09/03/2020

Experimentelle Handlungsweisen

Graz Kulturjahr 2020 und seine AkteurInnen

Bettina Landl stellt wieder drei Projekte vor:

  • Graz Backstage
    behandelt Themen wie Stadtforschung und Mobilität und macht sie in Form performativer Forschungs- reisen erlebbar.
  • Grazotopia
    versteht sich als ein umfangreiches Experiment in der partizipativen Stadtplanung und Wohnpolitik, das in ein aktives Archiv utopischer Zukunftsentwürfe mündet.
  • NORMAL - Direkter Urbanismus x 4
    realisiert 4 Projekte in Andritz, Waltendorf, Liebenau und Wetzelsdorf zu 'peri-urbanen' Themen von Stadtentwicklung.
09/03/2020

Graz Backstage' nimmt verschiedene Infrastruktur-Knoten in den Blick. Alle Grafiken von Bettina Landl.

©: Bettina Landl

Graz Backstage': Vier Touren machen Kreisläufe sicht- bzw. erlebbar und führen mitunter zu historischen Stätten wie dem alten Bahnhofspostamt.

©: Bettina Landl

Grazotopia' widmet sich den Themenschwerpunkten Energie, Boden, Wohnen und Utopie und erforscht die Achse Keplerstraße – Wickenburggasse – Humboldtstraße.

©: Bettina Landl

transparadiso fördert mit ihrer transdisziplinären Praxis einen erweiterten, sozial und gesellschaftlich engagierten Urbanismus – einen 'Direkten Urbanismus'.

©: Bettina Landl

NORMAL - Direkter Urbanismus x 4' stellt relevante Themen von Stadtentwicklung an den Rändern, in 'peri-urbanen' Räumen, zur Diskussion.

©: Bettina Landl

Graz steht im Kulturjahr 2020 seit Anfang Jänner ganz im Zeichen der urbanen Zukunft. Vieles ist aktuell im Prozess und im Werden. Das Gros der Projekte befindet sich in der Anfangsphase. Was nun ganz wichtig ist: Die Unterstützung vonseiten der Administration, damit die Unternehmungen gelingen können. Dabei sollte auch der so wichtige Austausch untereinander gefördert werden, um Synergieeffekte unter den Projektanten zu erzielen.

Rhizomatische Strukturen
Am 18. März findet im HDA Graz eine „Kick Off“-Veranstaltung zu Graz Backstage statt. Diese bietet einen ersten Einblick in das Untersuchungsfeld, den Projektverlauf und die möglichen Methoden, bei Genehmigung Forschungsvehikel inklusive. Das Team wie auch die PartnerInnen aus der Wissenschaft und Wirtschaft stellen sich vor. Graz Backstage – das Projekt von Michael Zinganel und Michael Hieslmair, die seit 2012 mit ihrem Verein Tracing Spaces als unabhängige interdisziplinäre Forschungsplattform Projekte, Ausstellungen, Publikationen und Vermittlungsformate zu den Themen Stadtforschung, Mobilität, Tourismus und Migration sowie recherchebasierte Kunst- und künstlerische Forschungsprojekte konzipieren und produzieren, bietet nun dank des Kulturjahres auch performative Forschungsreisen in die Grazer Logistiklandschaft an.
Im Juni und Juli bewegen sie sich gemeinsam mit Gästen und interessierten StadtbewohnerInnen mit einem Autobus und einer Pop-Up Ausstellung in einer Art mobilem, multilokalem Symposium mit Musikbegleitung und kulinarischer Not-Versorgung zu verschiedenen Infrastruktur-Knoten, die für die Bewältigung des „Stoffwechsel“ der Stadt Graz von großer Bedeutung waren und sind. Diese riesigen Agglomerationen sind gleichzeitig Arbeits- und Lebensräume von ExpertInnen der Ver- und Entsorgung. Vier Touren machen Kreisläufe sicht- bzw. erlebbar und führen von historischen Stätten wie dem alten Bahnhofspostamt, Gemüsemarkt und Schlachthof, oder der Müllentsorgung in der Sturzgasse, zu aktuellen Orten wie dem Containerterminal im Cargo Center Süd, SWISSport Luftfracht, dem ganz neuen Verteilerzentrum der Post AG, dem SPAR- und REWE-Zentrallager sowie den Entsorgungseinrichtungen von Saubermacher und SERVUS. Im Rahmen zweier Podiumsdisskussionen, einer Ausstellung, einer Publikation und eines geplanten Radioprogramms werden die Inhalte, Erlebnisse und Ergebnisse weitergegeben und eine Auseinandersetzung mit diesem so komplexen Thema Mobilität gefördert.
Zinganel und Hieslmaier haben im Laufe ihrer jahrelangen Zusammenarbeit sukzessive Methoden der Recherche und Techniken der Repräsentation entwickelt, um sowohl die mikropolitischen Mobilitäts-Erfahrungen der mobilen Individuen als auch die übergeordneten makro-politischen Ziele (supra)-staatlicher Institutionen und privater Unternehmen zu vermitteln. Seit Sommer 2015 betreibt Tracing Spaces darüber hinaus einen Projektraum am Nordwestbahnhof, einem der letzten innerstädtischen Logistik-Knoten Wiens, wo eingebettet in das soziale Milieu der Logistiklandschaft nach und nach eine mehrschichtige multimediale Kartografie der Migrations- und Mobilitäts-Erfahrungen von hier tätigen AkteurInnen erstellt wird.

Against the Smart City
Grazotopia, das Projekt von Ana Jeinić, versteht sich als ein umfangreiches Experiment in der partizipativen utopischen Stadtplanung und Wohnpolitik, das die Zusammenarbeit zwischen lokalen und internationalen ExpertInnen, AktivistInnen, Studierenden sowie allen interessierten StadtbewohnerInnen erfordert und ermöglicht. Der Prozess wird Forschung, Bildung, Planungsworkshops, Beratung, Publishing sowie eine Ausstellung miteinschließen und in ein „aktives Archiv“ der utopischen Zukunftsentwürfe münden. Der thematische Fokus des mehrstufigen Planungsexperiments liegt auf den wachstumskritischen und solidarischen Wirtschaftsmodellen, cyber-sozialistischen Verwaltungskonzepten, postbiologischen Wohngemeinschaften, alternativen Eigentumsformen, integrativen, egalitären und nachhaltigen Finanzierungsprogrammen, dezentralisierten gemeinschaftlichen Energienetzen sowie der Umnutzung von Blockchain- und anderen aufkommenden Technologien zu Zwecken der gerechten Ressourcenverteilung. Im geographischen Sinne umfasst Grazotopia die ganze Stadt, wobei besondere Aufmerksamkeit den wenig beachteten Stadtteilen nördlich der Achse Keplerstraße – Wickenburggasse – Humboldtstraße geschenkt wird.
Die vorherrschenden Trends in der Stadtentwicklung, die häufig unter dem modischen Begriff Smart City vermarktet werden, bleiben tendenziell dem Imperativ des Wirtschaftswachstums und der profitablen Investitionen (ungeachtet deren sozialer und ökologischer Folgen) verpflichtet. Dieses Paradigma, das auch in den aktuellen Entwicklungsstrategien der Stadt Graz erkennbar ist, beruht auf der Annahme, dass sich gesellschaftliche und ökologische Probleme (wie zum Beispiel, Armut, Mangel an leistbaren Wohnungen, soziale Ausgrenzung, Umweltverschmutzung oder Klimawandel) durch den Einsatz von „intelligenten“, technischen und administrativen Lösungen beseitigen lassen. Aufkommende Technologien, einschließlich des „Internets der Dinge“ und der ausgefeilten Grün-Tech-Systeme, werden angewandt, um den neuen Stadterweiterungen die Aura der Fortschrittlichkeit zu verleihen. Dennoch: Die Probleme, die sich aus der Vorrangigkeit der Kapitalakkumulation in den Prozessen der Stadtentwicklung ergeben, bleiben dabei intakt. Darüber hinaus beschränkt sich die direkte Teilnahme der StadtbewohnerInnen an den städtischen Planungsprozessen meist auf kleine und konkrete Bauvorhaben mit absehbaren Realisierungshorizonten und wird nur selten auf Diskussionen über grundlegende Prinzipien der Stadtentwicklung und Spekulationen über alternative Zukunftsszenarien erweitert.
Aktuell ist das Projektteam mit der GrazForschung befasst und widmet sich der Sammlung, Analyse, Gestaltung, Darstellung und Verbreitung der für die GrazPlanung relevanten Informationen rund um die Themenschwerpunkte Energie, Boden, Wohnen und Utopie. In der GrazPlanung im September stehen die partizipative Entwicklung und Darstellung der utopischen Zukunftsszenarien für Graz im Mittelpunkt. Unter GrazFormation wird gegen Ende des Jahres die Einrichtung des UtopieArchivs sowie die Einleitung der ersten Schritte zur Realisierung der ausgearbeiteten Entwicklungsszenarien forciert. Öffentliche Veranstaltungen wie GrazTalks im HDA oder UtopieInkubator, UtopieSchule, UtopieLabor und UtopieAusstellung versprechen einen regen Austausch und wertvolle Erkenntnisse.

Kleines Städteparadies
Barbara Holub und Paul Rajakovics sind transparadiso und befördern seit 1999 vermittels transdisziplinärer Praxis einen erweiterten, sozial und gesellschaftlich engagierten Urbanismus – einen Direkten Urbanismus. Dieser basiert auf direct action (Emma Goldman) sowie auf den Methoden der Situationisten und Theorien von Henri Lefebvre und Michel de Certeau. Direkter Urbanismus involviert künstlerisch-urbanistische Praktiken in eine prozess-orientierte Methode des Städtebaus, die auf die veränderten Parameter urbaner und regionaler Fragestellungen reagiert und dafür neue Tools und Strategien entwickelt. transparadiso bearbeitet Aufgaben der verschiedensten Dimensionen in diversen Kooperationen, die Architektur und Urbanismus als wesentlichen Beitrag für aktuelle gesellschaftliche Fragestellungen begreifen und vom Designobjekt oder Tool über Architekturprojekte und Studien bis zu großräumigen städtebaulichen Projekten reichen.
„Man kann nicht mehr hochrechnen auf die nächsten 20 Jahre, weil die Rahmenbedingungen so unabsehbar geworden sind. Wachstums- und Schrumpfungsprozesse können sich schnell umkehren. Für den Städtebau spielen Demokratisierung und Beteiligung mittlerweile eine wesentliche Rolle.“, ist Holub überzeugt. „Verhandlung ist wichtiger geworden als Planung. Manchmal sind Umwege nötig, um zu Entscheidungen zu kommen.“ Ihr Projekt NORMAL - Direkter Urbanismus x 4 bietet nun die Chance, relevante Themen von Stadtentwicklung an den Rändern, in „peri-urbanen“ Räumen, zu behandeln, die – obwohl die Mehrheit der Bevölkerung in solchen Räumen lebt – kaum im Planungsinteresse liegen.
„Im Anschluss an das Projekt in Judenburg, das als exemplarisch für den 'Direkten Urbanismus' gilt, bietet dieser Rahmen nun eine tolle Möglichkeit, die Idee in die Praxis umzusetzen und nicht nur punktuell zu agieren.“, sind sich beide einig. „Was wir in den vier Bezirken planen, ist als Initialzündung für eine längerfristige Planung mit Methoden des 'Direkten Urbanismus' gedacht. Planung wird konkret mit Handlungsräumen verknüpft, komplexe Strukturen beleuchtet und dabei mit Methoden der Wunschproduktion gearbeitet, wo es darum geht, Wünsche für die Gemeinschaft zu generieren.“, ergänzt Rajakovics. „Im aktuellen Fall ist es spannend, weil wir wahlverwandte internationale Positionen eingeladen haben, um in den Bezirken Liebenau, Andritz und Wetzelsdorf Projekte zu machen. Wir betreuen den Bezirk Waltendorf, der auch als Klammer fungiert. Hier wird alles zusammenkommen und Themen, die in den anderen Bezirken angesprochen, aber nicht dezidiert behandelt werden können, noch einmal aufgenommen. Die Themen werden von den TeilnehmerInnen selbst eingebracht, rhizomatische räumliche Strukturen ohne Hierarchien geschaffen.“, führt Holub weiter aus. „Wir nutzen die Gelegenheit, um innovativen urbanistischen Praktiken mehr Öffentlichkeit zu verschaffen und den Blick auf die Übergangsbereiche zwischen Stadt und Land zu richten, die symptomatisch sind für eine wachsende Stadt und ein konzises Stadtplanungskonzept erforderlich machen.“

Auch transparadiso starten ihr Projekt und eröffnen am 29. April mit einer Podiumsdiskussion, an der alle beteiligten KünstlerInnen (orrizzontale, Georg Winter und Public Works) teilnehmen, im Stadtzentrum (HDA Graz), realisieren ihre Projekte dann an den Stadträndern (Aktivitäten in den Bezirken, mehrtägige Wanderung an der Stadtgrenze), um die Erfahrungen schließlich wieder ins Zentrum der Stadt zu tragen (Ausstellung im Forum Stadtpark). Dabei steht stets die Frage im Vordergrund: Wie können nachhaltige Gemeinschaften jenseits von Partikularinteressen entstehen, um ein zufriedenes Zusammenleben zu gewährleisten? Ein Arbeiten mit- und aneinander also. Es bleibt viel zu tun.

der Wörtlichnehmer

Was bitte sind cyber-sozialistische Verwaltungskonzepte und postbiologische Wohngemeinschaften? Sind die Bewohner und -innen aufgrund von zu viel posttheoretischem Geschwafel in letzteren schon ausgestorben?
Hilfe, nicht einmal Wikipedia weiß mir zu helfen!
ich behaupte mal, dass guter Journalismus mir entweder erklärt, was die Begriffe bedeuten oder sie gar nicht in den Mund nimmt, pardon, in die Maschine klopft.

Mo. 09/03/2020 4:17 Permalink
Bettina Landl

Antwort auf von der Wörtlichnehmer

Das Projekt nimmt Bezug auf den aktuellen Diskurs zum Thema "Cybersozialismus" (auch: Digitaler Sozialismus), auf Texte wie beispielsweise "Cybersozialismus als konkrete Utopie" (Jan Philipp Dapprich) und "Digital Socialism? The Calculation Debate in the Age of Big Data" (Evgeny Morozov). Im Oxford Dictionary of Social Media gibt es eine kurze und einfache Definition des Begriffs "digital socialism": https://www.oxfordreference.com/view/10.1093/acref/9780191803093.001.000.... Eine bedeutende geschichtliche Referenz für die Idee des Cybersozialismus (bzw. des digitalen Sozialismus) ist das Projekt Cybersyn, das während der Regierung Salvador Allendes in Chile umgesetzt wurde. Dazu gibt es auch in Wikipedia einen Eintrag: https://de.wikipedia.org/wiki/Cybersyn
Der Begriff "postbiologisch" hängt u. a. mit den Debatten zum Thema Trans- und Posthumanismus zusammen, mit der Idee von Mischwesen aus Mensch und Maschine wie auch mit dem Phänomen der Extropie.

Di. 10/03/2020 11:53 Permalink
Bettina Landl

Antwort auf von Bettina Landl

Ergänzung: Öffentliche Veranstaltungen im Rahmen von "Grazotopia" wie GrazTalks im HDA oder UtopieInkubator, UtopieSchule, UtopieLabor und UtopieAusstellung widmen sich u. a. genau diesen Begrifflichkeiten.

Di. 10/03/2020 11:59 Permalink
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