29/08/2019

Filmpalast – 10
Filmkritik

Wilhelm Hengstler zu

Streik

von Stephane Brize´
Frankreich 2018, 113 min.

Die Belegschaft wehrt sich gegen die Schließung eines südfranzösischen Werks ...

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29/08/2019

STREIK. Regie: Stephane Brize, Frankreich, 2018, 113 min

©: uncut.at

Streik

Bei dem Film Streik empfiehlt sich selbst für den Filmpalast, der für schwere Filmkost berüchtigt ist, vorab eine Warnung: Der Spielfilm von Stephane Brize´ über einen fiktiven Arbeitskampf ist makellos konzipiert und inszeniert, rasanter und politisch relevanter als etwa die behäbige Sozialromantik von Ken Loach. Ein „Pflichtfilm“ also, der das System Kino auf den Kopf stellt. Streik bietet dem Kinogeher keine Träume, um der Wirklichkeit zu entfliehen, sondern konfrontiert ihn mit ihr bis an die Schmerzgrenze. Damit wird er zum absoluten Antidot eines feel good movies. 

Stephane Brize´ erzählt in Streik von den 1100 Arbeitern eines Autozulieferers, die sich unter der Führung des Gewerkschafters Laurent – Vincent Lindon in der Rolle seines Lebens – vehement gegen die Schließung ihres Werkes zur Wehr setzen, da sie fürchten, dass sie in der strukturschwachen Gegend keine neue Jobs finden werden. Dabei berufen sie sich auf eine Vereinbarung, nach der sie zusätzlich zu den staatlichen Subventionen auf Forderungen von vielen Millionen verzichtet haben, um das Werk, das mittlerweile floriert, zu sanieren. Die Firmenleitung fühlt sich aber mit Blick auf ein geändertes Umfeld, hohe Kosten und Shareholder Value nicht mehr an das Abkommen gebunden. Für die Arbeiter beginnt ein Ritual der Ohnmacht, bei dem neben den beiden Streitparteien auch die Politik, die Justiz und vor allem die Medien mitwirken. Brize´ konzentriert sich in seinem Film auf den kollektiven Aspekt des Arbeitskampfes und spart anekdotisch-private Details weitgehend aus. Zum größten Teil besteht Streik aus Diskussionen der Streikenden untereinander und mit den Firmenvertretern und deren medialen Niederschlag.
Der Regisseur hat seinen Film mit Laien aus einem beruflichen Umfeld (Gewerkschafter und white collar Typen) besetzt und trotz der durchgehenden Massenszenen mit viel Handkamera in nur zweiundzwanzig Tagen gedreht. Dieser Zeitdruck mag die Vehemenz der Inszenierung vergrößert haben, die Auseinandersetzungen übewältigen mit chaotischer Unmittelbarkeit. Aber auch wenn es filmästhetisch sakrosankt scheint, der Zuseher wünscht sich öfters eine Synchronisation angesichts der meist schwankenden Bilder, der endlosen Diskussionen und lautstarken Auseinandersetzungen, die das Lesen der Untertitel sehr erschweren.
Einziger Schauspieler ist Vincent Lindon, der schon 2016 für Der Wert des Menschen (ebenfalls von Brize´) einen Caesar und als Streikführer Laurent 2018 in Cannes den Darstellerpreis bekommen hat. Lindon bewegt sich mit  pochender Halsschlagader im Getümmel dieses Arbeitskampfes und begegnet den geschliffenen Phrasen seiner Gegner mit einer an Michael Kohlhaas erinnernden Empörung. Lindon wiederholt seine Sätze zwei oder drei Mal, die Gegenseite argumentiert in einem elaborierten Code, eine Sprachgrenze zwischen der Logik des Geldes und jener des Alltages. Die Streikenden kommen in Jacken und Pullovern zu den Verhandlungen, während die Gegenseite ihre Anzüge wie Rüstungen trägt, an denen alle Argumente abprallen.
Jeder der sich einmal in den Malstrom eines Streiks oder einer Bürgerinitiative begeben hat, kennt diese Abläufe, die sich mit der Unerbittlichkeit einer griechischen Tragödie wiederholen. Die Solidarität unter den Aktivisten erweckt erst Euphorie, die durch kleine Erfolge noch verstärkt wird. Aber dann folgt Ernüchterung über das Lavieren der Politik, die Zurückhaltung der Justiz und die Berichterstattung der Medien, die bei aller Sympathie letztlich wirkungslos bleibt. Das Unternehmen spielt auf Zeit, seine Vertreter werden gut bezahlt, während die Streikenden fürchten, sich ihren Kampf um Arbeit bald nicht mehr leisten zu können. Der letztlich alles entscheidende Konzernchef aus Deutschland bleibt unerreichbar. Noch eine Hoffnung weniger, als sich die Konzernleitung weigert, das Werk einem französischen Interessenten zu verkaufen. Der Widerstand der Arbeiter beginnt zu bröckeln, Neid auf Laurents Bekanntheit in den Medien kommt auf und eine Front der Streikbrecher formiert sich, um wenigstens eine erhöhte Abfindung zu sichern. Am Ende kommt der Konzernchef doch noch, lehnt aber die Forderung der Arbeiter mit Hinweis auf die Zwänge der Globalisierung ab. Die Hoffnung zu Beginn dieser Verhandlung schlägt in eine Frustration um, die zu Gewalttätigkeit führt. Während die massive strukturelle Gewalt des Kapitalmarkts niemanden außer die betroffenen Arbeiter empört hat, bedeutet deren spontane Gewalt und die Bilder von ihr das Aus. Laurent, von seinen Kollegen angefeindet, wird sich vor der Konzernzentrale in Deutschland mit Benzin überschütten und verbrennen. Die Handybilder davon, die eher Buddhisten zugeschrieben werden, machen klar, dass die Dritte Welt längst in Europa angekommen ist.
Am Vorabend der frz. Revolution empfahl Marie Antoinette den Hungernden doch Torten zu essen, wenn sie kein Brot hätten.
Während einer der Verhandlungen in Streik empfiehlt ein Manager einem desperaten Arbeiter doch wegzuziehen, wenn er in  seiner Gegend keine Arbeit fände.
Der Film von Brize´ heißt im Original En guerre – im Krieg.

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