12/03/2008
12/03/2008

Hans Ahlenius hat den pädagogischen und architektonischen Umbau der „Futurum-skola“ von Anfang an mitgestaltet. „Uns ist es wichtig, das Interesse der Kinder wach zu halten – und das zehn Jahre lang.” Foto: Reimar Kanis

Best practice: die Futurum Schule in Schweden. Planung: Architekt Jack Pattison, 1997. Foto: Hans Ahlenius

Schülerinnen verbringen viele Stunden in der Ganztagsschule und sollen sich hier wie zu Hause fühlen. Foto: Reimar Kanis

Am vergangenen Mittwoch brachte GAT einen Bericht über die Schule der Zukunft, die „Futurum Skola“ in Schweden. Hans Ahlenius, IT-Lehrer und Projektleiter der Gesamtschule im Gespräch mit Gerlinde Knaus über das architektonische Konzept, klassenloses Lernen ohne Tafel und Schulglocke.

"Es ist kein Zufall, dass unsere Schule Futurum heißt"

Jugendliche spielen Billard und Drehfußball. Andere wiederum betreuen das Buffet. Der Raum wirkt wie ein Jugendzentrum, nur mit dem Unterschied, dass hier nicht geraucht und kein Alkohol konsumiert wird. Die Kids lassen sich von Pop-Musik in dezenter Lautstärke berieseln. Große und kleine SchülerInnen in Hausschuhen kommen und gehen. Sie sind Besucher gewöhnt und lassen sich nicht stören. Mit schlurfenden und leisen Schritten kommt Hans Ahlenius in blauen Galoschen in die Schulkantine und begrüßt seine Gäste. G. K: Was macht Futurum zum Magneten?
H. A: Die Leute sind sehr beeindruckt von den besonderen Lern- und Lebensräumen unserer Schule. Die Architektur ist ein Teil des pädagogischen Konzeptes. Viele Bildungsexperten und Politiker kommen aus Deutschland und sind von unserer klassenlosen Schule begeistert. Das Gesamtschulmodell, eine Schule für alle, unabhängig von Leistung und Herkunft, ist in Schweden seit Jahrzehnten Normalität, allerdings gilt unser Konzept auch hierzulande als sehr fortschrittlich.

G. K: Inwiefern spielt die Architektur eine wichtige Rolle?
H. A: Das damalige Lehrerkollegium hatte einen starken Einfluss auf das architektonische Konzept und es gab von Anfang an eine intensive Zusammenarbeit mit dem Architekten (Jack Pattison, Anm.). Wir haben besonders großen Wert auf die Ausstattung gelegt, da ja Schüler viel Zeit hier verbringen. Die offenen Arbeitsräume bestehen aus kleinen Sitzgruppen, es gibt keine Schulglocke, keinen Frontalunterricht, keine verschlossenen Türen. Ich bin sehr oft auf Vortragsreisen, um unsere Schule vorzustellen. Ich war gerade vor ein paar Tagen auf einer Konferenz der Waldorf-Pädagogen in Deutschland.

G. K: Welche Visionen standen am Anfang von Futurum?
H. A: Ja, es ist wichtig, mit Visionen zu beginnen. Es ist kein Zufall, dass unsere Schule „Futurum“ heißt. So müssen wir uns heute in der Schule die Frage stellen, was denn Wissen ist und was wir lehren müssen. Wie muss die Schule und vor allem der Inhalt der Schule verändert werden, damit ein Nutzen aus den ungeheuren Möglichkeiten der neuen Technik gezogen werden kann? Wie bringen wir unsere Schüler dazu, mehr Verantwortung zu übernehmen, die richtigen Fragen zu stellen, im Team, projektorientiert und Themen übergreifend zu arbeiten?
Als 1999 der Schulumbau in der Kommune Håbo notwendig wurde, haben wir über 6 Millionen Euro für Um- und Neubauten investiert. In einer Art Zukunftswerkstatt konzentrierten wir uns eineinhalb Jahre lang ganz auf die Entwicklung des neuen Konzeptes. Wir bringen die Schüler dazu, tiefer in das Lernen einzudringen, ein größeres Verständnis zu erreichen und die Dinge ganzheitlich zu sehen. Das Ziel ist, vor dem Hintergrund der Intentionen des Lehrplans und der Ideen der Schule noch besser arbeiten zu können.

G. K: Österreich hat ein ähnliches differenziertes Schulsystem wie Deutschland. Der Zugang zur Bildung hängt hier stark von der sozialen Herkunft ab. Wie ist es möglich, dass begabte und weniger begabte Schüler aus unterschiedlichen Milieus gemeinsam in einer Schule unterrichtet und gefördert werden?
H. A: Eine Trennung gibt es hier auch, aber erst mit 16 Jahren. In diesem Alter sind die Jugendlichen schon zu einer stabileren Persönlichkeit herangewachsen und dadurch fällt die Entscheidung leichter. Mehr als 90 Prozent unserer SchülerInnen besuchen die dreijährige schwedische Oberschule und machen mit 19 Jahren das Abitur. Wir haben beobachtet, dass junge Menschen ganz unterschiedliche Entwicklungsphasen durchlaufen und bei fast allen Schülern sind auch Phasen mit etwas geringerer Aufnahmebereitschaft dabei. Lernschwächere oder verhaltensauffällige Kinder erhalten eine spezielle Förderung im Einzelunterricht, von dafür besonders geschulten Lehrern. Die Lösung des Problems liegt in der flexiblen, individuellen Förderung und in der Altersmischung. So können alle voneinander lernen, die Jüngeren von den Älteren, die Begabten von den weniger Begabten und so weiter. Über 10 % der Kinder an unserer Schule haben einen Migrationshintergrund. Jeder SchülerIn erarbeitet sich ihren/seinen individuellen Lehrplan selbst. Der Lehrer hat dabei eine begleitende Funktion.

G. K: Sehen Sie „Futurum“ als Prototyp der Zukunftsschule?
H. A: Das Konzept von Futurum ist sicherlich nicht eins zu eins auf ein anderes Land, wie etwa Österreich, übertragbar. Jede Schule muss ihr eigenes Konzept gestalten und den individuellen und gesellschaftlichen Gegebenheiten anpassen. Wir betrachten unser pädagogisches Konzept nicht als „fertig“, sondern als eine ideale Möglichkeit für die weitere Entwicklungsarbeit.

G. K: Was könnte an dem offenen, architektonischen SchulKonzept noch verbessert werden?
H. A: Es gibt da tatsächlich auch immer wieder weiterführende Überlegungen, so ist z.B. in manchen Räumen bei bestimmten größeren Schülergruppen das Umluftsystem etwas unzureichend.

G. K: Die schwedischen Schulen sind autonom – so auch im Personalbereich. War es schwierig, die passenden LehrerInnen für diese neue Didaktik zu finden?
H. A: Wir hatten am Anfang sehr viele Schwierigkeiten – nicht nur mit Leuten, die glaubten eine Schule müsste so sein wie sie sie selbst kennen gelernt hatten. Eltern fragten sich, ob das überhaupt eine ordentliche Schule sei, wo man auf dem Sofa sitzt und auf dem Boden. Lernt man nicht besser auf Holzbänken und an tischen in Reihen mit dem Blick zur Tafel? Aber besonders oft gab es Probleme mit den Lehrern, die den klassischen Frontalunterricht gewohnt waren. Diese konnten sich nicht auf das Teamplay der Lehrerschaft einlassen und mussten gehen. Es ist enorm wichtig, dass die Lehrer unsere flexiblen und experimentellen Konzepte mittragen und realisieren – das setzen wir von unseren PädagogInnen voraus.

G. K: Welche Schlussfolgerungen ziehen Sie nach acht Jahren mit der neuen Schule?
H. A: Es ist klar, dass wir positive Entwicklung sehen. Wir bemerken vor allem, dass sich die soziale Kompetenz unserer Schüler sehr stark erhöht hat. Wir erleben auch, dass sie damit bessere Ergebnisse erreichen. Wir erhalten ganz einfach ein ruhigeres und geborgenes Arbeitsumfeld mit einer Mischung der Altersgruppen in kleineren Einheiten.

Hans Ahlenius lädt seine Gäste zum Rundgang in der Schule ein. Ihm fällt nun auf, dass seine Besucher Straßenschuhe anhaben. Er führt seine Gäste zur Garderobe und bittet sie, die blauen Plastiksackerl überzustülpen.

G. K: Liegt es an den Hausschuhen, dass es hier so ruhig ist? Kaum zu glauben, dass sich hier 1.000 SchülerInnen aufhalten.
H. A: Ja, die Frage höre ich oft. Die meisten Gäste sind von der besonderen Atmosphäre der Schule beeindruckt. Die Hausschuhe-Regel trägt schon dazu bei, dass der Lärmpegel herabgesetzt wird. Dazu kommt, dass sich hier alle wie zu Hause fühlen. Wir haben bei der Einrichtung generell auf den Wohlfühlfaktor geachtet. Interessant ist, dass auch die Durchmischung von so vielen Altersstufen einen überraschenden Effekt mit sich bringt. Große und kleine Kinder bahnen sich ihren Weg durch Gänge und Räume und dadurch kommt es zu einer Entschleunigung der Bewegungen. Es waltet spürbar mehr Behutsamkeit, da niemand mit einem kleinen Menschen zusammenstoßen möchte.

*Das Interview erfolgte in englischer Sprache.
Übersetzung: Gerlinde Knaus und Reimar Kanis.

Verfasser/in:
Gerlinde Knaus, Reimar Kanis; Interview
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