den deutschen Pavillon Unbuilding Walls steht man hingegen zunächst vor einer schwarzen Wand. Bewegt man sich, verändert also seinen eigenen Standpunkt, löst sich die scheinbar massive Wand in einzelne Teile auf. Auf deren Rückseiten befinden sich, etwas zu brav präsentiert, realisierte und unrealisierte Projekte für den Mauerstreifen, der nach dem Fall der Berliner Mauer und des Eisernen Vorhangs als Freespace verblieb. Interviews zu aktuell neu hochgezogenen Mauern und Grenzen versuchen einen Bezug ins Heute herzustellen.

Stadt, Land, …
Mit urbanen Freiräumen beschäftigen sich unter anderem auch die Pavillons von Luxemburg, der das Verschwinden von öffentlichem Gut in den immer dichter werdenden, von Privatisierung und Investment-Denken dominierten Städten thematisiert, und Rumänien, der Potenziale der meist öden Freiflächen zwischen sozialistischen Massenwohnbauten aufzeigt – unter anderem mit einem Tischtennis-Tisch. Die Aktivisten von Encore Heureux bringen mit Lieux Infinis Orte der initiativen und alternativen (kulturellen) Stadtentwicklung in den französischen Pavillon, die Niederlande imaginieren das Leben nachdem uns Maschinen die Arbeit abgenommen haben und Irland thematisiert mit dörflichem Leerstand eine weitere aktuelle Herausforderung. Der Stadtraum ist auch bei Ägypten (informelle Märkte als urbane Inkubatoren), den Vereinigten Arabischen Emiraten (kleinteilige, lokale städtische Strukturen zwischen der glitzernden Welt der Hochhäuser von Dubai, Abu Dhabi und Co.) und bei Debütant Saudi Arabien (Potenziale großer urbaner Brachen in fragmentierten Großstädten) Thema.
China, das in der Architektur meist entweder mit megalomanischen Großprojekten und repetitiven Wohnturm-Wüsten oder aber traditioneller Bau- und Handwerkskunst assoziiert wird, setzt sich hingegen mit dem Dorf als zeitgenössischem Projekt auseinander. Nicht aus nostalgischen Motiven einer Rückkehr zum ländlichen Leben, sondern im sehr realen Streben, angesichts der zu dicht werdenden Großstädte Dörfer als Lebensraum der Zukunft zu etablieren.

… Haus
Der Schweizer Pavillon Svizzera 240 nimmt uns mit auf eine Hausführung durch die westliche Standardwohnung mit den namengebenden 240 cm Raumhöhe, Parkettboden, weißen Wänden und ebenfalls weißer Einbauküche – das vielleicht erfolgreichste architektonische Modell der Gegenwart. Die Labyrinthartige Sequenz perspektivischer, leerer Innenräumen ist aber eben kein Raum, sondern die Repräsentation von Raum: aus Maßstab und Kontext gerissen, genau wie es das Bild von Raum mit diesem tut, unfähig ihn in seiner Gesamtheit zu vermitteln und deshalb ver- und entfremdend. Die Kuratoren Alessandro Bosshard, Li Tavor, Matthew van der Ploeg und Ani Vihervaara erhielten dafür den diesjährigen Goldenen Löwen. Den Goldenen Löwen für sein Lebenswerk erhielt der britische Architekt und Architekturkritiker Kenneth Frampton, der unter anderem mit dem Critical Regionalism die Architektur prägte.
Im österreichischen Pavillon findet man drei von Kommissärin Verena Konrad ausgewählte Rauminstallationen, die durch ihre räumlichen und ästhetischen Eingriffe in den strengen Raum des Hoffmann-Pavillons diesen neu erfahren lassen. Henke Schreieck ermöglichen den BesucherInnen mit einer Holzkonstruktion neue Ein- und Ausblicke, Sagmeister & Walsh thematisieren den Zusammenhang von Schönheit und Funktion und LAAC bringen mit ihrer Installation Sphäre 1:50.000 mit dem symmetrischsten aller Körper – einer Kugel – die Symmetrie des Pavillons ins Wanken. Ausgehend von der gekrümmten Gartenmauer schreiben sie als gewölbte Spiegelfläche eine Kugel mit 128 m Radius in den Pavillon ein und über diesen hinaus. Der irreguläre neue Boden reflektiert die Realität und trägt das Mögliche, verschmutzt und verändert sich dabei.

Wohlfühl-Architektur vs. Weltverbesserung
Trotz der Qualität und wegen der Vielfalt will sich in den beiden von Farrell und McNamara kuratierten Ausstellungen wie auch den Giardini keine Gesamtheit einstellen. Architektur präsentiert sich vor allem als schönes Formenwerk. Über einzelne engagierte, thematisch fokussierte Länderpavillons hinaus werden auf dieser Biennale keine großen Fragen gestellt – oder gar beantwortet. Vielleicht als Gegenreaktion auf zu viele kopflastige, theoretisierenden, sich in unlösbaren Problemen hoffnungslos verlierende Ausstellungen der letzten Jahre will diese Biennale nicht die Welt retten, sondern besinnt sich auf den Kern der Architektur, die Qualität des Raumes. Was als wohltuend empfunden werden kann.
Dabei weicht sie aber den wesentlichen Fragen der Bedingungen für das Entstehen guter Architektur aus, die in Politik, Gesellschaft und Ökonomie zu suchen sind. Sie negiert die Themen, die die Zukunft unserer Städte und Architektur bestimmen: Klimawandel, Migration, territoriale und soziale Gerechtigkeit. Deren Lösung ist nicht vorrangig in der ästhetischen Form, sondern in Stadtplanung und Baupolitik zu suchen. Und darin wie Architekturschaffende mit diesen Feldern interagieren. Wenn die Architektur sich zu sehr in sich selbst zurückzieht läuft sie in Gefahr, ihre gesellschaftliche Relevanz zu verlieren. Da erscheint es doch viel besser, sich hin und wieder den Vorwurf der ewigen Weltverbessererin gefallen zu lassen.

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