07/01/2020

MASSIV weiterdenken! – Materialgespräche

Petra Kickenweitz zum gleichnamigen Symposium am 5. und 6. Dezember 2019 im Forum Stadtpark, Graz

07/01/2020

Symposium "MASSIV weiterdenken" am 5. und 6. Dezember 2019 im Forum Stadtpark, Graz

©: FORUM STADTPARK
©: FORUM STADTPARK

"Parabeton – Pier Luigi Nervi und römischer Beton", Dokumentarfilm, 100 Min., von Heinz Emigholz

©: Pym Films

Gesprächsrunde

©: FORUM STADTPARK

Entwürfe von Studierenden des Instituts für Raumgestaltung der TU Graz

©: FORUM STADTPARK

Materialproben

©: FORUM STADTPARK
©: FORUM STADTPARK

Im Rahmen des Symposiums MASSIV weiterdenken! am 5. und 6. Dezember 2019 im Forum Stadtpark wurde –  ausgehend von der Idee der monolithischen Bauweise – als möglicher Lösungsweg für eine nachhaltige neue und ressourcenschonende Materialproduktion und Materialeinsatz eine breit angelegte Diskussion geführt, die weit über den technischen Aspekt bis hin zur gesellschaftspolitischen Fragestellung reichte.

Bereits das vielschichtige Rahmenprogramm des Symposiums, zu dem Claudia Gerhäusser vom Forum Stadtpark und Tim Wakonig-Lüking von der Fachhochschule Joanneum Graz luden, signalisierte den Wunsch nach einem offenen Diskurs im Spannungsfeld von Material, Kultur und Produktion. Der performative musikalisch-literarische Einstieg ins Symposium von La Gorke (Kristina Gorke) mit der Rezitation von fünf Gedichten sollte aufwecken und zum Weiter- und Zukunftsdenken anregen. Mit der Maschinenmusik – einem spielerischen Versuch, mittels Seifenblasen Projektionswände und damit Raum modellhaft zu bilden – riefen Arne Glöckner, Michael Harant, Alan Krempler, Dieter Okorn-Kuo und Sebastian Schröck zu mehr Mut zum Materialexperiment auf. Das Projekt Nachgebohrt – eine Materialforschung über Bohrproben vom mittlerweile 2018 abgerissenen Haus Albrecher-Leskoschek von Herbert Eichholzer in der Hilmteichstraße 24 – von Tobias Kestel und Claudia Gerhäusser, zeigt, dass Material auch einen kulturhistorischen Aspekt und eine künstlerisch-ästhetische Umdeutung erhalten kann. Die begleitende Ausstellung von Entwürfen von Studierenden des Instituts für Raumgestaltung der Technischen Universität Graz zu einer monolithischen Waldkapelle und die Materialmuster zum An- und Begreifen, vom Papier über Brettsperrholz bis zum noch verformbaren Tonziegelrohling, ließen schlussendlich die Vielfalt der Möglichkeiten, die uns Architekten zur Verfügung stehen, erahnen.

Den abendlichen Auftakt zum Symposium bildete der Film Parabeton – Pier Luigi Nervi und römischer Beton (2012) des Regisseurs Heinz Emigholz, in dem siebzehn Bauwerke des italienischen Bauingenieurs der antiken römischen Bauweise gegenübergestellt werden und bei dem das Material Beton, das mittlerweile als ressourcen- und energieintensiv gilt, in den Fokus gestellt wird.

Dementsprechend bildete tags darauf den Ausgangspunkt der Diskussion die Frage, welche massiven Materialien es neben Beton in der Architektur noch gibt, wie diese nachhaltig eingesetzt werden können und welche Alternativen und neuen Ansätze eigentlich zur heute gängigen Hybrid- bzw. Sandwichbauweise noch zukunftsfähig erscheinen?

Für Arno Richter von der Technischen Universität Berlin, Institut für Bauingenieurwesen, Entwerfen und Konstruieren/Massivbau, ist es gar nicht so leicht, ein Material über alle Schichten und Anforderungen eines Gebäudes zu ziehen. Und auch der Sandwichaufbau wird aufgrund der steigenden Anforderungen mittlerweile beachtlich dick. Daher ist man in der Forschung im Bereich der Materialentwicklung unter Berücksichtigung ökologischer Zielvorgaben auf der Suche nach Material- und Ressourceneffizienz. Z.B. könnte Carbonbewehrung gegen das Korrussionsproblem helfen, Betonmengen einsparen und damit CO2 reduzieren. Allerdings sind das langwierige teure Prozesse, von der Entwicklung über die Zulassung bis zur Marktreife. Viele innovative Ansätze kommen gar nicht so weit – es stellt sich also auch immer die Frage, was will/kann man sich leisten?

Die massive Bauweise steht zudem für die etwas verklärte Sehnsucht nach dem Urtypus des schutzbietenden Hauses und damit für Massivität und Dauerhaftigkeit. Demgegenüber steht das schwere Erbe der Bunkerarchitektur und das Image des Beton-Brutalismus, der als individuelle künstlerische Architekturplastik mit seinen klar modellierten Linien und Kanten für viele Architekten als eine Art „Einstiegsdroge“ wirkt. Was von der Architektin Nicole Lam, Lam Architektur Studio Graz, als durchwegs maskuline, schwere und kraftvolle Architektursprache gewertet wurde, während die Bauweise des Materialmix, das Spiel mit Materialien, der Oberflächenalterung, eine Leichtigkeit im Umgang und Bauteilschlankheit verspricht, die mehr ihrer femininen Grundhaltung entspricht. Welche Konstruktionsweise man einsetzt, ist auch der persönlichen Entwicklung und dem permanenten Lernprozesses geschuldet, meinte Lam, die natürlich auch zeitlichen Moden und gesellschaftspolitischen Zwängen unterliegt. So hat sich z.B. das „grüne Bauen“ für sie lange Zeit auf das Niedrigenergie- bzw. Passivhaus beschränkt, womit sie sich früher nicht auseinander gesetzt hat. Während das lt. Lam noch immer zu elitäre Thema des „nachhaltigen Bauens“ – aktuell in der gelebten (auch Grazer) Baurealität noch nicht angekommen – bereits bei Materialproduktion, Verpackung und Transport ansetzt und den Einsatz des Materials bis hin zur Wiederverwertung bei Demontage berücksichtigt. „Es liegt in unserer Verantwortung, auch die Produktionsprozesse und die Zusammensetzung von Materialien zu kennen“, so Lam, „um sich der Thematik der Industriesteuerung stellen zu können.“ Dabei geht es besonders um die Positionierung der eigenen Architektursprache, der eigenen Rolle im Bauprozess, inwieweit man den Bauherrn überzeugen kann und wo man sich gegenüber dem Diktat der Baugesetzgebung, der Normen und der Baustofflobby auch mutig und mit Risikobereitschaft angesichts der Gewährleistung und Haftung behaupten kann.

Mitunter ein Grund, warum sich Andrea Kessler von „materialnomaden“ Wien vom klassischen Architekturdasein abgewendet hat und sich seit fünf Jahren in einem interdisziplinären Kollektiv von Architekten, Bauingenieuren, Bauforschern, Designern und Restauratoren dem re:use, dem upcycling bzw. der Transformation von Materialien aus Abbruchhäusern, widmet. Die Wiederverwertung, das Abbauen Schicht für Schicht, um Materialien recyceln oder neuen Nutzungen zuführen zu können, ist ein komplexes Thema, das zukünftig bereits in der Planung zu berücksichtigen sein wird. Vor allem Gebäude ab den 80er-Jahren werden durch ihre schadstoffreichen Schichtaufbauten, die größtenteils auch miteinander verklebt sind, zunehmend zur Herausforderung. Hingegen sind monolithische Bauteile leichter trennbar. Problematisch ist generell, dass der Abriss derzeit noch günstiger ist als die Instandhaltung, Produkte schlechter produziert werden, um den Abnahmemarkt zu erhalten, und dass hinter der Abfallwirtschaft ein gut funktionierendes Deponiesystem steht. „Es braucht ein Umdenken in Richtung nachhaltige Kreislaufwirtschaft, von einer blue zu einer green economy mit einer raschen Umsetzung der Zielvorgaben der Substainable Development Goals der Vereinten Nation“, meint Andrea Kessler. Grundsätzlich gilt es demnach, Leerstände wieder zu aktivieren, die reichlich vorhandenen Ressourcen wertzuschätzen, vor Ort zu verarbeiten und daraus neue lokale Materialien und Produktionsmethoden zu entwickeln. Derzeit fehlen dazu Anreizmodelle für Eigentümer, u.a. entsprechende Förderungen. Bestehende Zertifizierungen wie jene der Österreichischen Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen (ÖGNB) basieren auf freiwilliger Teilnahme, für die man bezahlt. Daher ist es derzeit laut Kessler besonders wichtig, dass Europa eine Vorreiterrolle einnimmt und wir als Pioniere Tätigkeiten finden und Pilotprojekte entwickeln, denn „wir können nicht auf die Politik warten!“

Fürs Querdenken, Vernetztdenken, experimentelles Forschen und eine Fortschrittsdiskussion plädierte Tobias Kestel von White Elephant DesignLab Graz und fordert Ehrlichkeit bei Konstruktion und Produkt-Industrie-Design mit Rückbesinnung und Wertschätzung der handwerklich qualitativeren Produktion ein. Dazu zählt auch die Abbildung des wahren Energieverbrauchs in allen Bereichen sowie die Kostenwahrheit, die auch die Schäden an der Natur und die Ausbeutung an Rohstoffen dokumentiert, wozu es unabhängige Gremien und neue Zertifikationen und Kennzeichnungen benötigt. Das ist eine Systemfrage, die ein gesellschaftliches Umdenken braucht und von einem kooperativen Miteinander geprägt sein sollte. Beginnen muss man mit der Vermittlungstätigkeit unter der Prämisse „learning by doing“ an Schulen, aber auch in der akademischen Lehre.

Till Böttger von der Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst (HAWK) Hildesheim, Institut Bauen und Erhalten, befindet vor allem die Vermittlung und Aufklärung der Bauherrnschaft für notwendig, die größtenteils keine einschlägige Ausbildung haben, um zeitnah die geforderte Energiewende noch zu schaffen. Die größte Herausforderung ist die Auseinandersetzung mit, wieviel Raum wir wirklich benötigen, die Berechtigung von Neubauten und der Umgang mit dem Bestand. Grundsätzlich werden unterschiedliche Herangehensweisen in Koexistenz zueinander erforderlich sein, um das Ziel zu erreichen. Unsere Schnelllebigkeit und der dahinter stehende verkürzte Lebenszyklus der Bauwerke erfordert auf jeden Fall Gebäude mit flexiblerer Nutzbarkeit. Und es braucht eine höhere Akzeptanz, um generell den Bauanteil im Bestand zu erhöhen. Dazu ist auch für die Nutzern die Chance auf Anpassbarkeit, individuelle Gestaltung und die frühzeitige partizipative Einbindung in den Bauprozess notwendig.

Schlussendlich gilt für uns alle: Raus aus der Schockstarre, vom Fridays for Future-Streik hin zum Handeln, dem Beispiel der Materialnomaden folgen, die bei ihren Fridays-Challenges in gemeinsamen Gesprächen konkrete Lösungsansätze suchen. Es gilt daher, massiv weiterzudenken!

Karin Tschavgova

Eine kleine Ergänzung, die ich zum Thema persönlich besonders interessant fand: Winkler + Ruck Architekten aus Kärnten haben mit ihren preisgekrönten (Ferien-)Häusern im Wald auf der Turracherhöhe äußerst konsequent und rigide versucht, den Hybridbau in dem, was auch seine Schwäche werden kann, zu umgehen. Sie haben das Material Holz in seiner massiven Form verwendet und höchst ambitioniert, kenntnisreich und phantasievoll versucht, all die üblichen Probleme der Bauphysik mit dem Block- bzw. Strickbau in den Griff zu kriegen. Das meiner Meinung nach sehr schöne Ergebnis kann weder Prototyp noch Allheilmittel sein für die Herausforderungen, vor die uns das Bauen in diesen Zeiten und in Zukunft stellt und stellen sollte. Aber wie (extrem) Roland Winkler darüber nachdenkt, kann uns ein Denkanstoss dazu sein und eine Möglichkeitsform.
Nachdem dieses Objekt mehrfach im Netz zu finden ist, erlaube ich mir, einen Link hinzuzufügen, der Interviews zum Thema Materialoptimierung wiedergibt, die in der Zeitschrift Zuschnitt, von mir geführt, erschienen sind: http://www.proholz.at/zuschnitt/75/ein-oder-mehrschichtig-hybrid-oder-mo...
Wäre schön, wenn nächstes Mal zum Thema eine Einladung an Winkler+Ruck ergehen würde.

Di. 07/01/2020 12:47 Permalink
Claudia Gerhäusser

Antwort auf von Karin Tschavgova

Danke Karin für den interessanten Input und den Vorschlag für die erweiterte Gästeliste. Es wird tatsächlich eine 2. Runde der Materialgespräche geben und damit wieder die Chance themenbezogen Gesprächsteilnehmer*innen einzuladen.

Di. 07/01/2020 2:22 Permalink

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