12/12/2003
12/12/2003

Dicke Rampe, armes Erbe
Warum Holleins "Soravia-Wing" eine un-Sittliche Attacke ist, erklärt Kunsthistoriker Andreas Lehne im Kommentar der anderen

Holleins "Soravia-Wing" - eine un-Sittliche Attacke gegen das, was man in Wien einmal unter Stadtbildpflege verstanden hat. Vom Umgang mit historischer Bau- substanz (nicht nur) am Beispiel Albertina.

Nur ganz leise hat man im November dieses Jahres des 100. Todestages Camillo Sittes gedacht. In den angelsächsischen und skandinavischen Ländern gilt dieser Wiener Architekt als Begründer des modernen Städtebaus. Seine mehr an den Bewohnern und ihren praktischen und ästhetischen Bedürfnissen als am Profit der Investoren und der Selbstverwirklichung der Baukünstler orientierte Lehre ist in seiner Heimatstadt allerdings weit gehend in Vergessenheit geraten. Sitte, dem international derselbe Stellenwert wie Wagner oder Loos zuerkannt wird, ist hier nur in einschlägigen Fachkreisen bekannt, die den Architekturtheoretiker abseits der Öffentlichkeit in exklusiven Symposien würdigten.

Mission impossible

Bestenfalls kleinlaut war auch die Feier, die Wien im Oktober anlässlich der Eintragung in die Liste des Weltkulturerbes ausgerichtet hat. Dass die Urkunde nicht mit Pauken und Trompeten übergeben wurde, war Ausdruck von Unbehagen und Misstrauen: Unbehagen aufseiten der Stadt, die angesichts der Wien-Mitte-Querelen anscheinend überrascht zur Kenntnis nehmen musste, dass mit dieser von ihr selbst angestrebten Würde doch auch eine gewisse Erhaltungsbürde verbunden ist; Misstrauen bei der Unesco, die skeptisch ist, ob Wien diesen Verpflichtungen auch entsprechend nachkommen wird.

Verfolgt man die Entwicklung der letzten Jahrzehnte, dann ist dieses Misstrauen nicht ganz unbegründet. Dabei hatte seinerzeit alles so gut begonnen: Vor dreißig Jahren war man sich in Wien des Wertes und damit der Erhaltungswürdigkeit der historischen Bausubstanz bewusst geworden. 1972 wurden die rechtlichen Grundlagen für die Schaffung von Schutzzonen geschaffen, die sich als international viel beachtetes und zunächst durchaus taugliches Instrument für Schutz und Pflege besonders wertvoller Stadtbereiche erwiesen.

Die Bewahrung dieser Zonen war dem Kulturamt der Stadt Wien anvertraut: "Die Pflege des Stadtbildes geht weit über die Bauangelegenheiten hinaus und gehört deshalb zu den wichtigsten Aufgaben des Kulturamtes unserer Stadt", verkündete damals Helmut Zilk. Mit Roland Schachel hatte er einen ebenso geradlinigen wie leidenschaftlichen Fachmann bestellt, der seine Aufgabe nicht als Job, sondern als Mission betrachtete - und sich damit viele Feinde schuf. Um die Beschwerden über Schachels Kompromisslosigkeit zum Verstummen zu bringen, wurde das Referat 1987 zur MA 19 (Stadtbildpflege) übersiedelt.

Bock und Gärtner

Von da an ging's bergab. Altstadterhaltung war nun nicht mehr Anliegen der Kultur, sondern Angelegenheit einer in der reibungslosen Abwicklung von Bausachen routinierten Bürokratie, der im Übrigen die "Herbeiführung eines den zeitgemäßen Vorstellungen entsprechenden Stadtbildes" obliegt. Um in Zukunft auch innerhalb von Schutzzonen dem Zeitgeist besser entsprechen zu können, wurden gleichzeitig Bestimmungen der Bauordnung gestrichen, welche - vielleicht etwas unglücklich formuliert - bei der Planung von Neubauten eine Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Ort und seinen Gestaltqualitäten verlangten.

Diese Beschränkungen fielen dem Verdikt jener Architekturideologen zum Opfer, die im Harmonie- und Identitätsbedürfnis ein antiaufklärerisches "Emotionalitätsrelikt" vermuten, das auszumerzen ist. Seither gilt auch in Wien: je mehr Fremdkörper der Baukörper, desto höher seine architektonische Qualität.

1996 wurden dann noch die Dachausbauten in der Innenstadt wesentlich erleichtert - auch hier war nun die ganze zulässige Bauhöhe auszuschöpfen. Damit hat man künstlich jenen wirtschaftlichen Druck erzeugt, der in der Folge von allen Verantwortlichen als unabdingbarer Sachzwang ins Treffen geführt werden konnte.

In noch stärkerem Maß als bisher wurden die alten Fassaden nun zu Substruktionen degradiert, über denen sich ein "Neues Wien" in Form von selbstbewusst-unangepassten Dachaufbauten erhebt.

1998 erfolgte schließlich die Bestellung von Hans Hollein zum Vorsitzenden des Gestaltungsbeirats für Stadtplanung und Stadtgestaltung, der in der hierzulande bewährten Personalunion von Bock und Gärtner ein breites Betätigungsfeld gefunden hat. Hollein gehört nämlich zu einer Gattung von Architekten, vor der schon Camillo Sitte gewarnt hatte. Im Mittelpunkt ihrer Bemühungen steht nicht der Genius Loci, sondern ausschließlich die Befriedigung der eigenen Eitelkeit.

Aus dieser Tendenz zunehmender Geringschätzung des baulichen Erbes ergibt sich folgerichtig, dass zu Jahresende 2003 die Fertigstellung des Soravia-Wings an der Albertina besonders lautstark gefeiert wird. Dieses Vordach (übrigens nicht das versprochene, fein gedengelte Titanblatt, sondern eine recht schwere, mühsam aus Aluprofilen und Holzfaserplatten zusammengeschraubte Konstruktion, deren Beschriftung den großzügigen Spender nennt und damit auf die anscheinend wünschenswerte Verschränkung staatlicher Kunstpolitik mit privaten Werbeinteressen verweist) ist nicht bloß irgendein unnötiger Firlefanz, sondern hat durchaus Symbolcharakter. Das Statement lautet: "Die überlieferte Bausubstanz muss man mit gezückter Klinge attackieren - gegen die Präsenz der Vergangenheit hilft nur äußerste Brutalität."

Im Interesse der Idee des Weltkulturerbes kann man nur hoffen, dass diese Botschaft auch bei den Verantwortlichen ankommt und Wien bald auf die Liste des bedrohten Erbes gesetzt wird. (DER STANDARD, Printausgabe, 13./14.12.2003)

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