17/06/2022

Florian Rötzers Sein und Wohnen

Der Philosoph Florian Rötzer blickt tief in die Ursprünge, kulturellen Ausformulierungen und die vielseitige Geschichte des Wohnens. Den trügerischen Eindruck, über dieses Thema alles oder zumindest das meiste zu wissen, widerlegt er unprätentiös und ermöglicht den Leser*innen ergänzende und neue Sichtweisen darauf.

Erschienen bei Westend, Frankfurt am Main, 2020

17/06/2022
©: Westend Verlag

Die zweite Haut

Das Buch beginnt auf der molekularbiologischen Ebene mit der Definition eines Inneren und demzufolge auch eines Äußeren und deren gegenseitigen Beeinflussung. Auf diesem Weg gelangt Rötzer zum Menschen und zu dessen Kultur, sich eine zur eigenen Haut zusätzliche Grenze zu schaffen, durch die ersten Bekleidungen und Behausungen. Er verbindet diese Grenzziehung, neben grundlegenden soziokulturellen Phänomenen, mit dem kulturgeschichtlich epischen Trauma der Vertreibung von Adam und Eva aus dem Paradies in das Fremde und Unbekannte. Auf diese Weise platziert der Autor diesen weit gefassten Begriff des Wohnens – und unseren Rückzug in das Private unserer Behausungen – im Zentrum der kollektiven kulturellen Psyche unserer Existenz. Dass die Grenze des Privaten zum Öffentlichen heute längst durch die globale Vernetzung perforiert wird, nahm, laut Rötzer, bereits der Philosoph Vilém Flusser in den 1980er-Jahren vorweg, noch vor der kommerziellen Nutzung des World Wide Web. Heute lassen wir über das Internet und im Speziellen über Suchalgorithmen und soziale Medien praktisch ständig andere, Bekannte und Fremde gleichermaßen, in unseren privaten Rückzugsraum eindringen.

Gast und Gastgeber*in

Wenn wir uns dazu entschließen eine oder mehrere Personen physisch in diese Räume einzuladen, dann liegt die beiderseits komplexe Beziehung zwischen Gast und Gastgeber*in vor, mit ihren zahlreichen eingeschriebenen Verhaltenscodes. Einer der spannendsten Aspekte, die der Autor hier aufgreift, ist die etymologische Nähe der Begriffe Gast, Gastgeber, Feind und Gefangene(r), sowohl im Lateinischen als auch im Französischen. In diesem Zusammenhang bezieht er sich unter anderem auf Immanuel Kants universalistischen Ansatz, die Menschen als Weltenbürger*innen zu begreifen, die sich, sofern sie friedvolle Absichten hätten, frei auf der Welt bewegen können sollten. Allerdings ist diese Freiheit insofern eingeschränkt, als dass es eine vertragliche Vereinbarung braucht, damit sich ein Gast an einem anderen Ort dauerhaft niederlassen kann. Und, so Kant weiter, die Einladung oder Abweisung eines Gastes an der Schwelle zum eigenen Privaten obliegt in letzter Konsequenz immer den Gastgeber*innen.

Eine Frage der Hygiene

Ob wir einen Gast zur Tür hereinbitten, hat neben den Sympathiewerten oft auch Beweggründe zum Schutz der Gesundheit. Rötzer widmet dieser Thematik einige faszinierende Kapitel, die ein sehr detailliertes Bild der hygienischen Zustände und der wissenschaftlichen Wirrungen darüber im mitteleuropäischen Raum vergangener Epochen nachzeichnen. Die körperliche Hygiene in Form regelmäßigen Waschens und Pflegens – obwohl diese von den Römern übernommen worden war und auch in den (früh-)mittelalterlichen Badehäusern ihre Kultur gehabt hatte – wurde zugleich Jahrhunderte lang moralisch verpönt. Sie galt im Widerspruch zu heutigem Wissen neben Ausdünstungen aus dem Boden, als Ursache für den gesundheitlichen Verfall und dadurch hervorgerufene Epidemien. Die drastischen Zustände in Dörfern und Städten gipfelten letztendlich in der hygienischen Revolution – parallel zur industriellen Revolution – im ausgehenden 18. und dem gesamten 19. Jahrhundert. Als räumliche Folge derselben wurde zum Beispiel das Verrichten der Notdurft schrittweise vom Öffentlichen ins Private verlegt und dort in eigenen Räumen untergebracht. Bis schließlich Ende des 19. Jahrhunderts neben der fortgeschrittenen Verbesserung der urbanen Infrastruktur wohl eine der wichtigsten sanitären Erfindungen des häuslichen Lebens gemacht wurde: der Siphon. Die Vertreter*innen der Moderne, so führt Rötzer die Geschichte der Wohnhygiene weiter aus, haben in den nachfolgenden Jahrzehnten danach getrachtet, die Architektur völlig von den unhygienischen Zuständen des vorangegangenen Jahrhunderts zu befreien. Die Wohnungen und Häuser wurden vom Schmuck und Schmutz gleichermaßen befreit, die Kubaturen auf ebendiese geometrische Form reduziert, mit sauberen und glatten Oberflächen.

Städtebau für Krieg und Frieden

Der moderne Städtebau folgte dem Dogma Licht, Luft und Sonne, aber auch einem nach dem Ersten Weltkrieg omnipräsenten Sicherheitsbedürfnis. Die technischen Entwicklungen ermöglichten den Luftkrieg und dieser beeinflusste auch die Art, wie Stadtgebiete angelegt und Wohngebäude hinsichtlich ihrer Funktion als Schutzräume ausgebaut wurden. Diese ganze Entwicklung wurde bekannterweise vom Zweiten Weltkrieg eingeholt. Am Beispiel Deutschlands zeigt der Autor, dass man beim Wiederaufbau der Städte nach Kriegsende vor allem vor dem Problem stand, mehr wohnungslose Haushalte als Wohnungen für dieselben zu haben. Um dem entgegenzuwirken, gab es diverse Zwischenlösungen, wie den staatlichen Zugriff auf Privateigentum, die gesetzliche Legitimation von Eigenbausiedlungen und einiges mehr. Ende der 1950er-Jahre kam es dann zur Freigabe der Wohnbauaufgabe für den liberalen Markt. Aber ebendiese intensive und spekulative Bautätigkeit reproduzierte während des letzten halben Jahrhunderts mittels preistreibenden Wachstums gerade jene Wohnungslosigkeit unter sozial schwächer gestellten Bevölkerungsgruppen, die sie verhindern sollte. Die Gentrifizierung von bestehenden Wohngebieten vertreibt diese Gruppen, um auf dem freien Markt Platz für kaufkräftigere Klientel zu machen, die in Neubauwohnungen einzieht, nachdem der Altbestand abgebrochen worden ist. Florian Rötzer bezeichnet diese Mechanismen auch als das Entwohnen der Gesellschaft.

Physischer, sozialer und digitaler Katastrophenschutz

Derartige soziale Dilemmas kollidieren vor dem Hintergrund der vom Menschen beeinflussten Klimaveränderungen zunehmend mit ökologischen Katastrophen. Immer wieder wurden – und werden – Folgen von Naturkatastrophen durch die Umsetzung primär kurz- und mittelfristig gewinnorientierter Projekte in Risikogebieten verstärkt oder durch den Raubbau natürlicher Ressourcen und damit zusammenhängender Erosionen mitverursacht. Bei gleichzeitiger Anwendung von Bausystemen, deren Resilienz und Reparaturfähigkeit schrittweise abnimmt, wird Baumasse produziert, die, verglichen mit Bauten des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, zum Teil schon nach der halben Lebensdauer entsorgt und ersetzt werden muss. Sozialräumlich gesehen bewegen wir uns, so führt der Autor es im letzten Drittel des Buches aus, zwischen der fortschreitenden Individualisierung durch die modische Erscheinung des Tiny House und der Wiederentdeckung gemeinschaftlicher Wohnformen, in denen man sich Gemeinschaftsräume und -aufgaben teilt. In beiden Fällen ist der private Rückzug wichtig, und dieser sei, laut Rötzer, der an dieser Stelle eine dystopische Zukunftsvision beschreibt, durch die Smart Homes und die Implementierung des Menschen in Form eines organhaften Bestandteils von intelligenten Serversystemen eigentlich in keinster Weise mehr gegeben.

Zwischen den Zeilen

In Sein und Wohnen zeigt der Philosoph Florian Rötzer, dass die kulturelle und soziale Art der Existenz, des Seins, von Individuen und der Gesellschaft bestimmt, wie wir wohnen. Unsere moralischen Wertvorstellungen in Kombination mit vorherrschendem Wissen und technologischer Entwicklung beeinflussen unser raumplanerisches und städtebauliches Denken sowie die Architektur unserer Siedlungen und Gebäude. In diesen zwei Sätzen alleine steckt nichts Neues. Dehnt man sie aber und zieht sie auseinander, um in den Zwischenräumen der Satzteile und Worte nach den Hintergründen zu suchen, dann findet man eine spannende Auswahl davon in dieser Publikation. All jene Dinge, die uns im ersten Moment so geläufig erscheinen, ergründet der Autor in den interessant verschränkten Kapiteln und greift dabei philosophische, wissenschaftliche und theologische Schwerpunkte auf, deren Wechselwirksamkeit er mit wenigen Ausnahmen ohne wertende Zwischentöne ausführt. Dabei beschreibt er eine mannigfaltige Historie des zentralen soziokulturellen und architektonischen Konstrukts Wohnen, dessen Definition so vage wie inhaltsreich ist. An ausgewählten Stellen ist durchaus deutliche Kritik erkennbar. Diese gibt aber vornehmlich den Anstoß zur aufmerksamen Auseinandersetzung mit einem Thema, über das prinzipiell jeder und jede glaubt, alles zu wissen, da ja die meisten von uns im Selbstverständnis Wohnende sind. In diesem Sinne, eine lohnende Leseerfahrung zur näheren Erkundung von Vertrautem und Unbekanntem.

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