Wir schreiben das Jahr 2012 und befinden uns auf der beliebtesten Baustelle von Graz. Das Kastner-Dach ist nach wie vor silbrig, die Stellungnahme der Baubehörde goldig: „Wir können niemanden zwingen, dass jemand zu Ende baut.“ Die Langmut der Behörden ist bewundernswert, denn unter dieser Devise könnte das Provisorium theoretisch bis zum Abriss des Gebäudes bestehen. Oder bis zum Verglühen der Sonne.
Die Experimente in einem geheim gehaltenen Labor, die dem Dach eine Bronzelegierung bescheren sollen, damit es vom Rot der Altstadtdachlandschaft nicht zu sehr absticht, schreiten dem Vernehmen nach unaufhaltsam voran. „Auf so ein Projekt wartet man gerne. Wie auf Godot…“, äußert der Tourismuschef.
Wir schreiben das Jahr 2013. Alle Versuche haben bis jetzt zu keinem sichtbaren Ergebnis geführt. Gerüchten zufolge ist das Labor in der heißen Phase der Legierungsfindung in die Luft gesprengt worden.
Die nächsten Jahre zeigen uns das vertraute, vielen lieb gewordene Bild.
Dann, 2020, beginnen ein Fassadenexperte und eine Metallrestaurateurin Musterflächen anzubringen. Dass der Spezialist Potemkin heißt, sorgt allgemein für Vertrauen. Die Musterflächen bröckeln umgehend ab.
2030 wird ein Alchimist beauftragt, das silbrige Dach in Goldbronze zu verwandeln. Eine Verwandlung gelingt zweifellos: Das Dach schimmert nun mattschwarz. Der Alchimist setzt sich samt Honorar ins Ausland ab.
2050 wird das Dach unter Denkmalschutz gestellt. Die Altstadt ist schon Jahre davor abgerissen worden.
2066 gibt es unangemeldet ein großes Erdbeben. Wie durch ein Wunder bleibt das Kastner-Dach unbeschädigt.
2110 wird Graz im Dritten Weltkrieg bombardiert. Das Kaufhaus stürzt ein. Ein Jahrhundertprojekt ist damit gewissermaßen zu Ende geführt.
- Verfasser/in:
- Günter Eichberger, Glosse
Genialer Kommentar
Das hab ich mir auch gedacht, als ich kürzlich vom Schloßberg über die Altstadt geblickt habe. Andere Hausbesitzer werden wegen Nuancen der Fensterbalkenfarben gepiesakt.