15/02/2015

die frage, die uns fehlt
offener brief von Andreas Lichtblau, Monika Keplinger, Manfred Omahna, Julien Brues, Sigrid Verhovsek
i_w, institut für wohnbau, TU Graz

wohnbauförderung hätte die aufgabe, jene zu fördern, die am rande der geselllschaft leben

15/02/2015

charlie hebdo
am 7. jänner dieses jahres wurden bei einem terroranschlag auf die satirezeitschrift charlie hebdo in paris 12 menschen getötet; bei weiteren damit in verbindung stehenden terrorakten starben nochmals fünf menschen. die westliche welt war erschüttert; gedenkkundgebungen, trauermärsche und solidaritätsbekundungen dominierten neben politischen statements und dem stand der polizeilichen ermittlungen die mediale welt – für etwa zwei wochen.

was bleibt in erinnerung?
die frage nach der auflagenstärke des nächsten charlie-hebdo-magazins? die statements der politikerInnen? die rechtfertigung für noch genauere abhörmethoden?
im  rahmen der wiener gedenkveranstaltung zu den attentaten in paris hat die moderatorin barbara stöckl die bedeutung des genauen zuhörens, des fragen stellens, angedeutet. 

wir sind der ansicht, dass es nicht allein um die frage der verteidigung von werten der demokratie, der rede- und gedankenfreiheit, der chancengleichheit und toleranz geht. es geht auch um die frage, wieso diese werte einer offenen gesellschaft, etwa durch tendenzen einer new economy, grundlegend in frage gestellt oder zerstört worden sind.

die frage, die uns fehlt
die frage, die uns gänzlich fehlt, ist jene, warum die verschiedenen strategien und strukturen der europäischen sozialstaaten jene personen nicht erreichen können oder wollen, die sich in ihrem deprimierenden (wohn)umfeld, in den banlieues, oder in staatlichen resozialisierungsinstitutionen (besserungs-anstalten?) von radikalen politischen oder religiösen tendenzen vereinnahmen und instrumentalisieren lassen:
_ warum tangieren unsere wohlfahrts strategien gerade diese teile der bevölkerung nicht?
wenn wohnbauförderung schon aus historischer tradition zur erhaltung des sozialen friedens dient, warum erfinden und bauen wir mit den öffentlichen geldern der republik keine "geförderten räume", die dieser radikalisierung durch grundlegende aussichtslosigkeit einen widerpart bieten?
_ ist es nicht an der zeit, die öffentliche förderung von privatem oder institutionalisiertem reichtum grundlegend zu hinterfragen, mit allen aspekten von steuerlicher optimierung dieser vermögen?
_ wäre es nicht an der zeit, öffentlich verwaltete gelder wie die wohnbauförderung oder die förderung für bildungseinrichtungen tatsächlich jenen gruppen der bevölkerung zu widmen, die prekär am rand der gesellschaft stehen, ohne aussicht, sich aus eigener kraft wohlstand erarbeiten zu können?

geförderte räume
das i_w stellt im rahmen seiner lehr und forschungstätigkeit in kooperation mit anthropologen und soziologen die frage, welche veränderungen gegenwärtig bekannter wohnformen, welche räumlich determinierten formen von zusammenleben in prekären situationen angemessen sein können.
dabei geht es jedoch nicht darum, für die sich permanent verschlechternden lebensbedingungen immer kleinere, ärmlichere, minimierte wohnkonzepte bereit zu stellen und damit widerstandslos und willfährig die gesellschaftlichen rahmenbedingungen auf dem feld der architektur nachzuexerzieren, sondern als engagierte expertinnen szenarien für einen allgemeinen zugang zu angemessenen, nicht-prekären wohnräumen zu entwickeln. dieses engagement ist ursächlich mit jenem für den allgemeinen zugang zu gesellschaftlicher teilhabe, bildung und wohlstand verbunden.

Andreas Lichtblau, Monika Keplinger, Manfred Omahna, Julien Brues, Sigrid Verhovsek.
i_w, institut für wohnbau, TU Graz

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