16/10/2020

LandLeben - weniger WAS mehr WIE?

Sigrid Verhovsek zu LandLeben. Aktuelle Strategien für das Landleben von morgen – Ausstellung im HDA Graz bis 17. Jänner 2021

Ergänzende LandGespräche finden noch am 20. Okt. 2020 (Panel V und VI) sowie am
27. Okt. 2020 (Panel VII) statt – coronabedingt online.

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16/10/2020

LandLeben. Ausstellung im HDA Graz bis 17. Jänner 2021. Foto: Thomas Raggam – HDA

©: HDA – Haus der Architektur

Ausstellungseröffnung "LandLeben" im HDA Graz in Coronazeiten. Foto: Thomas Raggam – HDA

©: HDA – Haus der Architektur

Große Straße in Wittenburg, Deutschland, Aktion von MattonOffice. Foto: Michael Kockott

©: HDA – Haus der Architektur

Auf den ersten Blick ist nicht erkennbar, wo genau dieses Dorf „stattfindet“: Die globalen Marker wie Autos, Straßen, Bauform oder Dachdeckungsmaterialien der Häuser verraten nicht viel mehr, als dass es sich um eine kleine Ansiedelung irgendwo in einem ländlichen Bereich handeln muss. Das Terrain ist hügelig und grün, bei genauerem Hinsehen fällt auf, dass die Kultivierung der umgebenden Landschaft wohl sanfter und mit weniger modernen (sprich brachialen?) Mitteln wie im europäischen Westen erfolgte.
Ansonsten? Sieht es aus wie viele kleine dörfliche Strukturen jenseits der Metropolregionen, ein bisschen schäbig, oder zumindest nicht touristenfreundlich herausgeputzt, und (noch?) kein gesichtsloses Einkaufszentrum vor der Tür – was schon beinahe verrät, dass dies nicht Österreich sein kann...

Tatsächlich handelt es sich um ein Bild aus China, und es zeigt, dass ländliche Regionen nicht nur in Mitteleuropa mit Abwanderung zu kämpfen haben. Wie man mit diesem weltweiten Phänomen umgehen kann, ist die Frage, die das HDA Graz mit der Ausstellung LandLeben, eigenhändig kuratiert von Geschäftsführerin Beate Engelhorn, in den Raum stellt.
Den Rahmen der Ausstellung erläutert sie wie folgt: Laut Definition der OECD gehören etwa 93% der weltweiten Flächen zum ländlichen Raum, und die Ausdünnung dieser Gebiete bedeutet nicht nur Leerstand und Verfall, sondern auch ein Verebben der Infrastrukturen und ein Auseinanderbrechen des sozialen Zusammenhalts.

Anscheinend hat – so wird kolportiert – Corona ja eine gewisse Hinwendung zum Leben am Land bewirkt, zumindest wäre dort ausreichender Wohnraum mit Grün erschwinglich. Tatsächlich hat es gezeigt, dass Familien mit kleinen Kindern in zu engen Räumen in der Stadt ohne Kompensationsräume in der näheren Umgebung einen Lockdown ungleich schwerer aushalten, wie ihre Artgenossen im ländlichen Raum, die einen Garten zur Verfügung haben. Es steht allerdings zu befürchten, dass diese Erkenntnis bzw. deren längerfristige Auswirkungen wenig mit dem Thema der sterbenden Orts- oder Dorfzentren, sondern eher mit der Frage weiterer Zersiedelung durch Einfamilienhausteppiche in den wenigen verbleibenden „Aussichtslagen“ zu tun haben wird, und zudem die Versiegelung und die Pendlerproblematik erhöht.

Welche Rolle kann die Architektur in diesem gesamtgesellschaftlichen komplexen Problem nun spielen? Lange waren ArchitektInnen Heislbringer, und haben sich dann ebenso als Heilsbringer versucht. Engelhorn stellt die berechtigte Frage: Was kann die Architektur WIRKLICH beitragen, um konkret die Abwärtsspirale eines Dorfes zu stoppen oder sogar umzudrehen? ArchitektInnen haben die Ausbildung, den Raum zu verändern – wenn möglich nicht nur im Hochbau, sondern auch im Umgang mit sozialräumlichen Phänomenen, sie haben geschulte generalplanerische Fähigkeiten und – wie alle anderen auch – eine gesellschaftliche Verantwortung.
Tatsächlich müssen aber viele „Faktoren“ passen, um ein gelungenes Projekt umzusetzen: es braucht die Visionen der BewohnerInnen, die Zustimmung und Förderung der Politik, die Ressourcen vor Ort und auch ganz viel Geduld von allen Seiten: Projekte in diesem Spannungsfeld sind bestenfalls Interventionen, Entwicklungsschritte, die viel Überlegung, begleitende Sensibilisierung und vor allem Zeit vor Ort benötigen, damit nicht im Schnellverfahren von außen eine Lösung aufgepropft wird, die wenig mit den tatsächlichen Bedürfnissen des Ortes zu tun hat, im ersten Moment zwar beeindruckt, aber dennoch Fremdkörper bleibt und sich nicht ins tatsächliche Gemeindeleben integriert.

Die zehn Stationen der HDA-Ausstellung geben einen guten Einblick in elf verschiedene Projekte weltweit und gleichzeitig über die Bandbreite der Herangehensweise, der Möglichkeiten und der Spielräume, die sich bei derart kreativen Zugängen zeigen.
Man beginnt den Rundgang in Valendas, wo die liebevolle Restaurierung eines verfallenen Baudenkmales mitten im Ort über ein Bewusstmachen des historischen Wertes eine Reaktivierung des Dorfkerns verursachte, sieht, wie in Titmaringhausen eine neue Technologie zum verbindenden Element zwischen ökologischem Gewissen und modernen Architektur wurde, oder wie in Wittenburg eine Aktion von MattonOffice eine ganze Straße mit Leerstand in über fünf Monaten Arbeit mit der lokalen Bevölkerung in einen Ausstellungsraum mutierte: Die vielfältigen Wünsche der BewohnerInnen wurden zum Vorschein gebracht und lenkten gleichzeitig die Aufmerksamkeit auf die „bröckelnden“, aber dennoch in ihrer Individualität einzigartigen Häuser an der Hauptstraße. Besonders beeindruckend – und hier steht man wieder vor der Landschaft am Eingang des HDA, deren Ortung anfangs so schwierig war – sind zwei Projekte der Architektin Xu Tiantian aus der Provinz Songyang, China, Architekturen, die nicht nur die kulturellen Besonderheiten und vorhandenen Nutzungsstrukturen der jeweiligen Orte stärken, sondern die auch in ihrer Farb- und Formensprache extrem beeindrucken. Man sitzt gemütlich auf dem Strohtheater und möchte den kurzen Film immer und immer wieder ansehen.
Mitten unter die ausgeführten Projekte sind Denkansätze und Forschungsarbeiten der Future Architecture Plattform gemischt, die gerade aufgrund des fehlenden Realisierungszwanges noch spielerischer und großflächig – visionärer mit der Thematik umgehen.
All die Arbeiten soll man nicht einfach nachmachen oder unhinterfragt in eine andere Gemeinde implantieren – das Besondere an ihnen ist, dass sie perfekt auf den jeweiligen Ort zugeschnitten sind. Hier geht es weniger um das WAS, aber sehr wohl um das WIE.
Die Ausstellung bildet also bei aller ernsthaften Fokussierung auf ein aktuelles Problem eine sehr amüsante Übersicht auf verschiedene Möglichkeiten der Handlungsspielräume an sich, verweist aber zugleich auf die Notwendigkeit eines individuellen Zuganges, der genausoviel über die betroffene ländliche Siedlung wie über den (Architektur-)Zugang des jeweiligen Handelnden aussagt.  

„Angefüttert“ oder hinterlegt wird zudem mit externem Wissen: Leider musste das geplante Symposium coronabedingt umgeändert werden, und wird nun in verschiedenen kleinteiligeren themenbezogenen, hochkarätig besetzen Panels durchgeführt, die man ebenfalls im Zuge der Ausstellung „nachsehen“ kann, bzw. die dann auch auf der Homepage des HDA zur Verfügung stehen werden.
Auch die Führungen, die derzeit samstags und sonntags stattfinden, liefern viel Zusatzinformationen und Insiderwissen zu den präsentierten großformatigen Bildern, den Filmen und sehr poetisch gestalteten Arbeitsmappen. Viele Fragen, aber auch eigene Ideen stellen sich allerdings auch erst im Nachdenken, bzw. beim Durchlesen des Ausstellungskatalogs ein.

Eine Frage muss derzeit leider offen bleiben, sosehr die Neugier quält: Was passiert mit all diesen Interventionen, welchen Impact auf die jeweiligen Gemeinden haben sie tatsächlich, verändern sie etwas (und wenn ja, was?). Man würde sich eine Zeitmaschine, ein Wurmloch, ein Fenster in der Zeit wünschen, um zu sehen, was in diesen Orten, was mit diesem LandLeben in fünf oder zehn Jahren passiert...welche Nachwirkungen werden diese Architekturen haben?

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