29/08/2007
29/08/2007

Fabian Wallmüller, Jahrgang 1974, lebt und arbeitet als Architekt und freier Journalist in Graz. Foto: Redaktion GAT

Die Interviewreihe der Regisseurin Siegmar Zacharias führt den Prozess weiter, den International Festival The Theater im Januar 2006 begonnen hat, als 40 Künstlerinnen, ArchitektInnen, Regisseurinnen, Theoretikerinnen, DJs, DesignerInnen, von International Festival (Spangberg/Lindstrand) eingeladen wurden, The Theater zu entwickeln. Ein temporäres, mobiles Theater, das als Performance gedacht ist und als solche 3 Jahre lang auf Tour gehen wird. The Theater hat beim steirischen herbst 07 Premiere, danach ist es nach London, Montpellier, Stockholm und Berlin eingeladen.
Mit Theater ist... lädt Siegmar Zacharias lokale Größen der jeweiligen Standorte ein, sich an dem Prozess zu beteiligen. Fragen, die bei der Entstehung von The Theatre wichtig waren, werden aufgenommen und aus der jeweiligen Perspektive des Gesprächpartners weitergedacht.

"Aufforderung zum Missbrauch" - Siegmar Zacharias (SZ) im Gespräch mit Fabian Wallmüller (FW).

SZ: Fangen wir mit einer ganz offenen Frage an: In welche Beziehung würdest du deine Arbeit zu Inszenierungsstrategien oder Bespielungen setzen?

FW: Reden wir lieber über Bespielung, denn Inszenierung ist ein problematischer Begriff. Wenn man in der Architektur das Wort Inszenierung in den Mund nimmt, dann steht dieser Begriff für Gestaltung - und alle Probleme, die dieser Begriff mit sich bringt -, während Bespielung eher die Nicht-Gestaltung eines Orts voraussetzt, also beispielsweise die Aneignung von Orten, die bis dato nicht beachtet oder genutzt wurden.
Ich glaube, die Bespielung eines Raums oder eines Ortes ist ein ganz wesentliches Element in der Architektur. Mir gefällt ein Satz von Herman Czech sehr gut: „Architektur ist Hintergrund, alles andere ist nicht Architektur.“ Natürlich geht es in der Architektur darum zu gestalten. Ich meine aber, dass die Bespielung eines Ortes eigentlich das Komplementäre zur Architektur ist, sprich, Architektur schafft Räume, die bespielt werden, und je besser sie bespielt werden können und je mehr man dort ausprobieren kann, desto besser ist die Architektur. Je flexibler, je offener ein Raum ist, je weniger er vorgibt, je niederschwelliger er ist, desto besser. Und ich denke, die Bespielung eines Ortes funktioniert auch ohne Architektur oder ohne Architekten, im Sinne, dass man einen Ort, der schon da ist, in Beschlag nimmt. Jemand, der Theater macht zum Bespiel und einen Ort bespielt.
Darüber hinaus gibt es natürlich auch Architekten, Raumlabor aus Berlin ist da so ein Beispiel, die sich auf die Gegenseite geschlagen haben und die Bespielung zu ihrem Hauptanliegen gemacht haben, sich bestehender Räume annehmen, um sie umzuinterpretieren.
Das ist ein Punkt wo Theater auch viel für eine Stadt tun kann, eine urbane Verantwortung, die Theater wahrnehmen kann und die vor allem dann funktioniert, wenn man nicht in etablierte Räume geht, sondern sich Räume aussucht, die bis dahin nicht bespielt wurden. Das ist auch dahingehend interessant, weil man dann völlig unerwartet auf Theater trifft. Gerade der steirische herbst hat da eine schöne Tradition. Es war immer wieder so, dass man sich Orte herausgesucht hat, die nicht als Kulturorte bekannt waren und diese für einen Monat verwendet hat, um dort etwas stattfinden zu lassen.

SZ: Um an Beispielen weiterzureden, was ist für dich ein Beispiel einer gelungenen Bespielung?

FW: Da können wir vielleicht auf die Zeichensäle zu sprechen kommen. Die Zeichensäle sind eine sehr interessante Sache. Sie sind ganz kurz beschrieben autonome, studentische Räume an der Universität. Das interessante daran ist, dass es sie seit sechzig, siebzig Jahren gibt - es weiß keiner mehr so genau, wie lange -, aber es sind denkbar langweilige Räume, mehr oder weniger neutrale Räume, nach zwei Seiten mit Fenstern versehen, sehr groß, sehr flach. Und das Interessante ist, dass der Raum so langweilig er ist, sehr viel zulässt. Und dazu kommt der Umstand, dass das ein neutral verwalteter Raum ist, also sprich die Studenten entscheiden, wie es dort abläuft, wer dort reinkommt, usw. Das hat sehr viel entstehen lassen. Man kann sagen, dass die Zeichensäle für die Architekturproduktion in Graz nicht unwesentlich waren. Es ist natürlich problematisch, denn es gibt 1500 Studenten und etwa hundert haben in diesen Sälen Platz. Das ist natürlich auch etwas, was feindselige Stimmungen hervorruft, aber auch zur Gründung privater Studio-Zeichensäle geführt hat.

SZ: Die nennen sich aber auch Zeichensäle ... sozusagen als Markenname?

FW: Ja genau. Aber was mir wichtig erscheint ist, dass ein Zeichensaal ein sehr unspektakulärer Raum ist und, dass der Inhalt, also das was dort passiert, eigentlich relativ offen und frei ist. Und dadurch entsteht sehr viel. In dem Sinn meine ich, dass die Bespielung eines öffentlichen Ortes, wenn ich jetzt weiter denke, an diese Parameter geknüpft ist. Also, dass der Ort relativ wenig vorgibt, sehr neutral ist, oder vor allem nicht gestaltet ist. Das ist das Problem in der Architektur, wenn der Ort zu viel gestaltet ist, verhindert man eher die Bespielung als dass man sie ermöglicht. Und je mehr Ambitionen der Architekt zeigt, desto weniger Raum gibt er eigentlich den Leuten, die dann später kommen und den Ort in Beschlag nehmen sollen. Und zum anderen denke ich, je lockerer eine Sache organisiert ist, je offener das Ergebnis einer Bespielung ist, desto interessantere Ergebnisse kommen zutage.

SZ: Warst du selbst in den Zeichensälen?

FW: Ich war selber sechs Jahre in den Zeichensälen und hab da mitgemacht. Die Zeichensäle werden momentan von der Seite der Universität sehr kritisiert und es gibt von einigen Professoren wenig Verständnis für eine autonome Struktur, wo man nicht weiß was passiert. Auf der anderen Seite gibt es einen konservativen Hang der Studenten, sich lieber Vorgaben machen zu lassen, statt sich selber welche zu geben. Und unser Bestreben mit dem Buch „open:24h - workground/playground“ war, die Qualität eines nicht kontrollierten Raums hervorzuheben und das mit anderen Räumen, die auch nicht kontrolliert sind, in Verbindung zu bringen.

SZ: Was waren das für andere Räume?

FW: Wir haben zum einen Parallelen gesucht in den so genannten flachen Bürostrukturen, haben uns aber auch Modelle offener Arbeitsräume angesehen, wie sie etwa an Hochschulen in den USA, an der Architectural Association in London oder auch auf der Grazer FH Joanneum praktiziert werden. Eine interessante Erkenntnis dabei war beispielsweise, dass sich Arbeitsräume dieser Art, die ja oft als Kreativräume genutzt werden, nicht inszenieren lassen, also eigentlich nicht planbar sind. Vielmehr kommt es auf die Atmosphäre an, die dort herrscht, also auf weiche Faktoren wie zum Beispiel das zufällige Aufeinandertreffen von Menschen und Ideen. Es ist klar, dass Zufall nicht planbar ist, aber man kann ihn strukturell unterstützen – etwa Räume wie die Zeichensäle, die autonom verwaltet sind. Dann kann so ein Raum zu einem Freiraum werden für ein ganzes Universum an Ideen und Projekten.

SZ: Wie würdest du das Potenzial dieser offenen, nicht kontrollierten, kollaborativen Struktur beschreiben? Auf der einen Seite scheint das ja offensichtlich sehr viel Angst zu erzeugen, auf der anderen Seite scheint es sehr produktiv gewesen zu sein. Wie hat diese Produktion stattgefunden, wie haben die Entscheidungsfindungsprozesse stattgefunden, wie kommt man zu einem Ergebnis, wenn die Struktur nicht zielorientiert angelegt ist?

FW: Es ist wichtig, dass es eine gut funktionierende Struktur gibt innerhalb eines Zeichensaals. Nur sollte die Struktur so flexibel sein, dass sie auf neue Akteure reagieren kann. Wir haben eigentlich nie irgendwelche Regeln aufgestellt, sondern die Regeln wurden ständig neu verhandelt. Ob Wettbewerbe gemeinsam gemacht werden, wer neu dazukommt, wie man sich im studentischen Leben engagiert. Es ist auch sehr viel Universitätspolitik über die Zeichensäle gelaufen. Damals, zu Zeiten als es noch Mitbestimmung gab, bei der Berufung von Professoren - das ist ja heute leider nicht mehr so -, haben die Zeichensäle auch immer wieder Leute eingeladen und Veranstaltungen gemacht und Leute in dem Gremium gehabt, das die Entscheidung letztlich getroffen hat.
Die Zeichensäle sind natürlich geschlossene Universen für sich, aber es gibt ja auch die andere Variante wie zum Beispiel die Badestrände überall in Berlin. Wo das Programm denkbar einfach ist. Es gibt eine Bar und Sand und manchmal Strandstühle, ansonsten kann man sich in einem solchen öffentlichen Wohnzimmer zusätzlich selbst überlegen, wie man sich dort verhält. Ob man Federball spielt oder Bocha.

SZ: Gerade bei solchen Sachen wie den Badestränden passiert ja etwas, nämlich, dass man sich selbst in einem Zitat bewegt. Man hat ein einfaches Bild, das lesbar ist, und man weiß, wie man sich darin zu verhalten hat. Das Ganze entwickelt einen ganz speziellen Reiz deswegen, weil ich plötzlich meinetwegen im Bikini neben dem Bodemuseum sitze, mir also das Zitat die Lizenz gegeben hat, mich dem größeren Kontext gegenüber inadäquat zu verhalten. Das ist natürlich eine große spielerische Einladung.
Ich fände es ganz spannend, zurückzugehen zu der Frage von Freiheit und Regelfindung. Eines der schönsten Beispiele für mich für Regelfindung sind Kinder, die spielen und eine sagt: "Ich will Königin sein." Das funktioniert nur, wenn alle sie Königin sein lassen und sich gemäß den Regeln einer Kindermonarchie verhalten in dem Moment. Und es wird auch immer wieder andere Könige geben. Nach zehn Minuten sagt ein anderer: "Ich will jetzt König sein." Wenn die anderen aber nicht diese Verabredung mittragen, dann kann er alleine in der Ecke König sein, aber dann funktioniert es nicht. Das ist also einerseits eine Definition von Kinderspiel und auf der anderen Seite ein ständiges Verhandeln über Regelgebung. Und das ist auch meine Frage: Was für ein Verhältnis gibt es zwischen Spiel und Selbstorganisation?

FW: Also ich glaube, dass diese offenen Strukturen immer an eine Zeit gebunden sind. Wenn etwas temporär ist, dann funktioniert es. Wenn es längerfristig andauert, dann bilden sich automatisch Versteifungen heraus und dann verliert es auch automatisch den Zauber des offenen Prozesses. Ein gutes Beispiel für das Funktionieren des Temporären ist der CLUB DER NICHTSCHWIMMER. Er ist im Rahmen der Kulturhauptstadt 2003 von Arlt, Foerster-Baldenius, Grillitsch aus Berlin für Graz gemacht worden. Er war durch Mauern von seiner Umgebung abgetrennt und hatte eine offene Seite zum Mühlgang, einem ganz kleinen Bach in Graz. Da waren die Regeln sehr klar. Es war ein Club, bei dem man für wenig Geld Mitglied werden konnte. Man musste sich registrieren, hat einen Code bekommen, ist hingegangen und hat ihn benutzt. Es war aber ein geschlossener Club. Die Mitgliedschaft war an die Registrierung gebunden. Der Name “Club der Nichtschwimmer“ ist daraus entstanden, dass man in diesem Bach, dem Mühlgang, eben nicht baden kann, weil das Wasser zu verseucht ist und es verboten ist. Aber es war alles zum Baden hergerichtet. Viel interessanter war aber, dass eine vollkommen offene Gemeinde von Leuten diesen Raum für eine gewisse Zeit benutzt hat. Und das hat ohne Probleme funktioniert. Dann war das Kulturhauptstadt Jahr vorbei und das Ganze wurde beendet und der Garten abgesperrt. Ein Jahr später hat ein Freund von mir die Idee gehabt, diesen Club anzumieten. Wir mieten ihn jetzt wieder an. 2003 waren es an die hundert Leute, die Mitglieder waren. Und das ist jetzt unser privater Nichtschwimmer-Club. Was ja eine interessante Entwicklung ist ... etwas, das als halböffentlicher Ort anfängt und als privater Ort endet ... mittlerweile sind wir aber auch mehr Mitglieder und ich kenne nicht mehr alle Mitglieder. Der Club wird auf diese Weise langsam wieder zu einem öffentlichen Ort.

SZ: Was passiert mit der Privatheit an einem Ort, der vorher öffentlich war?

FW: Also was man sieht ist, wenn man den Strukturen freien Lauf lässt, dann werden sie immer privater. Das ist auch bei den Zeichensälen der Fall. Es ist ein riesiges Wohnzimmer und die Studenten entscheiden wer da reinkommt, insofern ist es eine sehr private Sache und es hängt dann eben von den Akteuren ab, wie offen sie sind. Das bestimmt, welche öffentlichen Qualitäten der Ort hat.
Das System Zeichensaal, war so erfolgreich, dass Leute, die nicht in die universitären Zeichensäle hineinkamen, eigene private Zeichensäle gegründet haben, die weniger das Branding der Zeichensäle benutzten, sondern die Methode, den Diskursrahmen. Insofern, um jetzt wieder auf die Stadt zurückzukommen, hat eine Bespielung das Potenzial, eine Idee zu gebären, die in einer anderen Form wieder kommt, also im besten Sinne sich temporäre Aktionen in der Stadt weiter tragen. So zum Beispiel eine Herbstbar des steirischen herbst, das Palitinfeld am Südtiroler Platz, das danach eine der Bars für die Kulturhauptstadt war und schließlich zu einem lizenzierten Lokal wurde.

SZ: Wie verhält sich dann die Idee von temporärer, selbstorganisierter Bespielung, die auch nicht immer genehmigt ist, zu der Idee von Lizenzierung?

FW: Am Palais Thinnfeld lässt sich dieser Zustand ganz gut fest machen, insofern, als das Lokal zuerst professioneller geworden ist, aber sich dann auch irgendwann totgelaufen hatte. Es ist letztlich verschwunden. Ähnliches lässt sich bei einem anderen Beispiel beobachten: Unter der Murbrücke gab es letztes Jahr eine Aktion von Resanita. Resanita sind zwei Schaufenstergestalterinnen die leer stehende Orte in der Stadt bespielen. Sie haben unter andern ein Lokal unter der Murbrücke gemacht. Die Idee hat natürlich allen Kulturschaffenden und anderen Affictionados gut gefallen, aber als die Aktion beendet war, war es weg. Überaschenderweise hat aber die Grazer ÖVP die Idee interessant gefunden und professionelle Sprayer angestellt, die haben unter der Murbrücke alles vollgesprayt. Dann war da eine ziemlich kommerziell geführte Sommerbar. Das hat aber niemanden mehr interessiert. Die gibt es heuer auch nicht mehr.
Was man beobachten kann: wenn etwas temporär gedacht war und es aber länger andauert, wird es irgendwann einmal professionalisiert. Es ist eine andere Art von Gentrifizierung. Und auf eine Art find´ ich das auch ganz in Ordnung. Es ist, glaube ich, ein ganz normaler Zyklus, dass man, wenn man etwas, das temporär gedacht war, gut fand, versucht es professionell nachzustellen. Wie man sieht, nimmt es dann meist eh ganz andere Wege.

SZ: Macht Temporalität, der Zauber dabei gewesen zu sein, die Leute glücklicher?

FW: Diese temporären, informellen Orte funktionieren deswegen so gut, weil sie etwas Akutes haben. Erstens muss man schnell hin, weil man es womöglich sonst verpasst, und zweitens weil man da Dinge tut, die man vielleicht nie wieder tun können wird, möglicherweise verbotene Dinge. Interessant ist aber, was sich ergibt, wenn etwas länger andauert und professionell betrieben ist und es dennoch eine Offenheit gibt und vielleicht eine gewisse Illegalität ... dann wird’s wirklich interessant. Ich würde sagen, der Zeichensaal ist in der Hinsicht ein gutes Beispiel, weil er permanent an der Grenze zur Illegalität ist. Es sind ja von der Universität bezahlte Orte, wo die Studenten keine Miete zahlen, und wo sie trotzdem anschaffen. So etwas ist eine Struktur, die sich ihre Illegalität und ihren informellen Charakter bewahren kann, weil es nicht nur eine Professionalisierung, sondern auch einen Missbrauch dieser Struktur gibt. Und ich glaube, es ist ganz wichtig, dass man eine Struktur, auch wenn sie professionell ist, missbraucht.

SZ: Was heißt Missbrauch in diesem Fall?

FW: Na ja, wir haben jahrelang dort drin gesessen und nicht studiert im Zeichensaal. Und auch nichts gezeichnet, sondern Studentenvertretung gemacht, Vorträge organisiert, Feste veranstaltet und wir haben wahnsinnig viel Zeit einfach so verbracht. Es war wie ein riesiges Wohnzimmer. Man wusste nicht, was am nächsten Tag dort stattfindet. Es war nie ausgemacht, dass dort permanent 30 Leute an ihren Tischen arbeiten. Und dadurch war auch immer offen, was dort am nächsten Tag passiert und es war auch offen, was man da selber tut. Diese offenen Strukturen und flachen Hierarchien haben ganz interessante Dinge ermöglicht.

SZ: Wie kann man Angebote schaffen, die zum produktiven, kreativen Missbrauch einladen?

FW: Es gibt ja aus dem Städtebau die Theorie, dass man diese urbanen voids in einer Stadt braucht, also Orte, die nicht überwacht sind, die nicht kontrolliert werden, wo die youngsters hingehen und skaten oder sprayen oder was auch immer machen. Ich glaube also genauso, wenn man einen Ort inszenieren möchte, einen Ort, wo mehr möglich ist, wo man ein gewisses informelles Umfeld anbietet, dann muss man als Veranstalter so mutig sein, die Übersicht zu verlieren, also die Kontrolle abzugeben. Das kann manchmal ganz schrecklich ausarten, aber es zeigt sich zum Beispiel auch, dass es eine gewisse soziale Kontrolle gibt, wenn der Ort stark angenommen wird.

SZ: Ist das denn soziale Kontrolle oder vielmehr Selbstverantwortlichkeit derer, die sich den Ort aneignen?

FW: Genau, das geht dann wieder in die Richtung, dass ein Raum, der nicht komplett öffentlich ist, sondern ein gewisses Maß an Privatheit bietet, wahrscheinlich besser funktioniert, als ein rein öffentlicher Ort. Weil ich mich auf gewisse Weise dort verankern kann, wenn ich beispielsweise private Gegenstände dort liegen lassen kann, ohne dass sie wegkommen. Ich kann dort gewisse Verantwortung übernehmen, ohne dass sie nicht wahrgenommen und wertgeschätzt wird. Ich kann also Effekte produzieren, die nachhaltig sind. Und ich glaube, man braucht auch keine Angst vor einer gewissen Privatheit zu haben, wenn informelle temporäre öffentlich Räume ins private abgleiten. Ich glaube vielmehr, dass das ein ganz logischer Prozess ist und, dass das auch der Zweck ist. Die Stadt als privater Raum im Sinne von: Die Stadt als mein Wohnzimmer mit einer gewissen öffentlichen Durchlässigkeit. Eine Stadt wird umso dichter, je persönlicher sie ist. Also Sprayer machen das zum Beispiel auch: Sie eignen sich den öffentlichen Raum an, indem sie Graffitis anbringen. Sie machen eine Autobahnunterführung zu ihrem privaten Wohnzimmer und dann gibt’s andere Banden, die das spraying wieder crossen, und damit sagen, „Hier sind wir! Das ist unser Ort!“ Und somit wird ein öffentlicher Raum total privat und wahnsinnig interessant. Und dadurch steigt die Identifikation extrem.
Ich glaube das Identifikation wahnsinnig wichtig ist für eine Stadt. Das macht Graz auch so interessant als Stadt, weil Graz so klein ist. Wenn ich mich hier engagiere, dann zeigt sich relativ schnell ein Effekt ... und dann engagiere ich mich natürlich noch mehr. Das sind soziale Kreisläufe, die sich da etablieren und die zu einer erhöhten Identifikation führen. Das ist wichtig für die Sicherheit und die Lebensqualität in einer Stadt.

SZ: Inwiefern Sicherheit?

FW: Man redet jetzt so viel über Sicherheit. Ich glaube eine Stadt braucht keine Überwachungskameras. Ich glaube eine Stadt braucht mehr Engagement derer, die dort leben. Ich glaube auch, dass die Zukunft der Menschheit nicht die Stadt ist, sondern das Dorf, weil das Dorf eine viel fähigere Form ist, kleinere soziale Prozesse zu organisieren. Wenn man sich große Mega-Cities anschaut, sind das auch nichts anderes als Ansammlungen von kleinen Dörfern.
Architekten tun sich wahnsinnig schwer mit diesen Themen, weil man als Architekt immer mit dem Problem kämpft, dass man etwas plant. Und sobald man etwas plant, determiniert man etwas, und sobald man etwas determiniert, verunmöglicht man das, was dort später stattfinden soll. Ich glaube, die große Kunst in der Architektur ist, dass man im richtigen Moment aufhört zu gestalten.

SZ: Vielen Dank für dieses Gespräch.

Fabian Wallmüller, Jahrgang 1974, lebt und arbeitet als Architekt und freier Journalist in Graz. Studium an de TU Graz, TU Innsbruck und an der Universität für Angewandte Kunst in Wien. Seit 2003 Mitarbeit in Architekturbüros in Graz und Amsterdam, 2005-2007 Redakteur der Zeitschrift Falter Steiermark, seit 2005 freier Journalist bei www.gat.st. Herausgeber des Buches open:24h – workground/playground über die Grazer Architekturzeichensäle, gemeinsam mit Alois Gstöttner, Claudia Kappl und Claudia Zipperle (open:24h – workground/playground, edition selene, Wien, 2003)

Verfasser/in:
Siegmar Zacharias
/ The Theatre
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