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Graz–Wien
Die Architekturneuerung in Österreich ist von Graz und Wien ausgegangen. Die vielartige Produktion von Hans Hollein seit Mitte der 1950er Jahre, die studentischen Arbeiten an der TH Graz bis etwa 1968, die Arbeiten von Studenten in Wien etwa zur gleichen Zeit und ab etwa 1968 deren Installationen im öffentlichen Raum sowie Projekte von Domenig/Huth, haben jene international viel beachtete Architektursituation in Österreich begründet, die dann von Peter Cook 1970 als The Austrian Phenomenon bezeichnet worden ist.
Mit Hans Hollein hatte Wien schon zehn Jahre vor Graz eine herausragende und damals einflussreiche Architektenpersönlichkeit hervorgebracht. Hollein war einer der ersten, nicht nur in Österreich, die mit Projekten und Texten über alle Architekturkonventionen hinausgedacht haben.
Die Studentenprojekte aus Graz verband gewissermaßen eine gemeinsame, unausgesprochene Ideologie. So können – mit Vorbehalt generalisiert – signifikante Unterschiede zwischen den Grazern und den Wienern und deren Haltungen beobachtet werden.
Ich sehe an den Grazer Studentenarbeiten – entsprechend der vorhin dargelegten ideologischen Position – eine andere Schwerpunktsetzung als bei den Wienern:
• konzeptionell begründet,
• auf Gebrauch ausgerichtet,
• Struktur nach Hierarchie der Teile,
• Zeit/Veränderung als Faktor der Architektur,
• in der Erscheinungsform weitgehend Ergebnis des Entstehungsprozesses,
• auf Machbarkeit bedacht und technisch weit durchgearbeitet,
• mehr an alltäglichen Lebensumständen der (Welt-)Bevölkerung
interessiert, als an spektakulären Einzelobjekten.
Wenn ich hier vereinfachend die Wiener sage, meine ich jene Kollegen, die etwa zur gleichen Zeit, 1965 bis 1968, studiert haben (nicht Hollein oder Ottokar Uhl!). Das Studium an der TH Wien lief unter anderen Bedingungen als in Graz, zumal sich die Wiener Studenten keinen Freiraum schaffen konnten (nur Prof. Karl Schwanzer ließ gewähren). Erst mit Gründung des außerschulischen „Klubseminars“ durch den Ideenkatalysator Günther Feuerstein 1965 stand den progressiv Engagierten ein Forum für Information, Diskussion und Experimente offen.
Übrigens: Heidulf Gerngross hatte an der TH Wien begonnen und ist wegen der einengenden Verhältnisse dann an die Grazer TH übersiedelt.
Aus Grazer Sicht war man in Wien unweigerlich mit der Tradition der starken Vorfahren verwachsen. Die Grazer hatten den Vorteil, sich nicht erst von den nachwirkenden Vätern freimachen zu müssen. So haben wir etwa die Konstruktivisten interessanter gefunden als Adolf Loos und Otto Wagner. Auch daraus erklärt sich für mich die Andersartigkeit der Wiener Herangehensweise. Dazu siehe Friedrich Achleitner: „Gegen die Prädominanz der Form wendet sich entschieden, wenigstens theoretisch, jene Gruppe von Architekten und Studenten, die mit der Grazer Technischen Hochschule verbunden sind. Wenn man auch in den Projekten den gleichen Trend zu plastischen und räumlichen Attraktionen feststellen kann, so ist der Hintergrund dieser Arbeiten doch ein funktionalistischer, d. h. es wird die bauliche Form als das Ergebnis einer Auseinandersetzung mit den für den Bau bestimmenden Faktoren angesehen.“ [3] Achleitner weiter: „Bei der Wiener Gruppe (die mehr oder weniger mit dem Klubseminar von Günther Feuerstein identisch ist) haben wir es mit einer emotionellen, irratonalistischen Architekturauffassung zu tun, die auch die Prädominanz der Form [...] akzeptiert. Am radikalsten wird dieser Gedanke von Laurids Ortner verfochten, der einmal schrieb: ‚In mir setzte sich der Gedanke fest, dass es wunderbar sein müßte, in einem Insekt zu leben. Seine Innereien als Stiegen und Rampen zu benützen [...] zauberhaft erschienen mir diese gebogenen Linien [...].’“ [4]
Für einen Vergleich der ideologischen Positionen Graz–Wien war eine Episode bezeichnend: Nach dem Wettbewerbserfolg mit dem Flughafen Berlin waren wir in das Klubseminar eingeladen worden. Nach der Präsentation des Projekts meinte Laurids Ortner (später Haus-Rucker-Co): „Is’ eh poppig“. Von ihm anerkennend gemeint, hieß das für uns: nicht verstanden! Er hatte auch einen Flughafen (für Graz!) ent worfen, der ohne viel Nutzungsüberlegungen dem Inneren einer Biene nachgeformt war.
Als Coop Himmelb(l)au, Haus-Rucker-Co, ZündUp und andere haben die Wiener Absolventen etwa ab 1968 Installationen im öffentlichen Raum vorgestellt. Die 1:1-Realisierungen dieser Ideen in der raffinierten Ausführung waren Auf- und Anreger, Achtungserfolge in einer größeren Öffentlichkeit für eine neue Architekturauffassung. Aber aus unserer Positionheraus fanden wir diese zu sehr „auf schön“ gemacht, naive Spaßapparate für Show und Event, eben „poppig“. Die Grazer waren damals schon weiter, an Umsetzung interessiert, nach England, Frankreich und USA gegangen, um in der Welt die praktischen Grenzen des tatsächlich Machbaren zu erkunden. Fast alle Projekte dieser Zeit hat das Architekturzentrum Wien 2004 in der Ausstellung The Austrian Phenomenon, Konzeptionen Experimente Wien Graz 1958–1973 erstmalig zusammen getragen: eine wertvolle Initiative in Richtung differenzierte Betrachtung und Bewertung. Die chronologisch strukturierte Darstellung gab einen Überblick, was wer wann gemacht hat. Ein Überblick über die Studentenarbeiten aus Graz ist in der Zeitschrift Bau 4/5 1969 zu finden. Die frühen Arbeiten von Hollein und Pichler sowie einige andere Wiener „Progressiven“ sind in einem ersten Teil in Bau 2/3 1969 publiziert.
Der von Hollein geplante zweite Teil ist leider nicht mehr erschienen, da Hollein als Chefredakteur 1970 überraschend ausgeschieden ist oder wurde. Damit war die Hoch-Zeit des Bau schlagartig – von einer Ausgabe zur nächsten – zu Ende. Abgesehen von Bau und der Ausstellung The Austrian Phenomenon im Architekturzentrum Wien war die sonstige mediale Präsentation des 60er-Phänomens bis heute eher schlampig-oberflächlich. Man sparte an Recherchen zu ideologischen Grundlagen und Inhalt und beschränkte sich auf die publikumswirksamen futuristisch aussehenden Exponate der Absolventen in Wien. Die vorausgegangenen Studentenarbeiten sind in der Betrachtung immer vernachlässigt worden und bis heute unterrepräsentiert geblieben. In den Ausstellungen wurden die Studentenprojekte nicht gezeigt, in den Buchpublikationen nur am Rande erwähnt. Publikationen wurden fast ausschließlich von Wienern, aus Wiener Sicht, gemacht beziehungsweise Ausstellungen von Wienern beraten oder kuratiert ... Eine substantielle architekturtheoretische Betrachtung des „Austrian Phenomenon“ mit vergleichender Bewertung auch der Studentenarbeiten
Wien–Graz steht noch aus.
Die Studenten als bauende Architekten
Die Grazer Exponenten der „Gründerzeit“ haben sich von „Posts, rats, and other pests“ (Aldo van Eyck über Postmoderne und Rationalisten) nicht infizieren lassen.
Aufbauend auf die im Studium erworbene Haltung haben die Grazer Studenten auch als bauende Architekten immer wieder auf der Suche nach Entwicklung und Verbesserung weiter experimentiert, mit neuen Techniken und Alternativenergie, mit Einsatz fertiger Elemente, mit Materialien und deren konstruktiver Verwendung. Manches aus diesen Versuchsanordnungen hat sich bewährt, ist in der Folge von anderen aufgegriffen, zu Mode geworden und heute im Mainstream. Die Qualität der nach dieser 60er-Ideologie realisierten Bauten gibt Auskunft über Tragfähigkeit, Nützlichkeit und aktuelle Relevanz dieser Haltung.
Rezeption aktuell
In letzter Zeit beobachte ich wieder ein Interesse für die Ideologien der 60er mit Symposien, Ausstellungen und bei Studentenarbeiten. Die Rezeption – auch die architekturgeschichtliche – begnügt sich nach meiner Wahrnehmung allerdings nach wie vor mit Hinweisen auf Pop-Art, Raumfahrt, Sex, Drugs and Rock & Roll und mit eher oberflächlichen Kommentaren zur formalen Erscheinung.
Aktuelle Studentenprojekte schauen ähnlich aus wie jene der 60er, bleiben aber, soweit ich sehen kann, zumeist oberflächliches Utopisieren, ohne viel Ideologie oder Kenntnis ihrer Vorgängerprojekte, ohne Wissen warum diese gemacht worden sind und warum sie nicht reüssiert haben.
Fragen nach Substanz hinter der „utopischen“ Erscheinung, worum es in der Architektur damals ging und aktuell gehen könnte, kommen nicht auf.
Um wirksam einen Schritt weiterzugehen, müsste man am Stand der Vorläuferprojekte und Erfahrungen anknüpfen.
Indes mutet der Umgang an der Grazer TU mit diesem doch außerordentlichen Stück ihrer Geschichte immer noch seltsam an. Wie ist zu begründen, dass die anderen Institute der Architekturfakultät an diesem Symposium nicht einmal teilgenommen haben? Dass das Thema in der Lehre keinen Stellenwert hat? Dass Initiativen einzelner Lehrbeauftragter, über diese Zeit zu informieren, da und dort angeblich blockiert worden sind? Dass bis heute keine umfassende Aufarbeitung und Bewertung stattgefunden hat? Und dass keiner der 60er-Protagonisten an die Grazer TU als Lehrer berufen worden ist?
[3] Friedrich Achleitner, Aufforderung zum Vertrauen. Architektur seit 1945, in: Otto Breicha/Gerhard Fritsch (Hg.), Aufforderung zum Mißtrauen. Literatur Bildende Kunst Musik in Österreich seit 1945, Salzburg 1967, 561–584, hier 581.
[4] Ebd., 582.
Datum:
Terminempfehlungen
Wed 20/02/2013 19:00pm - Wed 27/02/2013 18:00pm
_Ausstellung, Graz
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Infobox
Der Essay wurde der Publikation "Was bleibt von der "Grazer Schule"? Architektur-Utopien seit den 1960ern revisited" (S.130-150), die 2012 von Anselm Wagner und Antje Senarclens de Gracy im Jovis Verlag herausgegeben wurde, mit freundlicher Genehmigung des Verlags sowie von Anselm Wagner und Konrad Frey zur Wiederveröffentlichung auf www.gat.st entnommen. Am kommenden Sonntag erscheint in der Reihe "sonnTAG" der Essay "Wie beeinflusste der Strukturalismus die "Grazer Schule" der Architektur" von Eugen Gross, aus eben dieser Publikation.