31/03/2020

Vorabzug aus
Wenn ein Haus spricht –
eine andere Biografie

ein Buch von Eugen Gross, das im Herbst 2020 erscheint.

Der Text ist in den letzten beiden Jahren entstanden und versteht sich als Auseinandersetzung mit Architektur. Darüber hinaus trifft er auch auf die heutige Situation zu, in der ein UMDENKEN gefragt ist.

Das Haus, um das es sich handelt, ist ein 100 Jahre altes Fischerhaus am Ossiacher See, das Seestöckl, das als Ausgangspunkt einer Seeumrundung mit dem Fahrrad dient. Dabei haben die Seestöckler – Standort ist die Ortschaft Stöcklweingarten – kontroversielle Vorstellungen über die vorteilhafteste Richtung der Umrundung, bei der sich je nach Tageszeit die Schattseitn und die Sonnseitn austauschen.

Succus: Es gibt nicht nur einen Weg.

.

31/03/2020

Seestöckl (Foto 1930)

©: Eugen Gross

Haus Kolig von Manfred Kovatsch

©: Eugen Gross

Eugen Gross genießt den Seeblick vom Balkon des Haus' Kolig

©: Eugen Gross

Steinhaus von Günther Domenig

©: Eugen Gross

Kapitel 5

Ist ein See rund? Oder annähernd, wie eben der Ossiachersee, der eher in einer S-Form langezogen ist. Aber schließlich abgerundet und nicht offen wie ein Fjord. Kaum war Andreas, wie es für Seefahrer gehört, in das Bootshaus eingelaufen und zum angehenden Seekstöckler geworden, bekam er Lust wie neuerdings viele Andere auf eine Seeumrundung mit dem Rad, um die Gegend, von der die Einheimischen immer reden, kennenzulernen. Dafür stand ihm ein mehrgängiges Fahrrad zur Verfügung, in dessen Genuss er durch den Verzicht einer Verwandten von Maria auf weitere Seebesuche kam.
Maria war in den Jahrzehnten ihrer Seeaufenthalte immer wieder von der leidenschaftlichen Diskussion unter den Besuchern betroffen, ob man den See linksherum oder rechtsherum umrunden solle. An dieser Frage schieden sich mit wechselndem Eifer die Geister. Andreas war ahnunglos und fragte, was Maria empfehlen würde.
Noch bevor er sich jedoch auf den Sattel setzen konnte, war ein terminologisches Problem zu lösen. Maria hatte gemeint:
„Nimm die Sonnseitn, da hast du die warme Sonne im Rücken und kannst dann die Umrundung auf der Schattseitn ausklingen lassen“.
Welches ist nun die Sonnseitn und welches die Schattseitn? So unbestimmt wie die Frage, die man auch stellen könnte: Fällt die geschnittene Buttersemmel eher mit der Butter auf den Boden als mit der Unterseite? Lässt sich bei einer Rundform überhaupt sagen, welches eine bestimmte Seite ist? Dazu müsste sie auf einer Seite verformt sein, wie es die Japaner als Abweichung von der vollkommenen Form sehen? Dann ist es aber keine Rundform mehr. So hat ein rundgeformter See keine Schattseitn und keine Sonnseitsn, da er keine zwei Seiten hat. Eben nur eine, und die ist keine Seitn. Eindeutig das Nichtvorhandensein einer Seitn, womit eine unbestreitbare Definition für einen See wie den Ossiachersee gefunden wurde. Nicht zu reden vom Wörthersee, Klopeinersee, Faakersee und anderen. Bei allen diesen liegt der Fall nicht anders. 
Andreas musste aber eine Entscheidung treffen. Vom Standort des Seestöckls am Nordufer – oder Nord-Westufer – führten zwei Radwege um den See herum. Die Vormittagssonne hatte das Haus an seiner Sonnseitn in strahlendes Licht getaucht. Auf der Frühstücksterrasse mundete das ausgiebige Frühstück, die warme Sonne hatte für Maria und Andreas die Erwartung der Sonnseitn erfüllt. Ob das Haus selbst auch seine Schattseitn hat, die gerne verschwiegen wird? Welches nicht?
Wenn auch beide Seiten des Sees bei einer solchen Umrundung zu befahren waren, musste dennoch eine Priorität gesetzt werden, mit welcher Seite im Tageslauf der Sonne man beginnen wolle. Jede dieser Seiten hat ihre Reize, je nachdem, ob die Sonne im Gesicht oder im Rücken bevorzugt wird, der vorteilhafte Ausblick für den Radfahrer durch die Nähe des Radweges zur Uferlinie besteht,  das Geländeprofil mit leichten Neigungen weniger kraftraubend ist oder Stärkungsmöglichkeiten an Ruheorten spätestens nach Bewältigung der halben Seeumrundung winken. Nicht anders, als wenn man als Rechtshänder oder Linkshänder vor dem Problem steht, ob man beim Flaschenöffnen den Korkenzieher oder die Flasche drehen soll. In diesem Fall ist es vorteilhaft, beidhändig zu sein. Leider nützt das nichts beim Radfahren, da man ohnehin mit beiden Beinen strampeln muss. Wohlgemerkt nach vorne, denn ein rückwärtsdrehendes Rad ist nicht bekannt. Vielleicht in Entwicklung, um einen neuen Radsport zu kreieren.
„Wenn ich mich der Tour anschließe, möchtest du mit mir den See linksherum oder rechtsherum umrunden?“, fragte Maria. Sie war auf einen Test aus, der mit Zustimmung oder Ablehnung quittiert werden konnte. Schließlich war Andreas bisher noch kaum vertraut mit der landschaftlichen Situation wie mit den Kommunikationsproblemen unter den Seestöcklern, die auf ihn zukamen. Zunächst schien es ihm gleichgültig, ob man eine Seeumrundung am Nordufer beginnt und am Südufer fortsetzt, oder umgekehrt. Denn schließlich muss sich ein Kreis schließen. Theoretisch, wenn man außer acht lässt, dass eine begonnene Seeumrundung auch zu einem Kreissegment schrumpfen kann, wenn man die Umrundung abbricht und den See überquert. Dafür bieten sich Bootsführer an, die sich jede Verkürzungsstrategie gut bezahlen lassen. Den Daheimgebliebenen muss man es ja nicht erzählen.
Schon gar nicht neigen sie den Höheren Weihen zu, wie sie moslemische Pilger eines über zahlreiche Stufen zu erreichenden Heiligtums erhoffen. Ihnen ist es aufgetragen, beim mühevollen Aufstieg die Treppenstufen zu zählen. Dasselbe beim Abstieg. Stimmen sie überein, steht ihnen das Paradies offen. Stimmen sie jedoch nicht überein, müssen sie den Weg nochmals gehen und werden im „Fegefeuer“ geläutert. Den Seestöcklern könnte ein Minicomputer gute Dienste leisten, um über den Kalorienverbrauch mit Hilfe eines solchen für Fahrradfahrer die äquivalenten Schritte zu zählen, doch kennt die christliche Religion diese Sanktionen glücklicher- oder unglücklicherweise nicht.
Andreas war sich, Marias Frage nach der bevorzugten Seeumrundung bedenkend, unschlüssig: als gelernter Rechtshänder bevorzugte er immer die Rechtsdrehung, eben, vom Seestöckl auf der Sonnseitn beginnend, was ihm als Rechtsschwung auch beim Skifahren besser als der Linksschwung gelang, um dann bald auf die Schattseitn zu wechseln. Als selektiver Linkshänder neigte er jedoch auch der Richtung  gegen den Uhrzeigersinn zu, die ihm vom Kennenlernen der stärker besiedelten Sonnseitn mit Ossiach – was slowenisch die auf der Sonnseitn Wohnenden heißt – her interessanter schien. Als Lehrer hatte er erfahren, dass Schüler gerade im Zeichnen mit der linken Hand wegen der Spontaneität der schwungvollen Bewegung ausdrucksvollere Bilder schufen. Was war schließlich für die Seeumrundung zu bevorzugen?
Er entschloss sich ohne viel Umschweife zu einer Antwort, nachdem ihm augenscheinlich in den Sinn kam, dass nicht allein der Weg und seine Beschaffenheit dafür maßgeblich sein könnten, sondern auch die Tageszeit des Aufbruchs.
„Für die Rechtsumrundung über das Moor spricht, dass man auf diesem Weg beflügelt der vormittägigen Sonne entgegen fährt und von dem nahe dem Seeufer führenden alten Seeweg einen schönen Blick auf die glitzernde Seefläche und das gegenüber liegende Ufer hat. Vielgestaltig die markante Kontur der sich abzeichnendem Klosterkirche von Ossiach mit dem dahinter liegenden Bergrücken der Ossiacher Tauern“.
Diese Aussicht auf den See von einer etwas höher liegenden Terrasse mag auch der Grund gewesen sein, dass die erste Trassenführung der Eisenbahn am stärker ansteigenden Nordufer des Ossiachersees liegt. Auch die ersten Autobahnen wurden mit Bedacht auf die Aussicht geplant, oft unter schwierigeren Bedingungen. Ein Beispiel ist die in der NS-Zeit für Graz geplante Autobahn, die auf halber Höhe des Plabutsch und des Buchbergs einen Blick auf die Stadt bieten sollte.  Insbesonders in Kärnten wurde diesem Wunsch vor allem bei Aufblühen des Fremdenverkehrs nach dem Krieg durch eine Trasse am Nordhang des Wörthersees Rechnung getragen. Dasselbe gilt für den Ossiachersee, die alten Bahnhöfe von Annenheim, Sattendorf und Bodensdorf und die Bahnwärterhäuschen legen davon Zeugnis ab.
Andreas und Maria brachen auf. Auf Rechtskurs. Er beflügelt, sie etwas widerwillig. Vorbei führt der Radweg an einer Reihe von Bootshütten, Strandhäusern und einzelnen Villen, die Privatpersonen oder Vereinen als Sommerquartiere dienen. Schon vor hundert Jahren hatten sie dort Fuß gefasst.
Verständnisvoll kam Maria Andreas entgegen. „Ich sehe, dass du einer Rechtsumrundung mit Labestationen das Meiste abgewinnen kannst, wenn du der größeren Anstrengung auf dem weiteren Verlauf der Strecke nicht Beachtung schenken willst. Der Radweg, der anfangs mit dem eben verlaufenden Seeuferweg übereinstimmt, ist jedoch in seiner ganzen Länge nicht so vorteilhaft, wie es nach einem ersten Augenschein aussieht. Auf verschiedenen Landkarten wird es so dargestellt, aber es entspricht nicht der Wirklichkeit. Durch die Einschränkungen der Bahngleise und privater Grundstücke, die die Spur verengen, springt der nördliche Radweg streckenweise von der Uferlinie zu einer höher gelegenen Trasse und verlangt einige Anstrengung“.
„Ich werde es, meiner Neigung als Rechtshänder folgend, dennoch versuchen. Davon lasse ich mich nicht abbringen“, konterte Andreas.
Maria schüttelte missbiligend den Kopf. „Du gehörst sicher zu jener Gruppe von Englandbesuchern, denen die Linksfahrregel im Verkehr Probleme macht, wenn du selbst ein Auto lenkst. Die bei uns übliche Rechtsfahrregel, die eine anfängliche Linksfahrregel am Kontinent ablöste, hält dich wahrscheinlich davon ab, einen PKW in Großbritannien zu besteigen. Welche Regel gilt nun für Fußgänger, am Gehsteig oder beim Treppensteigen? Wahrscheinlich hältst du meine Frage für unpassend. Frage dich, ob du in England auf enger Treppe nie einen Zusammenstoß mit einem gentleman oder einer lady hattest, die dir in die Quere gekommen sind. An deinem Kopfnicken merke ich, dass ich eine wunde Stelle bei dir gefunden habe!“
„Das kann ich nicht leugen, es trug mit gelegentlich böse Blicke ein“.
„Weißt du, dass die Engländer zur Zeit ihrer Besetzung Kärntens nach dem 2. Weltkrieg die Linksfahrregel auch hier eingeführt haben? Da biss sich das Empire aber an den rechtslastigen Kärntnern die Zähne aus. Vielleicht solltest du außer den klimatischen Vorteilen der Begegnung mit der wärmenden Vormittagssonne als Querdenker auch anderen Gesichtpunkten Aufmerksamkeit schenken, die eine Linksumrundung nahelegen. Für mich ist das der Energieaufwand, der bei dieser umgekehrten Bewegung geringer ist, weit wichtiger. Ich bevorzuge die Linksumrundung. Damit hat man den größten Streckenweg die Sonne im Rücken".
Der Uferweg, der als Radweg dient, wechselt bei Annäherung an den größten Ort am Seeufer, Bodensdorf, auf die nördliche Seite der Bahntrasse und begleitet die neue Seestraße. Der Grund liegt darin, dass eine Landzunge in den See hineinragt und einen größeren Raum freigibt, der für Touristisches verschiedener Art genutzt wird: Hotels, Badestrände, Sportstätten und teilweise Apartmenthäuser. Den Verlust des Seeblicks kann man nur kompensieren, wenn man dem Ufer zuradelt und die Schiffsanlagestellen aufsucht, die mehrmals täglich von den Ausflugsschiffen Ossiach und Villach angelaufen werden.
Der Landzunge entspricht auf der anderen Seite des Sees der vorspringende Fels von Ossiach, auf dem die Kirche thront. An dieser Stelle erreicht der See die geringste Breite, womit ein Übersetzen naheliegend ist, will man den See nicht ganz umrunden. In diesem Fall hebt sich der Konflikt der Seestöckler auf, da die Seeumrundung in einer Achterschleife, einem Möbiusband vergleichbar, vollendet werden kann. Die Sonnseitn wird zur Schattseitn, wie umgekehrt die Schattseitn zur Sonnseitn.
Wie schon erwähnt, Varga von Kibéds Buch Ganz im Gegenteil widmet sich dem Querdenken als Quelle der Veränderung und zeigt auf, wie eine andere Sicht einer Problemlösung, die im linearen Denken unmöglich ist, zustande kommt. Ist im Umkehrphänomen das Geheimnis des Seestöckls eingeschlossen?
Vom Ort Bodensdorf aus kann man auf einer gut ausgebauten Straße ein Stück auf die Gerlitzen hinauffahren, wo man auf halber Strecke einen imposanten Hochsitz erblickt, der hoch aufgestelzt auf den See blickt. Nicht der Stammsitz eines Jägers, sondern das Kolig-Haus. Der Architekt Manfred Kovatsch hat sich in Einfühlung in den bedeutenden Künstler die japanische Sicht zunutze gemacht, im Gegensatz zum Westen nicht das Haus selbst primär zum Gegenstand eines Entwurfs zu machen, sondern in der bewegten Landschaft einen Akzent zu setzen. Einen, der durch Einbeziehung des Naturraumes die Nachhaltigkeit von Architektur hervorhebt.
Zurück zur Seeumrundung. Eine landschaftliche Überhöhung durch physische Anstrengung zur Erreichung des Gipfels der Gerlitzen mit dem E-Bike – nach Passieren des Resorts Feuerberg – um den See als Ganzes zu erleben, wollten Andreas und Maria jüngeren Generationen überlassen. 
Andreas ließ sich, um sich blickend, vom Anblick zweier Kirchtürme, die aus der Gegend herauswachsen, inspirieren.
„Sieh her, wie die Kirchtürme der katholischen und evangelischen Kirche von Bodensdorf mit rundem und spitzem Turm, im Wechselgespräch das Neben- und Miteinander der beiden Konfessionen darstellen. Sie sind das Kennzeichen der Gegend, in der die Protestanten gleich wie die Katholiken mit den Kirchtürmen ein Zeichen setzen und damit gleiche Rechte zum Ausdruck bringen. Ebenso erkundete ich in meiner Familienforschung, wie die Satzung der Immerwährenden Kapitulation nach dem 30- jährigen Krieg unbeschadet der Maxime Cuius regio, eius religio als Unikat das Zusammenleben der Konfessionen in der Friedensstadt Osnabrück sicherstellte. Dafür Sorge trug ein Vorfahre meiner Familie, Heinrich Schröder von Sternfeld, der als Amtmann des bischöflichen Landesherrn den Frieden überwachte. Jenen, der durch konfessionellen Wechsel des Landesherrn Toleranz in einer kriegerischen Zeit zum Ausdruck brachte. Zeichnet die Menschen beider Orte, wenn auch in der Größe nicht vergleichbar, dieselbe Toleranz aus?“
Maria bejahte, um hinzuzufügen: „Wie wir Seestöckler von GIACOMO, dem zugewanderten Ladiner, auch gelehrt wurden. Wir sind eine große Familie, Österreicher, Schweizer, Italiener. Unterschiedliche Konfessionen“.
Es war müßig, darüber weiter zu diskutieren, ob der eingeschlagene Weg der beste ist. Andreas und Maria näherten sich Steindorf, dem Ort, wo mächtige Gesteinsbrocken von der Gerlitzen herunter gekollert sind und sich zu Günther Domenigs Steinhaus aufhäufen. Vor Jahren als Schandfleck geschmäht, heute eine Fremdenverkehrsattraktion. Mit einer Außenstelle des Villacher Touristikbüros, das Gäste begrüßt. Ein andermal wollte man diesem einen ausführlichen Besuch abstatten.
Weiter ging es über den Dammweg, der erst vor wenigen Jahren angelegt wurde, um das östlich gelegene Überflutungsgebiet des Feldkirchner Moos, seit jeher ein sumpfiges Gelände, nicht umfahren zu müssen. Der Name verweist darauf, dass der See einst bis Feldkirchen reichte und allmählich austrocknete. Eine kürzlich errichtete Aussichtsplattform bietet einen reizvollen Blick auf die Landschaft, aus der ein im Wasser halb versunkenes Haus herausragt, das sich in diesem spiegelt. Es hat sich zu einem beliebten Foto- und Malmotiv für den künstlerischen Blick entwickelt, der immer das Unwahrscheinliche sucht, die banale Realität umkehrt. Wie der spannungsreiche Konflikt um das Linksherum und Rechtsherum ist auch die Umkehrung von Oben und Unten, das Auf den Kopf stellen, ein psychisches Bedürfnis, um die Welt umzudeuten. Dabei können wir von den Kindern lernen, meinte Maria.
Nach Querung des Seezuflusses, der Tiebel, verlässt man den Dammweg, der im letzten Stück zum steil ansteigenden Dammsteig wird, und kann mit dem Fahrrad in den gut ausgebauten Radweg an der südlichen Seeuferstraße einschwenken. Nimmt man sich etwas Zeit, kann man bei hochstehender Sonne in der Mittagszeit bei den Forellen einkehren. Die Seestöckler gebrauchen immer diesen Ausdruck, der die kleine Datcha bezeichnet. Er trifft viel beser zu, denn man wird von den Forellen im Fischteich schon erwartet, die gelegentlich herausspringen, um auf die bereitgestellten, am Zaun lehnenden Angeln aufmerksam zu machen. Und wieder scheiden sich die Geister. Fühlt man sich den Ureinwohnern verpflichtet, nimmt man sich die Zeit und greift zur Angel. Ist man der Zivilisation verfallen, ordert man bei der Wirtin den Fisch, Forelle blau oder gebraten. Wieder bleibt es offen, ob die Forelle auf die rüde Art durch Schlag ums Leben kam oder im Zug der neuen Welle die smarte Methode des Streichelns – nach dem Vordenker Bruno Kreisky – über sich ergehen lassen musste.
Mit einiger Anstrengung auf dem eine längere Strecke ansteigenden Radweg, wovor Maria vor Antritt der Tour auf diesem Weg gewarnt hatte, erreicht man den historischen Hauptort Ossiach, der zu einem Aufenthalt einlädt. Der mächtige Block des Stiftes und die von einem vorgezogenen Felsen aufragende Wallfahrtskirche füllen mit ihren Geschichten und Legenden Bücher, die hier nicht zu erzählen sind. Eine Ausnahme ist beim Schweigsamen Pilger zu machen, der sich erst am Totenbett als polnischer König zu erkennen gab, der einen Mord bereuend in die klösterliche Enklave flüchtete und dessen Grab besucht werden kann.
Eindrucksvoll wirkt gegenüber der gewaltige Zug der Gerlitzen, der rechtfertigt, eine Seeumrundung als Novize der Glaubensgemeinschaft der Seestöckler zu machen. Irgenwie fühlen sie sich als solche. Und suchen rituelle Orte auf, was die Menschen schon seit jeher taten. Schließlich erweist sich der offensichtlich seit Urzeiten als sakraler Platz dienende Ort als Höhepunkt des Weges, der durch seine Ausstrahlung und Kraft wirkt. Er ist auf ein Ankommen angelegt, womit das Potenzial der menschlichen Fähigkeit des Glaubens und Erkennens, gesteuert durch die linke Hirnhälfte, zum Ausdruck kommt.
Diese restliche Strecke von Ossiach westwärts auf der Schattseitn bis zum Seeausfluss in den Villacher Seebach und die Rückkehr zum Aufbruchsort auf der Sonnseitn, die bei längerem Aufenthalt in Ossiach am Nachmittag auch zur Schattseitn werden kann, wird als Ehrenrunde empfunden. Das nach einem sanften Anstieg überwiegend abfallende Gelände, vorbei an kleinen Orten wie Ostriach und Heiligengestade mit einem Schwenk auf die Straße bei Treffen und dem Passieren der Landeplätze der Paragleiter, des großen Campingplatzes und Freibades an der Uferstraße mit Weiterführung bis zum Ausgangspunkt, kann man nicht mehr einer anstrengenden Radtour zuordnen, sondern entspricht eher dem lockeren Austraben eines Rennpferdes bei Rückkehr in den Stall. Das dann einen Bund Hafer verdient hat. In Seemannssprache, einen Manöverschluck.
Welche Energien aber bringt die rechte Hirnhälfte hervor? Diese sollten, um auch Marias Wunsch zu befriedigen, bei einer dem Ausgleich vorbehaltenen Linksumrundung an einem der nächsten Tage auszuschöpfen sein. Sie sollte recht behalten, dass eine zeitliche Einteilung zur Problemlösung der Seestöckler beitragen kann.
So war es. Sie brachen von Tatendrang des späteren Vormittags erfüllt, vom Seestöckl Richtung Westen, also auf der Sonnseitn, auf. Zunächst den schmalen Uferweg entlang, wo schon nach wenigen Metern ein kleines Haus, das Blaue Haus, zum Halten lockt. Marias Großtante liebte es und sprach immer davon, denn für sie war es der Inbegriff der Sommerromantik. Anders als das Seestöckl, das für sie der Horror einer entbehrungsreichen Expedition ist. Das sanfte Blau, auch wenn es nur Anstrich auf Holzplanken ist, sprach ihr Gemüt an. Es holte für sie den Himmel auf die Erde. Das Gros der eingesessenen Seestöckler quittierten diese Vorliebe mit Unverständnis, aber sehnte sich vielleicht danach, im Haus anstelle einer zum Untertauchen ins kalte Nass geeigneten Bootshütte ein Badezimmer mit Warmwasserhahn zu finden.
Andreas verband mit einem Blauen Haus andere Erinnerungen, die er mit Maria teilte. Der Umstand, dass Blau eher ungewöhnlich für ein Haus ist, machte es zu einem Mal auf der Spurensuche nach seiner verschollenen Familie in dem kleinen Ort Melle bei Osnabrück zu einem vorrangigen Ziel. Eine Jenny Möser soll dort gelebt haben, die eine enge Freundin Goethes war. Als Tochter des bekannten Schriftstellers und hochgeachteten Politikers Justus Möser, der eine Zeit lang als Vormund des Landesherrn die Herrschaft Osnabrück leitete, hatte sie Kontakt zum jungen Goethe bekommen und mit ihm Briefe im Geiste der frühen Aufklärung ausgetauscht. Das Blaue Haus von Melle wurde zu einem Treffpunkt von freigeistigen Intellektuellen, die sich dem liberalen Geist verschrieben hatten. Auf diese Weise erzählte ein Haus eine Geschichte, die Andreas bei seiner familiären Erkundungsreise in Norddeutschland erforschte und die ihn bestärkte, ebenso die Geschichte des Seestöckls, wenn auch nicht so lange zurückliegend, zu erkunden.
Maria trat kräftig in die Pedale und setzte ihre bevorzugte Seeumrundung, von Andreas aufmerksam gefolgt, gegen den Uhrzeigersinn fort. Auch gegen seine Linksschwäche wie beim Ruderschlag, der ihn immer Rechtskurven steuern lässt.
Sie schlängelten sich weiter am Fuß der Kanzel entlang, dem reich bewaldeten Vorberg der Gerlitzen, den Touristenpfaden der alten Seebäder Sattendorf und Annenheim folgend.
Die Kette der Uferhäuser an der Seeuferstraße, vom Hauptverkehr befreit, scheinen aus einem Würfelspiel hervorgegangen zu sein: gründerzeitliche Villen, schlichte Urlaubsheime, Bootshütten, neuzeitliche Würfelhäuser, heruntergekommene Strandschuppen und dazwischen zwei Strandbäder, jenes von Sattendorf und Annenheim.
Die Uferstraße mit nahezu ebenem Verlauf, die Marias Voraussage bestätigte, lud immer wieder zu einem kurzen Halt ein. War es einmal ein Blick auf ein schönes blumengeschmücktes Haus, dann auf einen einladenden Angelplatz oder ein Fernziel auf der gegenüberliegenden Seeseite. Oder die Gondelbahn auf die Kanzel, die zu ihren Füßen ähnliche alte Fischerhäuser versammelt. Dann auf hochaufragendem Felsen die gegnüber liegende Burg Landskron, von der aus Falken der Greifvögelstation die Westbucht umkreisen. Gelegentlich ein kleines Entlein aus dem Wasser holend. Großräumig muss diese Bucht mit ihrem breiten Schilfgürtel umfahren werden, wobei der Ausfluss des Sees in den Villacher Seebach zu überqueren ist.
Dort, wo einst eine Bootswerft lag und sich heute der Komplex des Robinson-Klubs befindet, zögerte Maria nicht an einer bestimmten Stelle anzuhalten. Sie wies mit ihrem Arm auf das Ensemble, das auch in seiner Nachbarschaft einen Bootshafen für internatiionale Ruderregatten hat, jedes Jahr im Herbst von vielen Zuschauern besucht werden. Auch Kärntner Ruderklubs sind dort heimisch.
„Hier stand einst das Hotel Annenheim, nach der Frau des erfolgreichen Geschäftsmanns und unternehmungslustigen Erbauers benannt. Sie war eine auf soziale Hilfe für die Bevölkerung eingestellte Frau und förderte die noch wenig entwickelten Orte um den Ossiachersee, indem sie Einrichtungen für Kinder und Bedürftige schuf. Auch der Ortsname Annenheim geht auf sie zurück. Hier wurde auch eine Schiffsanlegestation errichtet, um zum gegenüberliegenden Ort überzusetzen. Durchaus zum Vorteil des Hotels, da die mit der Bahn anreisenden Gäste rasch das Haus erreichen konnten.
Noch etwas muss ich dir berichten:
Wir wollten einmal, um den Scampolo nach beauftragten Dichtungsarbeiten an den Fugen in der kleinen Werft wieder dem Heimathafen des Seestöckls zuführen, was ich mich traute zu machen. Es war Morgen und Frühherbst, es fiel leichter Nebel ein. Ich übernahm das Boot, nach einiger Zeit verlor ich jedoch die Orientierung. Kräftig rudernd versuchte ich in geradliniger Strecke ans andere Ufer überzusetzen, doch der Nebel wurde immer dichter. Als ich das gegenüberliegende Ufer zu erreichen glaubte, traute ich meinen Augen nicht. Ich war nahe dem Ausgangssort gelandet. Neuerlicher Versuch. Er scheiterte wieder, denn er endete am Seeausfluss. Was als Corrioliskraft das Wasser an der Nordhalbkugel zur Linksdrehung veranlasst, hat sich offensichtlich in meinen Blutbahnen vollzogen. Die Muskeln der Arme folgten dem Linksdrall und bewirkten, dass ich trotz mehrmaligem Versuch nicht das angestrebte Ziel, das sich allein dem Auge erschließt, erreichte.
Verunsichert, aber nicht verzweifelt, griff ich als gelernte Seestöcklerin auf die Fischererfahrung zurück, sich der Linken Handregel zu bedienen. Sie besagt, dass man im Falle einer Verirrung wie in einem Labyrinth sich fortschreitend mit einer Hand immer am Rand entlangtasten muss, um den Ausgangsort zu erreichen. Gesagt, getan. Die Westbucht wurde von mir entlang des Schilfgürtels mit allen Ein- und Ausbuchtungen ausgerudert, um nach Erreichen des Nordufers nach etwa zwei Stunden ans Ziel zu gelangen. Ich konnte aufatmen. Der Scampolo hatte wieder in seinen Liegeplatz gefunden."
„Genug der Geschichte“, meinte Maria und trat nach der Erzählpause wieder kräftig in die Pedale.
So wurde die Seeumrundung fortgesetzt. Der Weg führt durch Wiesen und an einzeln stehenden Häusern an der Westbucht vorbei die Sonnseitn verlassend zu den Orten Heiligengestade und Ostriach, lockeren Siedlungsgebieten mit Einfamilienhäusern aus den letzten Jahrzehnten. Nach dem Folgen des die Straße begleitenden Radwegs, nachmittags von der Schattseitn zur Sonnseitn mutiert,  ist eine längere abfallende Strecke im Mittelteil umso angenehmer, bevor man den gastfreundlichen Ort Ossiach wieder erreicht.
„Den Ort habe ich früher, als ich noch mit Familienmitgliedern gut zu Fuß unterwegs war, auch über den Kammweg von der Burg Landskron ostwärts erreicht. Dann war es eine Tagestour, bei der wir oft eine Jause mitgenommen haben. Dabei war es nicht ungewöhnlich, Wild zu begegnen, da das Gebiet sehr wildreich ist. Doch ersparte man sich eine Einkehr, was in der Zeit nach dem Krieg zu teuer war."
Diesmal war eine Einkehr im Garten beim Seewirt angesagt. Ein kräftiges Wienerschnitzel sollte die Energie für den weiteren Umrundungsweg, von der Sonnseitn zur Schattseitn, vom Süd- zum Nordufer, geben. Daneben konnte eine Oldtimerparade am Vorplatz ins Blickfeld genommen werden. Und im prachtvollen Kirchenraum der Stiftskirche  konnte man die Ruhe einatmen. Hier wird sicher im folgenden Herbst ein Platz für Maria und Andreas beim nächsten Carinthischen Sommer zu finden sein. 
„Enden wir hier unsere Umrundungstour, da wir die andere Seite ja schon unlängst bewältigt haben?“, meinte Andreas, Marias Zustimmung sicher. Sie hatte gefühlsmäßig beide Seitn zum Kreis gerundet, durch die Vorteile des späteren Aufbruchs am Morgen bestätigt. Andreas konnte sich nicht verkneifen, den ehemaligen Lehrer durchblicken zu lassen, der seinen Schülern gerne Lebensweisheiten auf den Weg mitgab:
„Die Lehre aus unseren Unternehmungen: Du solltest bereit sein, auch das Umgekehrte zu denken, wenn du vor einer zu lösenden Aufgabe stehst. Nicht immer ist die erste Lösung, aus Gewohnheit verfasst, die beste. Behalten wir die Auseinandersetzungen der Seestöckler in Erinnerung, die sich über dieses sprachliche Umkehrphänomen in den Haaren lagen: Linksherum-rechtsherum. Eine empfindungsmäßige Hochschaubahn. Wer hatte nicht schon Schwierigkeiten beim Kravattenbinden am Hals oder Mascherlbinden am Rücken? Die Bauhäusler, Meister und Schüler des berühmten Dessauer Bauhauses als Anhänger der schnörkellosen Moderne, gingen dem aus dem Weg. Sie erfanden den knotenlosen Knoten, bei dem nicht das Vorbild des Fischerknotens galt, sondern einfach ein Gürtel mit Umschlag um den Hals geschlungen wurde“.
„Aber wo bleibt dann die Herausforderung des schönen Mascherls?“, wollte Maria wissen.
„Na ja, jeder Tag bringt uns neue Überraschungen, von der rückwärts laufenden Uhr über dem Eingang – im Spiegel des unlängst aufgesuchten Frisörladens an der Zimmerrückwand erkennbar – bis zum Nussknacker im Seestöckl, der wie eine Puderdose aussieht. Auch dieser kann eine Geschichte erzählen, denn er hatte schon viele harte Nüsse zu knacken“.

Netzwerktreffen
16. + 17.11.2023
 
GAT+