16/05/2017

Privatissimum vom Grilj
Jeden 3. Dienstag im Monat

Zur Person
Mathias Grilj (* Kamnik, SLO) lebt als freier Journalist und Schriftsteller in Graz.

16/05/2017
©: Mathias Grilj

Tradition ist nicht das Bewahren von Asche,
sondern das Weitertragen der Flamme.
(Thomas Morus)

Kunst ist schön, macht aber viel Mühe.
(Karl Valentin)

Kinder sind gut gegen Geister.
(Joachim Meyerhoff)

Spute dich, ehe das Postamt schließt!
(Joachim Ringelnatz)

Die Geschichte langer Blicke
auf die Landschaft da unten

In einem hohen Zimmer in der Kopernikusgasse, ich halte ein Kind von zehn Monaten im Schoß, haben wir beide ein hochformatiges Bild im Blick. Es lehnt drüben auf dem Regal, Öl auf Leinen, 50 mal 75, und ist mein Geschenk für das kleine Mädchen. Und dem erzähle ich die Geschichten dazu.
Das hat – sieht nach plein air aus, oder? – ein hinzugeheirateter Onkel gemalt. Er hieß Niedereder und war bei jener Gesellschaft beschäftigt, die vor dem ersten Weltkrieg die Karwendelbahn von Innsbruck nach Garmisch-Partenkirchen in den Fels geschlagen hat. Die Tante hat von ihm immer als vom Direktor gesprochen. Jana und ich blicken also auf einen Blick von Hochzirl auf Zirl hinunter. Durch eine schroffe Schneise zwischen schwarzgrünem Wald auf das offene Grün und Ocker des Inntals in seiner nachmittäglichen und behaglichen Sonne, die alles mit Versöhnlichkeit beschert, träge und satt und gelassen, auf den Fluss und dazwischen das Dorf.
Schau, da ist der Kirchturm. Daneben der Friedhof, dort liegt jetzt die Tante Maria. In der Kirchstraße habe ich einmal gewohnt. Und da oben, auf diesem Hang, schau dir die Matten an, dort riecht es so gut, wenn sie mähen, dort habe ich bei einem Schirennen bei 36 tiroler Teilnehmern sogar den 35. Platz errungen. Damals war ich zehn und habe die Namen der Berge da hinten aufsagen können. Jedenfalls sind es die Stubaier Alpen.
Irgendwann, erzähle ich dem Säugling, in den 90-ern, da war deine Mama schon auf der Welt, ist dieses Erbstück in meinen Besitz geraten. Natürlich ist es kein Hodler, aber tadellos gemalt, oder? Jetzt gehört es dir. Weißt du, warum ich es dir schenke? Weil du, historisch betrachtet, der Focus bist.
Das hat nämlich auch mit deinen anderen Großeltern zu tun. In Hochzirl oben ist ein Spital, dort hat eine junge Krankenschwester gearbeitet. In ihre Schönheit hat sich ein Südtiroler verschaut und ist immer wieder den steilen Berg heraufgekraxelt, um sie zu sehen und zu umarmen. Und wenn er es einmal geschafft hat, den Blick von ihr abzuwenden und nach Süden zu schauen, dann hat er ungefähr gesehen, was wir beide jetzt sehen. Jedenfalls hat er nicht nur den Zirlerberg erobert, sondern auch die Angebetete. Sie haben geheiratet und Kinder bekommen. Eines von ihnen, der Clemens, hat auf der TU Graz studiert und sich in meine Tochter verliebt, in deine Mama. Folglich bist du jetzt auf der Welt, meine Schöne.
Die Zuhörerin ist inzwischen in meinem Arm eingeschlafen und lächelt. Sie lächelt überhaupt gern, im Wachen wie im Schlaf. Außerdem riecht sie wie ein Wunder. (Wie ein Wunder riecht? Naja, so ähnlich wie ein Säugling. Aber nicht nur, Frauen haben sowas Wundersames auch an sich.)
Da ist nun der Blick eines fernen Onkels, den ich nicht gekannt habe. Seine Skizzenbücher habe ich einmal voller Ehrfurcht durchgeblättert, die sind dann leider bei einem Umzug verlorengegangen.
Da ist – stelle ich mir vor – der Blick aus den Augen eines Liebespaars, das die Schönheit der Landschaft eher als Sättigungsbeilage einer ganz anderen Schönheit empfindet.
Da ist der Blick, den ich von Hochzirl auf Zirl auch schon einmal genossen habe, vom Aufstieg etwas schwindling und kaputt und beglückt. Dann kam der Abstieg, der war viel mühsamer.
Da ist jetzt mein Blick auf dieses Gemälde und auf mein schlafendes Enkelkind, das zugleich das Enkelkind jenes erwähnten Liebespaars ist, und auf unser aller Geschichten, die sich in der arglosen Jana treffen und verknüpfen.
Und ich frage, wie es wohl weitergehen und welche seltsamen Schleifen das alles noch ziehen wird in ihrem Leben.
 
PS: Sobald sie aufwacht, muss ich ihr noch etwas erzählen. Ich wollte vorhin die Namen der sonnenbeschienen Berge jenseits des Inns googeln und ging auf Wikipedia. Bei einem der Einträge fand ich unter den Literaturangaben Benjamin Flöß. Er war Amateurhistoriker, Geigenspieler – und Oberlehrer in Zirl. Er hat mich, als ich nach Österreich kam und kein Wort Deutsch konnte, in der vierten Volksschulklasse unter seine Fittiche genommen. Er war beharrlich und gnadenlos und liebevoll. Er wollte, dass ich die Aufnahmsprüfung ins Gymnasium schaffe, was damals kein Klacks war. Er hat es geschafft. Jahre später, als ich für mein Schreiben einen Staatspreis bekommen hatte, rief ich beim Gemeindeamt in Zirl an und bat um die Adresse von Herrn Oberlehrer Flöß. Ich wollte ihm danken und freute mich auf seine Freude und auf seinen Stolz. Und auf seine knorrige Noblesse. Man sagte, er sei vor ein paar Wochen gestorben. Also muss ich Jana sagen, dass man sich mit dem Dank beeilen muss.

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