09/04/2020

CORONA GEDANKEN 07

Aus der Distanz

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09/04/2020

In der Schwebe

©: Emil Gruber

Die 1960er in Donawitz. Ich war acht Jahre alt. Wir wohnten in einer der typischen Arbeiterhäusersiedlungen der Nachkriegszeit. In unmittelbarer Nähe breiteten sich Schrebergärten aus. Jede exakt gleich groß bemessene Parzelle hatte trotz individueller Bewirtschaftung uniformes Aussehen. Eine Hütte für die Gartengeräte. In die Erde gerammte Holzstangen für die Bohnenzucht. Akkurat quadratische Beete für das Gemüse. Selbstversorgung war ein Teil des normalen Lebens. Tagsüber herrschte reges Treiben, besonders in der Pflanz- und in der Ernteperiode. Im Winter wurde die Konformität durch eine dicke Schneedecke überlagert.
Warum weiß ich nicht mehr. Ich möchte auch keinen Therapeuten Jahrzehnte später bemühen. Irgendwann formte sich in meinem kindlichen Kopf ein Bild:
Der Wunsch nach dauerhafter Isolation.
Ich stellte mir vor, unter den Schrebergärten gäbe es eine große Höhle voller Komfort. So wie ein Bubenhirn damals Luxus sich vorstellte. Und ich lebte als einziges Individuum darin! Ohne Wissen der anderen, ohne Kontakt zur Außenwelt. Nur manchmal in stockfinsteren Neumondnächten öffnete ich eine verborgene Luke, verließ mein Refugium, um die eine oder andere notwendige Besorgung zu machen.
Immer wieder stand oder saß ich in Echtzeit am Rand der Gärten und träumte vom unendlichen Alleinsein darunter.  
Für ein weiteres Spiel, das durchaus eine Achse zu meinem fiktiven verborgenen Reich herstellte, konnte ich meine Mutter gewinnen.
Waren wir zwei irgendwo zu Besuch und wurde es beim Heimweg dämmrig oder war es überhaupt schon finster, gab es nur eine Aufgabe: Bis zum Eintritt in der eigenen Wohnung darf uns niemand begegnen oder sehen.
Das bedeutete schon einmal, dass meine Mutter und ich uns in den Straßengraben hechteten, wenn die Scheinwerfer eines Autos aufleuchteten. Oder wir saßen gemeinsam minutenlang hinter einem Busch vor der Eingangstür unseres Wohnhauses, bis der alte Herr Edler endlich seinen Mistkübel entleert hatte und wieder im Hauseingang verschwunden war. Dann huschten wir zwei, ohne Licht im Stiegenhaus zu machen, in den zweiten Stock zur Wohnung und freuten uns diebisch.
Später erzählte mir meine Mutter – sie war Jahrgang 1919 und ich ein Spätgeborener – durch mich habe sie das Spielen erst gelernt, etwas, das in ihrer eigenen ständig um die Existenz bangenden Kindheit sie nie kennengelernt hatte.
Knapp vor ihrem Tod hatte sie noch eine Sorge: Ihr Leben begann in großen Krisen und wurde besser und besser. Für mich solle das Leben hoffentlich nicht umgekehrt verlaufen.
Derzeit denke ich oft an sie.

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