13/07/2015

Offene Architekturwettbewerbe sind nicht nur generell Ausdruck einer offenen Gesellschaft, sie stellen sowohl aus Sicht der Bürger als auch der Architekten eine der wichtigsten Qualitätssicherungsmaßnahmen in Architektur und Städtebau dar. In Wettbewerben manifestiert sich Baukultur – ein wesentlicher Aspekt der sozialen Architektur der Gesellschaft. Die Art und Weise, wie diese Verfahren abgehalten werden, sind naturgemäß Anlass für hitzige Diskussionen.

Die Stadtbaudirektion Graz und das Haus der Architektur hatten am 09. März 2015 zu einem Stadtdialog über wünschenswerte Modelle im Wettbewerbswesen eingeladen.

Walter M. Chramosta reflektiert die Veranstaltung.

13/07/2015

Grazer Dachlandschaft vom Schloßberg aus nach Westen mit dem Dachausbau des Kaufhauses Kastner & Öhler und dem Kunsthaus.

©: Redaktion GAT GrazArchitekturTäglich

Im März 2015 raunten sich Architekturinteressierte im Foyer einer öffentlichen Wiener Fachtagung zu: „Dem Städtebau geht es heutzutage schlecht in Wien. Aber in Graz ist er schon längst tot. Alles rennt den Investoren entgegen“. Viele wissen das, viele kennen die strukturellen Hintergründe dieser Vorgänge, wenige sprechen darüber öffentlich. Warum eigentlich?

Bald danach fand in Graz ein nicht öffentlicher, unter geladenen Fachleuten ausgetragener Stadtdialog über das Wettbewerbswesen der Stadt Graz, insbesondere über das Grazer Modell (GM) statt. Zu der moderierten Veranstaltung waren neben Vertretern der Stadtbaudirektion und des Stadtplanungsamtes die Vertreter des Landeshochbaus, die Mitglieder des Fachbeirats für Baukultur, die Standesvertreter aus der Kammer der Architekten und Ingenieurkonsulenten, Lehrende der TU Graz und vor allem in Graz tätige Architekten geladen.

Schon einleitend stellte sich heraus, dass das 2006 vom Gemeinderat beschlossene GM in den Augen seiner Erfinder und Anwender bei den großen Themenstellungen (die zentrumsnahen Neubauquartiere, die Industriekonversionen, die Nachverdichtung…) zuletzt die Grenzen seiner Anwendbarkeit erreicht und überschritten hat. Man suchte Rat und Einverständnis bei der Fachwelt – im Sinne der verbreiteten Skepsis gegenüber der Praxis des GM auch keine Überraschung.

Das GM ist eine Art an die einschlägigen Akteure gerichtete Garantie der Stadt Graz, bei Schlüsselvorhaben eine Mindestverfahrensgüte einzuhalten, um dadurch städtebauliche Konzepte zu stärken, architektonische Qualitäten zu verbessern und – notabene – die Marktchancen für Investoren zu erhöhen. Die Wettbewerbe sollen mit den anderen Instrumenten des GM, dem Fachbeirat für Baukultur, dem Projekttisch und den Bebauungsleitlinien zusammenwirken.
Die Stadt lobt für öffentliche und private Vorhaben an städtebaulichen Brennpunkten ab 3.000 m2 Bruttogeschoßfläche geladene, einstufige Realisierungswettbewerbe aus, manchmal für größere Aufgaben auch komplexere Verfahren. Es werden mindestens sechs Teilnehmer geladen, die von der Stadt und vom Investor je zur Hälfte benannt werden. Die reguläre Summe aus Preisgeldern und Aufwandsentschädigungen (€ 24.000 bis 5.000 m2 BGF) entspricht etwa einem Drittel jener Summe, die sich mit dem Preisgeldrechner der Bundeskammer Arch+Ing für entsprechende Projekte (mit 3.450 m2 Nutzfläche) als Mindestpreisgeldsumme in Realisierungswettbewerben ergibt.

Auf den ersten Blick erscheint das GM als baukulturell über den Durchschnitt österreichischer Städte hinaus weisende Ansage, die hoffen lässt, dass hier ein zur Routine entwickelter, adaptionsfähiger Instrumentensatz vorliegt. Die Stadt Graz kündigt gewissermaßen heute als avanciert geltende Methoden der Stadtteil- und Quartiersplanung an, nutzt sie dann aber nicht. Das irritiert, denn bekanntlich besteht an der städtebaulichen Entwicklung (von Wohnvierteln) gerade in den Wachstumsschüben einer Stadt ein besonders hohes öffentliches Interesse.

Auf den zweiten Blick erweist sich das GM aber als Hindernis für die berechtigten Ansprüche der Gesellschaft auf die funktionale und gestalterische Vielfalt der Stadt. Die realen Verfahren des GM lassen das Denken im Maßstab der Stadt vermissen, sie agieren mit Verfahrensgestaltungen, die wohnungsfixiert und parzellenzentriert sind. Die Dotation der Wettbewerbe ist so marginal, als ob die Teilnehmer immer nur mit einer Hand voll Typengrundrissen von Wohnungen architektonisch zu jonglieren hätten. In Wirklichkeit ist oftmals in diesen Verfahren der Stadtgrundriss neu zu schreiben!

Dazu bräuchte es im GM viele offene Wettbewerbe mit angemessener Dotation, gegebenenfalls vorgeschaltete Planungswerkstätten und Ideenwettbewerbe, letztlich jedenfalls Realisierungswettbewerbe mit realen Gewinnchancen zu attraktiven Auftragsvolumina. Nicht zuletzt sind wirksame Prozesse der Teilhabe für projektbetroffene Laien und projektaffine, aber nicht teilnahmeinteressierte Fachwelten in die für jeden Standort speziell entwickelten Verfahrenszüge einzubetten. Die Stadt Graz hängt noch der Idee nach, dass Bürgerbeteiligung kein integraler Bestandteil von Planungsverfahren ist und dass Fachleute als Bürger nicht planungsrelevant sind.

Die Auslobungsunterlagen der Wettbewerbe nach dem GM gleichen sich auffällig. Sie sind mit der Länderkammer Arch+Ing akkordiert, auch wenn das aus den Auslobungstexten nicht immer eindeutig hervorgeht. Die Preisgerichte enthalten jedenfalls immer Kammerpreisrichter. Der Wettbewerbsstandard Architektur WSA 2010 bzw. die Wettbewerbsordnung WOA 2010 sind meist als Verfahrensgrundlage erklärt, obwohl mit der Gestaltung der Verfahren die Grundsätze des Wettbewerbsstandards großflächig unterlaufen werden. Das Auftragsversprechen beinhaltet meist das städtebauliche Gestaltungskonzept für den Bebauungsplan, aber nur ein verknapptes Leistungsbild (mit Vorentwurf, Entwurf und Einreichung) für z.B. ein Drittel des im Wettbewerb bearbeiteten Projektumfangs.

Damit wird ein systematischer Ausbeutungszusammenhang offenkundig, der nicht nur die Gewinner trifft, denen es nicht gelingt, auch den lukrativen Zwei-Drittel-Rest des Auftrags zu ergattern. Modellimmanent ist der Ansatz, dass städtebauliche Projektgrundlage und architektonischer Vorentwurf kurzerhand in einem Verfahren gefunden werden müssen, zu Kostenvergütungen, die nicht einmal eine der beiden Aufgaben abdecken. Deshalb geht dem GM bzw. jedem Auslobungstext ein Beipackzettel ab, in dem analog zu Arzneimitteln die Teilnehmer vor möglichen unerwünschten Wirkungen für ihr Unternehmen und die Bewohner der Stadt vor abträglichen Wirkungen für den Lebensraum gewarnt werden. Städtebau ist keine Nebenwirkung!

Bei der Wirkungsanalyse dieses Instruments der Grazer Stadtplanung ist wieder einmal die Kraft politischer Grundsätze bei der Werdung der gebauten Umwelt hinzuweisen. Eine der wirkungsmächtigsten Initiativen der Baukultur in Österreich entstand in Graz – und erodierte dort. 1972 wurde unter Landeshauptmann Friedrich Niederl das Modell Steiermark erfunden, ein sowohl den Selbstbezug als auch den Weltbezug aktivierendes, alle Sparten der Landespolitik erfassendes Programm. Städtebau und Architektur waren darin nur Subthemen.

Doch in den achtziger Jahren erzeugte daraus Josef Krainer jr. mit Hilfe überzeugungsgetriebener Mitstreiter und baukulturell richtig gesetzter Maßnahmen eine Blütezeit des Bauens, die aber schon in den Neunzigern im Richtungs- und Verständnisdefizit verebbte. Die Grazer Schule der Architektur war ein weltweit beachtetes Folgeprodukt im Baukunstfeld. Die damals planungstheoretisch bereits erhobene Forderung nach Teilhabe der Gesellschaft an Städtebau und Raumplanung war im Feld der Politik noch nicht angekommen: das „Feld“ Baukultur wurde in der Steiermark nicht nachhaltig bestellt.

So hat die robuste Top-down-Initiative der achtziger Jahre zwar eindrucksvoll gefruchtet, zugleich aber keine überlebensfähige baukulturelle Basis geschaffen, die unter unfreundlicheren Umständen eine Kontinuität qualitätszentrierten Planens hätte gewährleisten können. Das Modell Steiermark hatte eine Wettbewerbssituation unter der Prämisse geschaffen, der Baukunst ein Eindringen in einen verschlossenen Immobilienmarkt zu ermöglichen. Das Grazer Modell erzeugt nun eine diametral ausgerichtete Wettbewerbssituation, indem es dem Immobilienmarkt Konzepte des Städtebaus und Anzeichen der Baukunst zu verschaffen versucht, ohne ihn in seinen Mechanismen grundlegend zu beeinflussen. So ist das GM ein Sedativ für alle nicht vom Marktradikalismus versorgten Kräfte.

Im Stadtdialog wurde der Ausweg für das GM von der Stadt Graz direkt im Abgehen vom Wettbewerb gesucht. De facto wurde die aktuell in Wien geläufige Praxis kooperativer Verfahren als die bessere Alternative zu Wettbewerben präsentiert. Lehren aus dem Modell Steiermark werden nicht gezogen. Die Alternative zu schlechten Wettbewerben sind aber gute Wettbewerbe, flankiert von partizipativen und diskursiven Verfahren! In der Diskussion wurde dann deutlich, dass die propagierte „kooperative“ Verfahrensart nach dem Wiener Modell dort ganz spezielle Rahmenbedingungen hat, die zu hinterfragen sind. Diskursive Verfahren sollten nur ergänzend zu Wettbewerben eingesetzt werden.

Überraschend offen für eine Fachdiskussion stand der Wunsch der Stadtbaudirektion im Dialograum, Wettbewerbe nicht mehr anonym abzuschließen, sondern die Entscheidung „mit offenem Visier“ zu suchen. Dem Ansinnen wurde von Architekten eine deutliche Abfuhr erteilt. Die Diskussion ging danach nicht mehr um das Fundament oder gar das Aufgehende der Baukultur, sondern nur noch um die Sauberkeitsschicht! In der Einladung zum Stadtdialog hieß es immerhin: „Wettbewerbe sind nicht nur Ausdruck einer freien und chancengleichen Gesellschaft – sie stellen auch eine der wichtigsten Qualitätssicherungsmaßnahmen im Bereich der Architektur und Baukultur dar.“ Wenn das das Programm der Stadt Graz ist, dann ist die Wettbewerbssäule im GM radikal zu erneuern.

Gleich einer Mahnung aus „alten Zeiten“ gibt dazu Wolfdieter Dreibholz aktuell auf der Homepage des Landes Steiermark zum Verhältnis von „Architektur und Politik“ die Richtung an: „Es ist zu hoffen, dass der Architektur als ›Forschungsstätte der Zukunft‹ – Labor für Neues und Experimente – wieder jener politisch inhaltliche Stellenwert zugeordnet wird, der es ermöglicht, die kreativ-intellektuellen Qualitäten der steiermärkischen Architektur – die gegenwärtig eher ›virtuell hofiert‹ werden – als ›öffentlichste gesellschaftsrelevante Kunst‹ wieder voll zur Geltung kommen zu lassen.“ (der Artikel ist unter dem Link rechts zu lesen).

Dazu müssen keine Verfahren neu erfunden, sondern die in der Fachwelt der Teilnehmer bewährten Verfahrensarten ernsthaft so adaptiert und unter Einbettung von Techniken der Teilhabe so kombiniert werden, dass eine gemeinwohlorientierte Raumentwicklung in Graz sichergestellt wird. Der Weg von Neu-Graz über Alt-Graz nach Ganzneu-Graz ist weiter als gedacht.

Terminempfehlungen

Netzwerktreffen
16. + 17.11.2023
 
GAT+